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Kapitel 7

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Margarethe

Jacob schaute aus seinem Korb auf, legte die Ohren nach vorn und deutete ein Bellen an. Margret saß in ihrem Schaukelstuhl und stickte. Sie war nicht weit gekommen. Immer wieder griff sie nach dem Taschentuch und hinderte die Tränen daran, auf die Handarbeit zu tropfen. Sie dachte an den Brief. Auf dem Sterbebett war dem alten Dickkopf vermutlich eingefallen, dass er eine verstoßene Tochter am anderen Ende der Welt hatte. Wenn es ihn im Leben nicht geschert hatte, wie es ihr ergangen war, was hatte er ihr im Tod dann zu sagen?

„Tante Margret! Möchtest du sehen, was ich mir in Falmouth gekauft habe?“ Kriemhild kam über die Veranda herein und stockte. „Du weinst?“

Sie lief auf sie zu, ließ die Tragetasche der Boutique zu Boden sinken und hockte sich neben den Schaukelstuhl. Margret zwang sich zu einem Lächeln.

„Ach, eine dumme Allergie … Vermutlich Pollen.“

„Du bist eine ziemlich schlechte Lügnerin, also versuch es erst gar nicht.“ Ihre Nichte umarmte sie. „Du weinst meinetwegen, hab ich Recht? Ich habe dich an ihn erinnert.“

„Es ist wegen deines Großvaters“, gestand sie.

„Willst du mir davon erzählen?“

Margret zuckte mit den Schultern und legte die Stickerei beiseite.

„Hat Elisabeth denn nie mit dir darüber gesprochen?“

„Nicht wirklich. Ma sagte nur, dass er dich rausgeschmissen hat wegen der Sache mit John.“

Margret nickte und Kriemhild nahm auf einem der Sessel Platz.

„Das ist nur der kleinste Teil der Wahrheit“, begann sie und holte tief Luft. „Warum nicht? Vielleicht solltest du die Geschichte hören.“

Ihr Blick ging in weite Ferne. Tränen benetzten ihre Erinnerungen. Und doch war es, als wäre es gestern gewesen, als wäre die Zeit stehengeblieben.

„Weißt du, Kind, ich war gerade mal dreizehn, als im Oktober ‘58 die General G.M. Randall in Bremerhaven einlief, um neue US-Truppen an Land zu setzen. Vater hatte es mir streng verboten, aber ich stand doch heimlich in der Menschenmenge – mit hochroten Wangen – und bejubelte Elvis, der als Wehrpflichtiger von Bord ging.“ Margret lächelte, als die Bilder ihrer Jugend in ihr hochkamen. „Nie werde ich diesen Tag vergessen können!“

Kriemhild lauschte ihr gebannt. Margret griff nach ihrem Taschentuch. Und während sie erzählte, spürte sie wieder dasselbe Kribbeln in ihrem Körper, das sie schon damals gespürt hatte; als sie ihn zum ersten Mal gesehen und sofort gewusst hatte, dass er der Richtige war.

„Zwei Jahre später lief John mit einem dieser Schiffe ein. Weniger bedeutend für die Welt, aber für ihn und mich der Anfang eines neuen Lebens … Ja, das waren große Zeiten. Inmitten des Kalten Krieges, der Afrikanischen Unabhängigkeitskriege gegen ihre Kolonialmächte, Deutschland strebte wirtschaftlich auf … Geschichte, die du sicher aus der Schulzeit kennst.“

„Ich hatte keine Ahnung, dass du so jung warst, als ihr euch kennengelernt habt“, rief Kriemhild. „Was hat Großvater denn dazu gesagt?“

