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Kapitel 16

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Margarethe

Währenddessen saß Margret in ihrem Lehnstuhl. Jacob lag treu an ihrer Seite und ließ sich wohlgefällig hinter den Ohren kraulen. Ihr Blick ging in die Weite und ruhte irgendwo draußen am Horizont.

„Geht es dir gut, mein Herz?“

„Ja, John, ich danke dir.“

„Du solltest endlich damit abschließen. Wie lange willst du dich noch quälen? Das alles ist doch fünfzig Jahre her.“

Sie versuchte zu lächeln. „Für dich vielleicht. Wenn ich Kriemhild anschaue, dann kommt es mir vor, als sei die Zeit zurückgelaufen.“

„Hat der Brief dir nicht geholfen?“

„Vielleicht. Frag mich das in ein paar Wochen nochmal. Hast du die Blumen am Grab auch gegossen? Heute ist es ziemlich warm, findest du nicht?“

Seine Blicke überhäuften sie mit Liebe. John legte seine Hand auf ihr Knie.

„Natürlich habe ich sie gegossen. Wie jeden Tag.“

Jemand kam durch die Haustür. Jacob stellte die Ohren auf und ließ ein leises Bellen hören. Margret blickte auf die Uhr. Es war nach vier. „Kriemhild? Bist du es?“

„Ja, Tante, ich bin zurück.“

„Komm doch einen Moment zu uns.“

John erhob sich und küsste Margrets Stirn.

„Ich muss den Wagen in die Werkstatt bringen. Seit Tagen klappert der Auspuff.“

Er begrüßte Kriemhild und verschwand über die Veranda. Margret erschrak bei ihrem Anblick. Das Mädchen schaute deprimierter drein als am Tag ihrer Anreise.

„Komm, mein Kind, setz dich doch. Wie war es in der Stadt?“

Kriemhild zögerte. Sie stand am Fenster und blickte hinaus in die Dünen.

„Weißt du, ich … war gar nicht in der Stadt. Samuel hat mich seinen Eltern vorgestellt. Sie hörten von dem Vorfall auf der Party und wollten mich kennenlernen.“

„Er hat was?“ Der Junge war schon seltsam genug. Tagtäglich saß er am Strand und schaute stundenlang aufs Meer hinaus. Es war okay, dass Kriemhild ihn kennengelernt hatte, aber wieso um alles in der Welt stellte er sie nach ein paar Tagen seinen Eltern vor? Margret erhob sich aus dem Schaukelstuhl und ging zu ihr hinüber. „Du hast seine Eltern getroffen? Was hat das zu bedeuten?“

„Keine Ahnung, ich weiß selbst noch nicht, was ich davon halten soll. Seine Familie ist mir ein Rätsel, Margret.“

„Ja, sie leben sehr zurückgezogen. Diese Wissenschaftler sind alle seltsam, wenn du mich fragst.“ Sie nahm die dichten, roten Haare ihrer Nichte und legte sie zu einem Zopf zusammen. Margret hegte da so einen Verdacht. Vielleicht täuschte sie sich auch.

„Sag mal, Kriemhild, kann es sein, dass du diesen Jungen magst?“

Das Mädchen drehte sich ruckartig um. Der Zopf fiel aus Margrets Händen und löste sich auf.

„Fang du nicht auch noch damit an! Was soll das? Ich bin nicht hergekommen, um mir den Nächstbesten anzulachen. Diese Sache mit Justus setzt mir ohnehin genug zu – Verzeih mir, Tante Margret. Ich wollte nicht laut werden.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du bist jung. Und dieser Junge ist anders als die anderen. Das habe selbst ich bemerkt, obwohl meine Blicke in all den Jahren immer trüber geworden sind.“

Ein scheues Lächeln huschte über Kriemhilds Züge. Geschickt wechselte sie das Thema.

„Wie geht es dir heute? Du siehst müde aus.“

Margret senkte den Blick und dachte an das Couvert auf ihrem Nähtisch.

„Willst du lesen, was dein Großvater geschrieben hat?“

„Ich soll den Brief lesen? Ich weiß nicht. Ich denke, es ist eine Sache zwischen ihm und dir.“

„Komm her, setz dich. Du sollst ihn lesen, ich will deine Meinung hören.“

Margret zog einen Stuhl heran und reichte ihr das Papier. Kriemhild entfaltete den Brief und begann die Zeilen in sich aufzunehmen. Margret kannte längst jedes Wort auswendig.

Margarethe,

ich weiß, dass du mich hasst. Und ich weiß, dass die Schuld, dass alles so gekommen ist, auf mir lastet. Ich habe mir immer vorgenommen, mit dir zu reden. Irgendwann. Jetzt ist es zu spät; nicht mehr lange und das Leben wird mich verlassen. Wenn man es als Leben bezeichnen kann, was mich da verlässt.

