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Kapitel 1

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Kriemhild

Das x-förmige Landekreuz war eines der ersten Dinge, die sie von Boston, Massachusetts, auf sich zukommen sah. Erst als kleine graue Bahn, dann immer größer werdend, bis das Rumpeln und Bremsen der Maschine die Illusion der neuen Welt real werden ließ.

Seit festgestanden hatte, dass sie die Reise unternehmen würde, hatten sich viele Emotionen in ihr abgespielt: Erleichterung und Vorfreude, aber auch Ablehnung und Unentschlossenheit.

Auf den ersten Blick war Boston nicht anders als jede andere Großstadt, die Kriemhild aus Europa kannte – voller Beton, Stahl, Lärm und Dreck. Allerdings wirkte alles größer, weitläufiger und imposanter als daheim.

Boston. Sie war die Auserwählte, die ihr Trost und Zuflucht spenden sollte.

Die letzten acht Flugstunden waren ziemlich ermüdend gewesen – Kriemhild hatte nicht schlafen wollen, um nichts zu verpassen, aber der immer gleichbleibende, endlose Ozean unter ihr und der monoton blaue Himmel über ihr waren bloß langweilig gewesen.

Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn sie den Flug doch verschlafen hätte – wenigstens, um dem Jetlag zu entgehen.

Kriemhild dachte an Justus und schüttelte den Kopf, um die Gedanken an ihn wieder zu vertreiben. Nein, sie war schließlich nach Amerika gekommen, um ihn zu vergessen.

Wie hätte sie ahnen können, dass der Sommer in den Staaten ihr Leben komplett verändern würde?

Jemand hielt ein Schild mit ihrem Namen hoch. Es war nicht das einzige Schild – die Empfangshalle wimmelte nur so von fremden Namen, die von stummen Tafeln leuchteten. Aber ihr Name war der schlimmste von allen und seit der Reise hasste sie ihn noch mehr. Zum hundertsten Mal hatte sie ihn den Amerikanern buchstabiert und ihrem Sitznachbarn den altdeutschen Ursprung erläutert, so dass er inzwischen so staubig und vorurteilsvoll klang, dass sie wünschte, Onkel John würde das Schild endlich in seiner Tasche – oder besser einer Mülltonne – verschwinden lassen. Kriemhild eilte schnell auf ihn zu und ließ sich umarmen. Zu ihrer Überraschung schmeichelte sein Akzent ihrem Namen so sehr, dass sie beschloss, ihn vorerst noch nicht abzulegen.

„Kriemhild, schön, dich zu sehen! Geht es dir gut? Wie war dein Flug? Willkommen in den Staaten!“

Sie hatte Onkel John zuletzt als Kind gesehen, als er und Tante Margarethe zur Silberhochzeit ihrer Eltern zu Besuch gewesen waren. Sie war damals erst fünf Jahre alt gewesen. Ihre Mutter hatte sie ziemlich spät bekommen – mit zweiundvierzig.

Wenn er das Schild nicht hochgehalten hätte, hätte sie ihn niemals wiedererkannt. Johns Haare hatten ihn in den vergangenen Jahren eines nach dem anderen verlassen und die wenigen, die übrig geblieben waren, waren ergraut. Sein Gesicht war jedoch von so liebenswürdigen Falten durchzogen, dass es den Anschein hatte, er würde ununterbrochen lächeln. Und in dem Moment galt sein Strahlen ihr.

„Du bist groß geworden“, bemerkte er.

„Das ließ sich leider nicht vermeiden. Danke, dass ich den Sommer bei euch verbringen darf. Wie geht es Tante Margarethe?“

„Margret? Sie kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Seit Tagen bereitet sie alles vor.“

Seltsam, wie vertraut sie sich nach all den Jahren waren. Kriemhild lehnte sich lächelnd an die Scheibe des Beifahrersitzes. Boston lag hinter ihnen und sie fuhren auf dem Highway 3 Richtung Süden. In etwa einer Stunde würden sie Falmouth erreichen. Während die sagenhafte Landschaft Neuenglands an ihnen vorüberzog, nahm das Kribbeln in Kriemhilds Bauch zu. Etwas sagte ihr, dass sie sich dort wohlfühlen würde. Die Anspannung des Flugs und der Zeit davor fiel langsam von ihr ab und sie spürte, wie Müdigkeit ihren Platz bereitwillig einnahm. Kriemhild seufzte, als sie versuchte, das Bild von Justus in sich fortzuschieben.

„Genieße die Zeit, die vor dir liegt. Dies ist ein anderes Land.“ John riss sie aus den Gedanken und sie nickte.

„Eine ganz andere Welt, wie mir scheint.“

„Du musst müde sein.“

„Schon verrückt. Ich bin um elf Uhr abgeflogen und um dreizehn Uhr angekommen. Dazwischen liegen ganze acht Stunden.“

Onkel John lächelte. Keine halbe Stunde und er war ihr bereits ans Herz gewachsen.

