Читать книгу ZUGVOGEL - K. Uiberall-James - Страница 30
ОглавлениеNovember-Highlight
Ein einzelner Sonnenstrahl kämpft sich mühselig durch die Wolken, berührt tröstend mit dürftiger Wärme Amadous Gesicht und wird gleich wieder von einer düsteren Wolke verscheucht. ‚Emily’, denkt er, ‚vielleicht ist sie heute mit den Kindern draußen, schließlich scheint die Sonne ja ab und zu.’ Er verlässt mit offener Jacke und lose wehendem Schal fluchtartig die Wohnung.
Auf seinem Weg zum Spielplatz hastet er blind an Passanten vorbei, platscht achtlos durch Pfützen und hat nur einen Gedanken: Hoffentlich ist sie da.
Als er um die Ecke biegt, sieht er ihren goldblonden Lockenkopf. Sie ist gerade dabei, einem ihrer Schützlinge einen losen Schnürsenkel wieder festzuziehen und dreht ihm den Rücken zu. Als sie sich aus der Hocke erhebt, steht Amadou, über das ganze Gesicht strahlend, direkt vor ihr.
„Emily.“ Er nimmt ihre kleinen Hände, die in bunt geringelten Fäustlingen stecken, äußerst sanft in seine bloßen Hände.
„Hey, Amadou“, erwidert sie erfreut. In ihren Augen ist keine Überraschung zu entdecken, denn es war ihr klar, dass sie sich wieder sehen würden.
Eine kleine Ewigkeit halten sie sich so bei den Händen und strahlen sich wortlos an, bis die Kinder an ihnen zerren. Erst dann löst sich Emily sanft aus seinem Griff. Lächelnd zieht sie mit den Zähnen einen Handschuh aus, um mit der bloßen Hand etwas in ihrer Manteltasche zu suchen. Nach mehreren Anläufen - Schlüssel, Kleingeld, Kassenbon und Kastanien - wird sie endlich fündig. Erleichtert pustet sie eine Haarsträhne, die sich vorwitzig unter der Mütze hervor gestohlen hat, zur Seite und reicht ihm einen arg ramponierten Zettel mit ihrer Adresse. Amadou streicht ihn vorsichtig glatt und denkt: ‚Den hat sie schon die ganze Zeit mit sich herumgetragen.’ Während er die Adresse sorgfältig in seinem leeren Portemonnaie verstaut, fragt er erwartungsvoll: „Heute? Du besuchen?“
„Nein, nein, heute nicht“, sagt sie lachend, aber als sie seinen enttäuschten Blick sieht, zieht sie mit einer schmeichelnden Geste ihrer bloßen Hände seinen offenen Jackenkragen zusammen und fragt: „Ist dir nicht kalt?“ Amadou schaut sie nur weiterhin abwartend an. „Okay, du kannst mich Sonnabend um 17 Uhr besuchen. Wirst du kommen?“ Er nickt eifrig und lässt sich die Uhrzeit sicherheitshalber auf ihrer Armbanduhr zeigen. Die Wochentage kennt er schon.
Von nun an beherrscht ihn nur noch der Gedanke an das kommende Treffen. Voller Energie erledigt er alle Arbeiten und erfüllt sämtliche Wünsche seiner Mitbewohner; er kocht, was sie gerne essen, er erledigt ihre Botengänge und hält die Wohnung vorbildlich in Ordnung. Der Versuch seiner Gastgeber, ihn ein wenig in seiner Euphorie zu bremsen, schlägt so was von fehl, dass sie schnell aufgeben; schließlich profitieren sie alle von seiner guten Laune. Abgesehen davon ist mit Amadou aber auch gar nichts anzufangen.