Margret lachte schmerzhaft. „Er hatte keine Ahnung! John und ich trafen uns zunächst heimlich … in der Kaserne … Wann immer ich mich aus der Nähstube schleichen konnte, war ich bei ihm. Ich sehe es noch ganz deutlich vor mir, wie ich auf seinem Schoß saß, dicht gedrängt um ein kleines Radiogerät mit seinen Kameraden. Wir verfolgten die Präsidentschaftswahlen in ihrer Heimat. Du hättest ihren Jubel hören müssen, als John F. Kennedy gegen Richard Nixon die überraschende Mehrheit erlangte.“

„Was ist dann geschehen? Wie ist Großvater dahintergekommen?“

„Ach, Kind …“ Margret schüttelte den Kopf und rang lange Zeit mit sich selbst, bevor sie mit bebender Stimme weitersprach. „Es geschah etwas, das uns früher oder später überführt hätte … Ich … wurde schwanger.“ Sie tupfte eine Träne von ihrer Wange und ihre Stimme versagte.

Kriemhild hockte bewegungslos auf dem Sofa und schwieg. Doch ihre Blicke verrieten den Kummer. Nach einiger Zeit fuhr Margret fort. Die Bilder in ihrem Kopf schmerzten.

„Vater wartete mit dem Rohrstock in der Tür. Mutter und Elisabeth weinten in der Küche … Vielleicht hoffte er, ich würde den unehelichen Bastard – wie er das Kind nannte – durch die Schläge verlieren. Doch den Gefallen tat ich ihm nicht. Dann schmiss er mich raus. Vermutlich hatte der Krieg ihm den Rest gegeben. Elisabeth schrie mir nach … dass sie mich liebe und mich besuchen wolle … John verließ die Armee und auf dringendes Anraten seiner Eltern hin heirateten wir. Wie sonst hätte eine minderjährige, schwangere Deutsche in die USA einreisen sollen?“

Kriemhild war leichenblass. „Und Johns Eltern? Haben sie dich … einfach so akzeptiert?“

„Nein, Liebes, wo denkst du hin? Doch ihnen blieb nach außen hin keine Wahl. Sein Vater war einer der besten Ärzte Neuenglands. Damals herrschten andere Zeiten … Man wollte mit aller Macht den Schein wahren. Vielleicht war das mein Glück. Deutschland habe ich seither nicht wieder betreten – außer zur Silberhochzeit deiner Eltern.“

Margret weinte und wollte mit zittriger Stimme fortfahren: „Unser Kind, das sehr bald zur Welt kommen sollte …“

„Nein!“, rief Kriemhild und fiel ihr um den Hals. „Hör auf! Ich will nicht, dass du noch mehr leidest. Erzähl es mir ein anderes Mal.“

„Der Brief … Bitte, ich will ihn sehen. Es ist an der Zeit, endlich damit abzuschließen. Würdest du ihn mir geben?“

„Bist du sicher? Sollten wir nicht auf John warten? Wo steckt er eigentlich?“

Margret wischte sich durch die Augen. „Es kann spät werden. Er besucht einen alten Freund in Hyannis. Bitte, ich denke, ich bin jetzt bereit, ihn zu lesen.“

„Wie du meinst. Ich hole ihn.“

Margret hielt ihn lange in Händen und drehte den verschlossenen Umschlag umher. Kalter Pfeifentabak haftete am Papier, aber nur in ihren Erinnerungen an Vater.

Sie rang ganze zwanzig Minuten lang mit sich selbst. Dann öffnete sie mit zittrigen Fingern das Couvert. Nichts war zu hören, außer dem Rascheln des Briefbogens, als sie ihn auseinanderfaltete. Kriemhild stand in der Küche an einen Schrank gelehnt und beobachtete sie besorgt. Margrets Weinkrampf von zuvor hatte nachgelassen. Langsam überflogen ihre feuchten Augen die dunkel geschwungenen Zeilen. Sie zeugten noch immer vom willensstarken Charakter des Schreibers. Ein starker Geist im schwachen Körper.

Zwischendrin hielt Margret inne und tupfte sich Tränen aus den Augen, um weiterlesen zu können. Ihr Atem ging schwer und sie schüttelte den Kopf. Ungläubig, enttäuscht. Dann legte sie das Papier auf den kleinen Tisch, direkt neben ihre Handarbeit.