An jenem Tag habe ich eine schwere Last auf mich genommen, eine schwere Schuld auf unsere Familie. Ich weiß nicht, warum ich so ausgerastet bin. Vielleicht wollte ich, dass du einen gestandenen deutschen Mann heiratest. Der Krieg hat uns alle gebeugt. Ich hatte Angst, dir nicht die Zukunft bieten zu können, die ich mir für dich gewünscht hätte. Ich war ein harter Mann. Aus heutiger Sicht würde ich anders handeln.

Ich brauche dir nichts über den Schmerz zu sagen, den man empfindet, wenn man ein Kind verliert. Glaub mir, er ist derselbe. Egal, ob der Verlust selbstverschuldet ist, oder nicht. Seit fünfzig Jahren lebe ich mit diesem Schmerz. Und ich werde mit ihm sterben. Ich werde mich vor dem Herrgott dafür verantworten müssen. Was soll ich sagen? Was soll ich Ihm sagen? Wo ich zu feig war, mit dir zu sprechen?

Doch ich werde Ihn um Verzeihung bitten. So, wie ich auch dich um Verzeihung bitte. Es gibt keine Entschuldigung für die Angelegenheit. Mir bleibt einzig die Hoffnung auf Barmherzigkeit.

Wie wünschte ich mir, du wärest hier, an meinem Sterbebett. Wie wünschte ich, mein Leben würde noch einmal dort beginnen, wo die Chance auf Versöhnung bestand. Ich wünschte, ich hätte das Glück durch mein Tun nicht getrübt. Dein Glück und das Glück deiner Ehe. Das Glück, das ich mir immer für dich gewünscht habe. Johns Glück, der zum wichtigsten Mann in deinem Leben wurde. Ich habe ihn falsch eingeschätzt. Vielleicht wäre auch das Kind bei euch geblieben, hätte es meinen Segen gehabt.

Verzeiht mir. Irgendwann. Ich weiß, dass ich dich liebe. Seit deiner Geburt.

Dein Vater

Kriemhild legte das Blatt beiseite und Margret bemerkte die Tränen in ihren meergrünen Augen. Ein Moment des Schweigens verstrich.

„Was sagst du dazu? Dieser alte Sturkopf!“

Kriemhilds Stimme flüsterte. „Kannst du ihm verzeihen, Tante?“

„Auf Dauer bleibt mir keine Wahl. Ich werde jedenfalls keine neunzig Jahre alt, um es zu tun.“

Das Mädchen wischte sich über die Augen. Ein Beben ergriff Besitz von ihr. „Weißt du, wie oft ich mir gewünscht habe, mein Vater hätte die Gelegenheit bekommen, sich in einem Brief von mir zu verabschieden? Stattdessen war er einfach weg. Ohne ein Wort. Ich werde nie erfahren, was er mir noch alles hätte sagen wollen.“

Margret nahm sie in die Arme. Kriemhild weinte bittere Tränen. So hatte sie es noch gar nicht gesehen. Das Kind hatte Recht mit dem, was es sagte.

„Du vermisst ihn sehr, nicht wahr?“

„Ich dachte, es würde besser, je älter ich werde. Aber … die Gewissheit, dass er an den entscheidenden Punkten meines Lebens fehlen wird …“

„Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“

Langsam erhob Margret sich. Sie nahm Kriemhild bei der Hand und auch ihre Augen blieben nicht länger trocken. Sie führte ihre Nichte hinaus auf die Veranda, die Stufen hinab in den Garten. Leichter Wind wehte vom Meer herüber; er vereinte das Salz der Wellen mit dem ihrer Tränen. Hinter einer Rosenhecke traten sie an ein kleines Beet.

„Ich erzählte dir bereits, dass ich schwanger war.“ Sie schluckte den Schmerz hinunter und bemühte sich, die Fassung zu bewahren. „John und mir wurde einst eine kleine Tochter geschenkt. Und kurz darauf die Gnade, uns von ihr verabschieden zu dürfen. Wenn auch ein Teil von ihr hiergeblieben ist. Hier, ganz nah bei uns.“

Kriemhild blickte auf. In ihren bezaubernden Augen lag tiefe Ehrfurcht. „Wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich gern mehr über euer Kind erfahren.“

„Gern, ich finde, du hast ein Recht darauf, es zu erfahren. Komm,“ sie deutete auf die Veranda, „setzen wir uns.“

Margret schaute in die Ferne und hielt Kriemhilds Hand in ihrem Schoß.

