Читать книгу ZUGVOGEL - K. Uiberall-James - Страница 27
ОглавлениеSonntag in der WG
Amadou wird früh wach; kein Wunder, er hat ja den ganzen Tag und die ganze Nacht mehr oder weniger geschlafen. Er wird seine Freunde nicht wecken; das tut man nicht. Dafür beobachtet er sie aber genau auf irgendwelche Anzeichen des Erwachens. Als Sekous Augenlider zucken und er sich umdrehen will, kann Amadou seine Neugierde nicht mehr beherrschen und weckt ihn doch ein ganz kleines bisschen.
„Los, Sekou, erzähl‘. Wie war’s? Nun sag schon!“ Der so aus dem Schlaf gerissene Freund blinzelt Amadou aus halb geöffneten Augen orientierungslos an.
„Was ist los? Was soll das? Wie spät ist es denn schon?“, stottert er verwirrt. Vom anderen Ende des Zimmers schimpft Ibrahim:
„Hast du ein Rad ab? Es ist sieben Uhr morgens! Ich habe jetzt gerade mal zwei Stunden geschlafen und morgen muss ich wieder arbeiten.“
„Aber …“
„Nichts aber. Weck’ uns ja nicht noch einmal“, sagt Ibrahim wütend und dreht seinen Freunden den Rücken zu. Sekou grient Amadou noch versöhnlich an, bevor er sich auch wieder die Decke über den Kopf zieht. Betreten schaltet Amadou den Fernseher ein und lässt den Ton ganz leise laufen. Seine Schonzeit scheint zu Ende zu sein.
Gegen Mittag sind alle auf den Beinen, nur Amadou nicht, der ist wieder eingeschlafen. „Hey Kumpel, wach auf. Du hast jetzt genug geschlafen. Frühstück ist fertig.“ Amadou öffnet die Augen einen Spalt und erschnuppert die aus der Küche kommenden Düfte.
„Mhm, das riecht aber gut.“
„Na, wenn du riechen kannst und Appetit hast, geht es dir wohl besser“, meint Malik. Amadou horcht in sich hinein und nickt. Aber als er aufsteht, um ins Bad zu gehen, ist er noch sehr wackelig auf den Beinen.
„Wo ist Toucou eigentlich?“, fragt Amadou seinen Gastgeber zwischen zwei großen Bissen Fladenbrot mit Ei.
„Der? Ach der hat wohl eine Frau gefunden, die ihn mit sich nach Hause genommen hat; es passiert schon mal, dass er nicht nach Hause kommt“, ist die beiläufige Antwort.
Amadou reißt erstaunt die Augen auf. „Also stimmt es, was man in Afrika über die deutschen Frauen sagt.“
„Was sagt man denn?“
„Na ja, dass sie gleich am ersten Tag mit einem ins Bett gehen, zum Beispiel.“
„Oh Amadou, du nervst!“, versucht Ibrahim das Thema zu beenden.
„Aber es stimmt doch. Malik hat es gerade bestätigt.“
„Also“, hebt Malik bedächtig an und holt tief Luft, „um das ein für alle Mal zu beantworten: Es gibt genug Frauen, Junge und Alte, die so etwas machen; aber passt auf! Es gibt auch andere, die das nie tun würden. Ende der Durchsage.“
Etwas kleinlaut richtet Amadou nun seine Frage an den gutmütigen Sekou. „Und wie war es sonst gestern Abend?“
„Was willst du denn hören? Die Musik war gut, die Stimmung auch, wir haben mit deutschen Frauen getanzt und ein paar nette Landsleute getroffen. Nächstes Mal kommst du ja mit und kannst dir selber eine Meinung bilden.“
Ibrahim verzieht amüsiert die Mundwinkel. „Warum erzählst du ihm nicht von der anhänglichen Carla, Sekou?“
„Ach, lasst mich doch zufrieden.“
Malik legt eine afrikanische Musikkassette in den Rekorder und mimt gute Laune, indem er tanzend das Frühstücksgeschirr abräumt und singend in der Küche verschwindet. „Wer wäscht ab?“, fragt er über die Schulter und Ibrahim geht ihm nach.
„Wir müssen unbedingt ein paar Sachen waschen“, meint Sekou, „kannst du uns deine Waschmaschine erklären?“
Während Ibrahim abwäscht, Malik und Sekou mit der Wäsche aller Bewohner beschäftigt sind, darf Amadou sich wieder hinlegen. Er schließt die Augen und lauscht den heimatlichen Klängen aus dem Rekorder. Im Dämmerzustand gleitet er, vom Fieber des Vortages noch geschwächt, in eine seltsame Welt.
Erstaunt stellt er fest, dass die ganze Wohnung mit feinem, rostrotem Sandstaub überzogen ist. ‚Komisch, ich habe gar nicht gewusst, dass es hier auch rote Erde gibt.’ Neugierig schaut er aus dem Fenster. ‚Vielleicht träume ich ja und bin zu Hause?’ Aber die staubbedeckte Fensterbank des Hochhauses sieht so gar nicht afrikanisch aus. Sehnsüchtig schreibt sein Zeigefinger den Namen seiner Liebsten in den roten Staub. ‚Miria…’. Doch bevor er den Namenszug vollenden kann, reißt ihn eine zornige Windböe aus seinen nostalgischen Gedanken, verwischt die Buchstaben und treibt ihm die Körnchen seines Verrats in die Augen. Abwehrend hält er einen Arm vor das Gesicht und greift mit dem anderen halb blind in ein Vakuum. Er findet keinen Halt und stürzt ins Bodenlose. ‚Ich muss aufwachen’, denkt er panisch, ‚das ist viel zu schnell.’ Seine Arme rudern orientierungslos im Fallwind. Er versucht zu schreien, doch kein Ton verlässt seine Lippen. Eine herbstliche Landschaft saust im Zeitraffer an ihm vorbei. Er schaut genauer hin und stellt entsetzt fest, dass seine ganze Umgebung langsam ausblutet. Alle Farben verlassen unaufhaltsam in dünnen Rinnsalen ihren Platz und bilden schillernde Pfützen auf dem Boden. Zurück bleibt eine tote, grau-schwarze Landschaft mit Bäumen, deren Äste beschwörend in den Himmel ragen wie in einem düsteren, alten Schwarz-Weiß-Film. Amadou fröstelt und schaut an sich herunter. ‚Meine Hose, mein bunter Boubou, meine Haut, alles grau!’
„Amadou, wach’ auf“, Ibrahim rüttelt ihn sanft an der Schulter, „du hast nur schlecht geträumt.“ Besorgt schaut er in das schweißbedeckte Gesicht seines Freundes, der sich nur schwer von seinem Traum lösen kann und wie ein Besessener immer wieder die Haut auf seinem Arm anfühlt.
„Ist ja gut, ich bin wach“, brummt er und wehrt Ibrahims beschützenden Arm ab. Aber dann sagt er mit belegter Stimme: „Oh Mann, bin ich froh, dass ihr da seid.“
Malik kündigt an, dass er Freunde am anderen Ende der Stadt besuchen will, und fragt seine Gäste, ob sie mitkommen möchten. Mit einem heimlichen Blick auf Amadou schüttelt Ibrahim den Kopf. Sekou ist auch dafür, dem kranken Freund ein wenig Gesellschaft zu leisten, nachdem sie ihn schon den ganzen vorherigen Abend allein gelassen hatten. „Okay, aber dann kocht nur für euch; denn ich esse dort.“