Читать книгу Weltenreise - Julia Beylouny - Страница 10
Kapitel 6
ОглавлениеSamuel
Er lehnte an einer Straßenlaterne und schaute zum Strand hinunter. Seit Tagen fühlte er sich, als bekäme er eine Grippe oder sowas. Vielleicht war es auch nur die Perspektivlosigkeit, die innere Leere, die ihn quälte. Für alle anderen Mitglieder seiner Familie stand die Zukunft fest. Auch seine Zukunft hatten sie längst beschlossen. Nur, dass er sich eine ganz andere gewünscht hätte. Was, wenn er einfach in den Ozean springen würde? Schlimmer als sein momentanes Leben konnte es nicht werden.
Ein kurzer Blick in die Boutique zu seiner Linken verriet ihm, dass Amy noch lange nicht die richtigen Schuhe gefunden hatte. Frauen! Doch bei seiner Schwester konnte er verstehen, wieso das Thema Schuhe sie besonders faszinierte.
Ob sie das letzte Paar mitnehmen würde? Als Souvenir?
Sein Blick schwenkte zum Strand zurück und blieb an einer schmalen Gestalt hängen, die zwischen den Dünengräsern hockte. Sie war nicht allein. Ihre neue Freundin und sie hielten einen Coffee-to-go in Händen und schwatzten lebhaft miteinander. Wenigstens würde die Quasselstrippe Brooke das rothaarige Mädchen vor James und Jason beschützen. Obwohl er sich da nicht allzu sicher war … Wer wusste das schon; vielleicht lockte Brookes viel zu kurzer Rock sie am Ende sogar an?
„Sam? Komm her und berate mich! Das alles ist so verwirrend.“
„Ja, das ist es in der Tat.“
Amy stakste aus der Boutique und torkelte unsicher auf den pinkfarbenen Highheels über das Straßenpflaster. „Was sagst du?“
„Ma’am? Entschuldigen Sie …“ Eine aufgeregte Verkäuferin folgte seiner Schwester aus der Tür. „Sie dürfen nicht einfach mit den Schuhen da rauslaufen, ohne sie vorher zu bezahlen.“
„Oh … Ich bin sofort zurück. Ich wollte meinen Bruder nur um Rat fragen. Also, Sam?“
Er lachte und schüttelte den Kopf. „Ich sage, dass Cassina keine Schuhe mehr braucht. Zumal du genug in deinem Schrank hast. Was soll aus denen werden? Wegschmeißen?“
„Sehr witzig. Du missgönnst mir aber auch alles!“
„Ma’am?“ Die Verkäuferin schaute ungeduldig.
„Ich nehme die Schuhe, nur eine Sekunde.“
„Ich missgönne dir gar nichts“, sagte Sam. „Im Gegenteil. Was gäbe ich drum, mit dir zu tauschen!“
Sie schaute ihn mitleidig an und schloss ihn in die Arme.
„Versuch bitte, dich für mich zu freuen! Ich bin eben kein so tolles Wunderkind wie du. Mich wollten sie in Harvard schließlich nicht haben. Mach einfach das Beste draus und irgendwann darfst du auch wieder zurück, da bin ich mir sicher. Sie werden dich hier schon nicht versauern lassen.“
Das fremde Mädchen zog seine Blicke wieder an.
„Nein, nicht versauern. Stattdessen setzen sie mich einer sehr großen Gefahr aus.“
Amy löste die Umarmung und folgte seinem Blick.
„Oh … Sag, dass das nicht wahr ist!“, flüsterte sie.
„Hilf mir, es zu verhindern. Vielleicht ist es früh genug.“
„Soll ich Dad einschalten?“
„Bist du wahnsinnig? Das lässt du schön bleiben, hörst du!“
„Gib mir eine Minute. Ich bezahle die Schuhe und dann verschwinden wir von hier.“
Der Wind wehte ihren Geruch zu ihm herüber. Er bemühte sich, ihre Stimme zu überhören. Wie er seine Sinne hasste! Vielleicht sollte er eine Runde schwimmen gehen? Das Salzwasser würde ihm einen anderen Geschmack verleihen.
Brooke erhob sich und wieder fragte Samuel sich, aus welchem Grund ein Mädchen einen so kurzen Rock trug. Kein Wunder, dass alle dachten, sie würde es drauf anlegen. Die Rothaarige war da anders. Ihr dunkelgrünes Strickkleid schmeichelte nicht nur ihrem Teint, es war auch lang genug, um nicht gleich die Farbe ihres Slips zu verraten.
Brooke zog und zerrte an ihrem Arm, bis sie sich schließlich mühevoll erhob.
„Siehst du, ich wusste, dass du mir nachgibst. Mit deiner Figur kannst du dich heute Abend ruhig im Bikini sehen lassen!“
Er seufzte. Sie kamen geradewegs auf ihn zu und er wusste bereits, dass Brooke ihn nicht übersehen würde. Wieso brauchte Amy so lange dafür, ihre blöden Schuhe zu bezahlen?