„Geht es dir gut?“ Das Mädchen kam näher. Margrets Blick fixierte einen Punkt draußen am Horizont, ohne etwas wahrzunehmen. Sie nickte. Kriemhild nahm ihre kalten Hände und strich zärtlich darüber. Margret flüsterte: „Aber keine Entschuldigung der Welt ersetzt ein Gespräch zwischen Vater und Tochter. Das hat er versäumt und ich weiß nicht, ob ich ihm vergeben kann.“

„Gib dir Zeit. Vielleicht kannst du es irgendwann.“

„Vielleicht. Wenn du uns in deine Gebete einschließt.“

„Das werde ich.“

Ein Klingeln riss Margret aus den schwermütigen Gedanken. Kriemhilds Handy, es lag auf der Anrichte. Erschrocken fuhr das Mädchen herum und starrte auf das Display, ohne sich zu rühren.

„Willst du nicht rangehen, Liebes?“

Kriemhild hielt noch immer Margrets Hände. Sie schüttelte den Kopf. Ihr blasses Gesicht war von Angst gezeichnet. „Es … es ist Justus.“

„Er ist hartnäckig“, stellte Margret fest.

„Was soll ich tun, Tante?“

„Na was schon? Drück ihn weg.“

„Ihn wegdrücken? Du … bist cool für dein Alter!“

Margret prustete vor Lachen und schlang die Arme um Kriemhilds Taille.

„Und jetzt zeig mir, was du dir in der Stadt gekauft hast. Wir wollen nicht länger Trübsal blasen.“

Das Mädchen warf die roten Strähnen aus der Stirn und bekam etwas mehr Farbe auf die blassen Wangen. Sie schaltete ihr Handy ab und schnappte nach der Tüte aus Claire’s Boutique.

„Du hast Recht, lass uns an schöne Dinge denken. Aber bitte schimpf nicht mit mir. Wenn du wüsstest, dass ich mit Brooke Delaware shoppen war, würdest du verstehen, wie schwierig es war, überhaupt ein Stück Stoff an meine Haut zu lassen …“

Brooke Delaware? Ha! Diese Quasselstrippe? Dann hast du also eine Freundin gefunden?“

„Naja, die Definition Freundin ist nicht ganz zutreffend. Aber für den Sommer werde ich gut mit ihr auskommen. Stell dir vor, sie hat mich sofort zur Beachparty heute Abend am Pier eingeladen. Sie ist ganz anders als meine Freundin Sara. Pass auf.“ Sie griff in die Tüte und zog einen khakifarbenen Bikini heraus. „Dazu habe ich einen hübschen Stufenrock in Creme gefunden, und einen Strohhut. Was meinst du? Ich war noch nie auf einer Beachparty …“

Margret musterte die Stoffe und zog eine Braue hoch. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Ich dachte, du seist hier, um Justus zu vergessen? Nun, ich fürchte, in diesen Kleidern wirst du mindestens drei Neue seiner Art anlocken.“

„Vielleicht hast du Recht. Darauf kann ich im Moment wirklich verzichten.“ Sie warf die Klamotten zurück in die Tüte. „Also bleibe ich bei dir. Wir schauen einen schnulzigen Film, essen Eiscreme und hoffen auf eine Speckrolle, die sämtliche Justusse der Welt vergrault.“

„Du tust mir gut, mein Kind. Ich habe lange nicht mehr so gelacht! Geh nur und amüsier dich. Du hast viel durchgemacht in letzter Zeit. Aber eines noch: Sei vorsichtig am Strand, du weißt schon, ich mache mir Sorgen. Und damit meine ich nicht die Jungs.“

„Ich weiß“, Kriemhild lächelte. „Aber keine Angst, ich meide das Wasser. Ich stelle allenfalls mal einen Zeh in die Wellen.“

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