„Im Oktober ‘61 – nicht lange nachdem wir das Sommerhaus der Gilberts bezogen hatten – stand die Geburt kurz bevor. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits einige Wochen im Bett verbracht, eine dumme Grippe. Kriemhild, hättest du je einen Herbst in Neuengland miterlebt, wüsstest du, dass der Indian Summer einem mit seiner Pracht glatt den Verstand rauben kann! Wie auch immer – ich hielt es keinen Tag länger im Haus aus, geschweige denn in meinem Bett. Die ganze Natur lag in einer Art Goldrausch, die Wälder, der Zuckerahorn … Alles leuchtete Scharlachrot, Orange, Gelb und Braun.“ Margret seufzte. Vielleicht gab sie sich noch immer die Schuld daran, dass sie sich in ihrer Naivität zu so einer solchen Dummheit hatte hinreißen lassen. „Johns Vater besaß diese neue Motoryacht, eine 27` Chris Craft. Ich war ganz verrückt danach, einen Spaziergang zu unternehmen, und überredete John, mit mir hinauszufahren. Er wollte nicht. Heute bereue ich, dass ich damals nicht auf ihn gehört habe.“ „Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Tante Margret. Das ändert den Lauf der Dinge nicht mehr.“

„Wie Recht du hast, Liebes. John gab mir nach. Wie sooft, in so vielen Dingen. Er ist einfach zu gut für mich. Er brachte mich in den Hafen auf diese Yacht, die der ganze Stolz seines Vaters war. Er ließ den Dieselmotor an und fuhr hinaus in die Bucht. Meiner Schwäche und den Schmerzen wollte ich keinerlei Bedeutung zumessen. Heute weiß ich, dass ich noch immer gefiebert habe.“

„Trotzdem bist du rausgefahren?“, fragte ihre Nichte.

„Ich war kaum siebzehn … Viel zu unreif, selbst noch ein Kind. Das Leben hatte mich viel zu früh ins kalte Wasser geworfen. Irgendwann steuerte John auf einen Hafen zu, wir gingen an Land und ich konnte es kaum erwarten, in die Pinienwälder zu gelangen. Ich rannte ihm einfach davon, hinein in die bunte Herbstlandschaft. Es tat so gut, nach der langen Bettruhe an der frischen Luft zu sein.“ Sie hielt inne und schüttelte unmerklich den Kopf. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Was wäre eine weitere Woche des Liegens gewesen gegen das Leben ihres Kindes? Eine Träne stahl sich über Margrets Wange davon.

„Du musst nicht weiterreden, Tante.“ Kriemhild entging scheinbar nicht eine einzige Geste.

„Doch, du sollst alles erfahren“, fuhr sie fort. „Wir wanderten stundenlang durch die Wälder, bis wir eine hübsche Lichtung erreichten und ein Picknick machten. Erst als ich saß, wurden die Schmerzen stärker. Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht, schließlich waren noch drei Wochen Zeit bis zum Geburtstermin. John bemerkte, dass etwas nicht stimmte, und wurde ziemlich ärgerlich. Er wollte mich heimbringen, aber … Es war zu spät. Ich konnte nicht mehr aufstehen. John wollte seinen Vater holen, doch ich hielt ihn zurück. In der Angst, allein zu sein, und … weil seine Familie mich nie gewollt hatte. Ebenso wenig wie dieses Kind.“

Margret konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Kriemhild drückte ihre Hand und lehnte sich an ihre Schulter.

„Dann … hast du es dort im Wald bekommen?“, fragte sie zaghaft.

Margret nickte. „Es ging vermutlich viel zu schnell für das erste Kind. John gab sein Bestes, mir beizustehen. Aber er konnte nicht wirklich helfen. Ich war so erschöpft … der Schüttelfrost, das viele Blut … und dann hielt er sie mir hin. Unsere Tochter. Wir haben sie Sue genannt. Ein so wunderhübsches kleines Mädchen …“ Margret streichelte über Kriemhilds Kopf. „Sie hatte rotes Haar. Ganz genau wie du.“

Sie schluchzte und ihre Nichte schlang die Arme um ihren Hals. Es war, als umarme ihre eigene Tochter sie.

„Sue … hat nicht geschrien“, fuhr Margret leise fort. „Sie … sie hat nicht mal geatmet. Ich weiß nicht, was passiert ist. Alles ging so schnell, es war so … unwirklich. John brachte uns in ein Krankenhaus. Einen Tag später kam Pastor Jonas zu mir. Der mitfühlendste, liebenswerteste Mensch, der mir je begegnet ist. Er hat sich um alles gekümmert. Um Sues Beisetzung.“

Kriemhild reichte ihr ein Taschentuch. Jacob tapste auf die Veranda und nahm auf Margrets Zehenspitzen Platz. Der treue Freund!

„Weine nicht, Tante. Ich bin mir sicher, dass Sue darüber sehr traurig wäre.“

„Schon gut, Liebes. Du hast Recht. Ich habe schon zu viel geweint, seitdem du hier bist.“ Sie fand ein schwaches Lachen. „Sicher habe ich dich mit meinem Geheule ein für alle Male vergrault.“

„Unsinn! Es ist gut, dass du es mir erzählt hast. Ich danke dir. So lebt die Erinnerung an euer Kind weiter.“

Weltenreise

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