„Sieh mal einer an. Erst eben haben wir über dich gesprochen, Samuel. Hast du schon Bekanntschaft mit Kate gemacht? Sie verbringt den Sommer bei ihren Verwandten. Bin ich froh, dass ich schon so früh im Jahr eine liebe Freundin gefunden habe. Die Saison kann ja so schrecklich lang sein, wenn die falschen Urlauber da sind. Findest du nicht? Ach, kann dir auch egal sein, du nimmst ja ohnehin nicht am gesellschaftlichen Leben dieser Insel teil.“
„Freut mich auch, dich zu sehen, Brooke“, sagte er und schaute wieder zum Strand hinunter. Er würde es sicher nicht drauf anlegen, dem Blick der Rothaarigen noch einmal zu begegnen. Das, was am Morgen in den Dünen passiert war, reichte aus, um ihm mindestens die komplette kommende Woche den Verstand zu rauben.
„Sehen wir dich heute Abend auf der Party, Sam?“
„Wie du schon sagtest, das gesellschaftliche Leben dieser Insel geht spurlos an mir vorüber.“
„Ist auch besser so.“ Brooke rollte die Augen. „Das garantiert uns, dass wir einen Heidenspaß haben werden. Komm, Kate. Da drüben ist die Boutique, von der ich dir erzählt habe. Ich schlage vor, du trägst einen ähnlichen Grünton wie dein Kleid. Das unterstreicht deine sagenhafte Haarfarbe. Oh Gott, die Jungs werden dir zu Füßen liegen. Was soll ich nur anziehen, damit ich nicht völlig untergehe?“
Amy trat aus dem Schuhladen. In der Rechten hatte sie eine Tüte, die ein eckiges Etwas erahnen ließ. „Tut mir leid, der Kreditkartenleser hat nicht funktioniert. Ich habe alles mit angehört.“
„Du bist zwei Minuten zu spät. Jetzt musst du mich bis zum Herbst wegsperren.“
Sie gingen die Straße hinab, Richtung Pier. Irgendwo dort hatte er den alten Jeep geparkt. „Hey, jetzt sag doch was, Sam. Es gefällt mir nicht, wenn du schweigst. Das mit dem Wegsperren ist doch völliger Blödsinn. Oder etwa nicht?“
Plötzlich blieb er stehen und hob die Hand, um seine Schwester zum Schweigen zu bringen. Sie schaute sich um und er spürte, dass sie die beiden Jungs vor Claire’s Boutique bemerkt hatte. Schnell zog er Amy hinter einen geparkten Wagen.
„Was soll das? Was hast du vor?“, schimpfte sie. „Du willst doch nicht etwa … Hör sofort auf damit! Hast du völlig den Verstand verloren, Sam? Warte!“
Sie riss ihn herum und sah ihm fest in die Augen. „Du brauchst ihre Gedanken nicht zu lesen! Sie sprechen laut genug, dass du deine Ohren dafür benutzen kannst. Bring mich nie wieder in diese Gefahr, kapiert? Ich werde heiraten, Samuel, und das wirst du nicht noch einmal aufs Spiel setzen!“
„Schon gut! Halt einfach mal für ‘ne Minute deinen Mund, ja? Danke.“
Er konzentrierte sich wieder ganz auf James und Jason. Sie lungerten grinsend vor dem Schaufenster herum und flüsterten.
„Und, siehst du was, Jason?“
„Nein, verdammt! Die Umkleiden sind von hier draußen nicht einzusehen. Aber hey, du brauchst nicht zufällig ein neues Beachoutfit für heute Abend?“
„Ich denke, ich habe erst ein nagelneues bekommen.“
Jason schlug seinem Freund auf den Hinterkopf. „Idiot! Aber immerhin. Sie kommen zum Pier, wer hätte das gedacht. Diese Party geht richtig ab!“
„Brooke, sicher. Aber die Rothaarige kannst du knicken. Die ist hart wie Granit.“
„Pass auf, James, die Wette gilt! Die Rote gehört mir, gib mir zwei Tage. Spätestens Anfang der Woche ist sie reif.“
Sie schlugen sich grölend in die Hände und schlenderten zum Strand hinab. Samuel bebte vor Wut. Sein Atem zischte. Er wusste, dass Amy seinen pochenden Herzschlag hörte. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seinen Oberarm.
„Okay. Ich verstehe, du hast ein großes Problem. Aber du wirst dort nicht hingehen. Hast du mich verstanden? Wenn du es tust, fühle ich mich gezwungen, Dad zu informieren.“
Er brüllte sie an und schleuderte ihre Hand von seinem Arm.
„Sam! Beruhige dich!“
„Ich soll mich beruhigen? Es reicht! Ich habe keine Lust mehr auf dieses Spiel! Ich gehöre nicht hierher! Verstehst du? Ich bin eine Gefahr für euch und für alle anderen dort unten. Und sie haben mich selbst zu dieser Gefahr gemacht. Was spricht dagegen, einem Mädchen zu helfen? Ich werde ihr schon nicht auf die Nase binden, was sie ohnehin nicht begreift.“
Mit einer energischen Geste fuhr er sich durch die Haare. Amy kannte ihn zu gut. Er wusste, was sie wusste. Ihre Gedanken waren in all den Jahren miteinander verschmolzen. Nichts würde ihn davon abhalten, die rothaarige Fremde vor Jason zu beschützen.
„Versprich mir, dass du vorsichtig bist. Hau diesen Typen dahinten meinetwegen eins auf die Nase, aber gib dem Mädchen keinen Anlass, dich zu hinterfragen. Bitte, Sam.“
Ihr Blick war flehender, als der von Mom je sein konnte. In ihren Augen las er ehrliche Sorge und sogar eine Spur von Angst.
„Ich verspreche es.“