„Wir können irgendwann nach Boston fahren, wenn du magst. Es gibt viele interessante Dinge dort. Zum Beispiel das Old State House, von dessen Balkon 1776 die Unabhängigkeitserklärung verlesen wurde.“

„Danke, Onkel John. Sicher. Warum nicht?“ Ohne Zweifel würde sie dort genügend Ablenkung finden.

Kurz vor Buzzards Bay war sie eingeschlafen, zu überwältigt von all den neuen Eindrücken wie den wunderhübschen Häuschen, die überall in den Ortschaften im typischen georgianischen Stil erbaut waren. Streng symmetrisch verteilte Fenster und Türen, kleine Vordächer und Veranden.

Sie wurde von einem scheuen Räuspern geweckt: „Kriemhild?“

Der Motor des Wagens war abgestellt und sie parkten in der Kiesauffahrt eines hübschen grauen Holzhauses. Weiße Fensterläden umgaben weiße Sprossenfenster, der Rasen war geschnitten und die Beete geharkt.

„Wir sind da.“ Ihr Onkel lächelte. „Tut mir leid, dass ich dich wecken musste. Ich dachte nur, vielleicht wäre ein Bett bequemer zum Schlafen.“

Sie gähnte und reckte sich, den Blick noch immer auf das Anwesen der Gilberts gerichtet.

Im selben Moment öffnete sich die Haustür und eine ältere Dame folgte den Sprüngen eines munteren Labradors. Sie war zierlich und Kriemhild staunte, wie sehr ihr Äußeres dem ihrer Mutter ähnelte.

„John, Kriemhild! Da seid ihr ja endlich! Herzlich willkommen!“ Margret riss die Autotür auf und bevor Kriemhild aussteigen konnte, lag ihre Tante in ihren Armen. „Mein liebes Kind, du bist eine richtig hübsche junge Dame geworden! Lass dich ansehen!“

„Hallo, Tante Margret. Ich freue mich, dich zu sehen.“

John begab sich an den Kofferraum und begann, das Gepäck ins Haus zu tragen. Als Kriemhild endlich aus dem Sitz kroch, stupste eine feuchte Hundenase an ihre Hände. Sofort beugte sie sich hinab und nahm das Tier in Augenschein. „Hallo, wer bist du denn?“

„Das ist unser Jacob“, sagte Margret stolz. „Er hat dich bereits ins Herz geschlossen. Komm, ich zeige dir dein Zimmer. Sicher willst du dich ein wenig frisch machen?“

Drinnen war es so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Urig und gemütlich. Weiß vertäfelte Wände, braune und beigefarbene Teppiche und Holzdielen vermittelten einen warmherzigen Charme. Eine weiße Wendeltreppe führte hinauf in ihr Zimmer, von wo aus der Ausblick des halbrunden Fensters direkt auf den Strand und das Meer hinaus ging. Die Fensterbank war breit genug, um auf ihr sitzen zu können. Tante Margret hatte dicke, altrosafarbene Kissen darauf ausgelegt. Der gleiche Stoff, aus dem auch die schweren Vorhänge und die Tagesdecke des Bettes genäht waren. Durch das geöffnete Fenster drangen das Kreischen der Seemöwen und das Rauschen der Brandung an ihr Ohr.

„Ich hoffe, dir gefällt unser Gästezimmer. Ich habe extra alles neu hergerichtet.“

„Gefallen? Tante Margret, ich fühle mich wie in einem Traum! Das alles ist viel mehr, als ich mir vorstellen konnte.“

„Ja –“, Onkel John erschien im Türrahmen, „und wenn die Sicht klar ist, kannst du bis nach Martha’s Vineyard schauen. Da drüben am Horizont.“

Kriemhild blickte über den endlosen Naturstrand, der zum Land hin in hohe Dünen mündete.

Das Fleckchen Erde grenzte an ein Paradies.

„Komm, John. Gönnen wir unserem Gast ein wenig Ruhe. Kriemhild ist sicher wahnsinnig müde.“

„Tante Margret? Würdest du mich bitte in zwei Stunden wecken? Sonst kann ich abends nicht schlafen. Vielleicht schaue ich mir nachher den Strand an.“

„Gern. In der Zwischenzeit informiere ich deine Mutter, dass du gut angekommen bist.“

Bevor Kriemhild sich schlafen legte, schaltete sie ihr Handy ein. Sie hatte es am Morgen vor dem Flug abgestellt und war gespannt, ob ihr jemand geschrieben hatte. Ein leises Piepen kündigte den Empfang einer Nachricht an. Sie war von Justus.

Bitte ruf mich an, wir müssen reden.

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