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1. Teil:
Der Straftäter Karl May I. Herkunft und Jugend

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Karl May [...] war ja fast der berühmteste Kriminelle in unserer Literaturgeschichte.

Claus Roxin3

Bei kaum einem anderen Schriftsteller sind Leben und Werk derart eng miteinander verbunden wie bei ihm: Das Schreiben verhalf May äußerlich zum sozialen Aufstieg vom Proletariersohn und Sträfling zu einem angesehenen bürgerlichen Erfolgsschriftsteller; innerlich diente es ihm zeitlebens zur Kompensation persönlicher Defiziterfahrungen.

Dieter Sudhoff 4

Der Name Karl May fällt immer, wenn von den erfolgreichsten und bedeutendsten Abenteuerschriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts die Rede ist. Er wird dabei gerne mit Jules Verne (1828-1905), James Fenimore Cooper (1789-1851), Mark Twain (1835-1910) oder Robert Louis Stevenson (1850-1894) verglichen – sicherlich nicht zu Unrecht, wenngleich jeder der Genannten seine werkspezifischen Eigenheiten hatte. Nur den wenigsten Lesern ist dabei bekannt, dass jeder dieser literarischen Kollegen seine Berührungspunkte mit der Justiz hatte. Während die einen (Verne, Stevenson) selber Juristen waren, ohne dies freilich beruflich umzusetzen, befanden sich die anderen (Cooper, Twain) in fortlaufenden juristischen Auseinandersetzungen. Dabei bilden Verne & Co. nur die Spitze einer ansehnlichen Ansammlung von Autoren der Weltliteratur, die aus unterschiedlichen Gründen mit der Justiz in mehr oder weniger regelmäßige Berührung kamen.

Und dennoch nimmt Karl Mays Lebensgeschichte sowohl im Reigen der exemplarisch aufgezählten wie auch innerhalb der Schar an dieser Stelle ungenannter Autoren eine bemerkenswerte Sonderstellung ein.

Wie bei keinem anderen großen Literaten bildeten die Straftaten des Schriftstellers auch die psychologische Initialzündung für das literarische Werk. Auch vergleichbare Autoren und Zeitgenossen wie Jack London (1876-1916) erlitten Gefängnisstrafen.5 Doch für kaum einen anderen Schriftsteller waren diese juristischen Konflikte derart lebens- und werkbestimmend wie für Karl May. Seine Straftaten waren entscheidend und prägend für die literarische Laufbahn, sein Werk ist gleichermaßen Rehabilitierung als auch Verarbeitung seiner kriminellen Vergangenheit.

Vom strafrechtlichen Standpunkt her gesehen kommt auch im Fall Karl Mays – wie bei vielen anderen jugendlichen Straftätern – den sozialen und familären Verhältnissen eine besondere Bedeutung zu. Sie waren alles andere als erquicklich.

„Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers“,6 beschreibt May selber seine soziale und familiäre Herkunft. Sein Vater war Weber, die Mutter Hebamme; die Familie gehörte zur Unterschicht. Nicht von ungefähr waren infolge von Unterernährung und mangelnder Hygiene neun Kinder des Ehepaares Heinrich August (1810-1888) und Christiane Wilhelmine May (1817-1885) im Alter von wenigen Monaten gestorben. Es war kein romantisches Weberidyll, in das der einzige überlebende Sohn Karl am 25. Februar 1842 hineingeboren wurde; es herrschte stattdessen jene bedrückende Armseligkeit, wie sie von Gerhart Hauptmann (1862-1946) in seinem Weber-Drama von 1892 geschildert wird. Die Mutter, „eine Frau, die fortwährend mit Schwangerschaften und der Pflege kleiner Kinder beschäftigt ist, die es äußerst schwer hat, ihre größer werdende Familie ausreichend zu ernähren und die durch Näharbeit hinzuverdienen muß, auch noch die Kraft findet, eine relativ anspruchsvolle Ausbildung mit hervorragendem Ergebnis abzuschließen und den erlernten Beruf jahrzehntelang ohne Fehl und Tadel auszuüben“7, war völlig überfordert.

Der Vater zeigte sich als ein strebsamer, aber auch überreizter, launischer und unzufriedener Mensch, der überdies seine Arbeit hasste. Seine höheren Ziele: Bildung, Erfolg, bessere Stellung, projizierte er in die Zukunft des Sohnes. Dieser sollte das werden, was ihm selber versagt blieb. In der Durchsetzung dieses Zieles war er nicht sonderlich zimperlich. Väterliche Gewalt prägte den Alltag des jungen May und seiner Geschwister.

„Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte ‚birkene Hans‘, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im großen ‚Ofentopfe‘ einzuweichen, um ihn elastischer und eindringlicher zu machen.“ 8

Die Demütigung durch diese Erziehungsmaßnahmen grenzte den sensiblen Sohn noch weiter von den überforderten Eltern ab. Der seelische Nährboden für innere Zurückgezogenheit und Einsamkeit wurde damit früh geschaffen. An dieser psychischen Disposition änderte auch die große Zuneigung zur Großmutter Johanne Christiane Kretzschmar (1780-1865) nichts. Sie weckte in ihrem Enkel das Interesse für Märchen und Bibelgeschichten. Seine Fantasie, seine Erzählkunst, sein religiöses Fühlen, seine Leidens- und Liebestheologie, seinen Erwählungs- und Aufstiegsgedanken führte der Schriftsteller später auf diese Großmutter zurück. Mag das auch übertrieben klingen, so kommt ihr für die Entwicklung der May’schen Fantasie dennoch eine Schlüsselfunktion zu. In ähnlicher Weise inspirierend wirkte vermutlich auch Mays Taufpate, der weit gereiste Schmied Christian Weißpflog (1819-1894), der die Märchen der Großmutter um reale Erlebnisberichte ergänzte.

Mays Kindheit fand ohne das Erleben wirklicher Freundschaften statt; Ersatz bot die Hohensteiner Bibliothek mit abenteuerlicher Literatur wie Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann von Christian August Vulpius, Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas oder Die Geheimnisse von Paris von Eugène Sue.

Im Alter betrachtete der Schriftsteller diese Lektüre als eine der Vorbedingungen für seine Straftaten. Ob der Einfluss dieser Literatur tatsächlich so außerordentlich prägend war, muss jedoch bezweifelt werden. Nachhaltiger erscheint da schon der Einfluss der Bücher auf Mays literarischen Werdegang, vor allem in den Anfangsjahren seiner späteren Romanschriftstellerei.

Am 16. März 1856 endete die Volksschulzeit. Das Abschlusszeugnis bescheinigte ihm in den ‚Wissenschaften‘ die Note II und im ‚sittlichen Verhalten‘ die Note I. Einen Grund zu Beanstandungen gab es nicht. Mays Berufsziel lautete zu diesem Zeitpunkt noch Arzt, ein Wunsch der unerfüllt bleiben sollte.9

Old Shatterhand vor Gericht

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