Читать книгу ZUGVOGEL - K. Uiberall-James - Страница 32
ОглавлениеEmily, ein anderes Wort für Verwirrung
Endlich ist es Sonnabend. „Ich denke, du wolltest mit uns in die Disco, wenn du wieder gesund bist“, lacht Toucou, „und nun bist du auf einmal gar nicht mehr neugierig?“
„Ich habe schon was Besseres vor“, antwortet Amadou, wobei ein geheimnisvolles Lächeln seine Lippen umspielt. „Aber du kannst mir bestimmt sagen, welchen Bus ich nehmen muss, um dorthin zu kommen.“ Er hält Toucou Emilys zerknautschte Adresse unter die Nase.
Mit vielen guten Ratschlägen, Maliks Wörterbuch und einer Wegbeschreibung macht Amadou sich schon gegen 16 Uhr auf den Weg zu seinem Date. Er möchte auf keinen Fall zu spät kommen. Leider ist er so aufgeregt, dass er zwar den richtigen Bus nimmt, aber in die falsche Richtung; und so verliert er wertvolle Zeit. Endlich, gegen 18 Uhr 15 klingelt er bei Emily.
Amadou hört den Klingelton im Haus verhallen. Nichts. Er blinzelt angestrengt durch die kleine Glasscheibe der Haustür. Nichts. Er klingelt noch einmal; diesmal lang anhaltend und drängend. ‚Das kann doch nicht sein’, denkt er unglücklich, ‚wir sind doch verabredet.’ Sämtliche Vorfreude ist aus seinem Gesicht gewichen. Als er sich gerade dazu durchringt, es noch ein drittes Mal zu versuchen, sieht er sie langsam die Treppe herunterkommen. ‚Vielleicht ist sie gerade im Bad gewesen, oder …’, redet sich Amadou Mut zu; aber ein Blick in ihr reserviertes Gesicht lässt sein Herz ins Bodenlose purzeln. Emily scheint sich nicht besonders über sein Erscheinen zu freuen. Sie begrüßt ihn äußerst zugeknöpft.
Wortlos geht sie vor ihm die Treppe hinauf. Amadou folgt ihr wie ein Lamm zur Schlachtbank. ‚Sie ist so anders heute, so kenne ich sie gar nicht.’ Er schaut weder nach links noch nach rechts, nicht einmal nach vorne, obwohl der Blick sich wirklich für ihn lohnen würde.
Oben angekommen, nimmt Emily Amadou wortlos die Jacke ab und öffnet die Tür zu ihrem Wohnzimmer. Sie deutet auf die Couch und nimmt selbst in einem Sessel Platz. Amadou schaut betreten auf den kleinen Tisch: Die Kerzen sind heruntergebrannt, die Schälchen mit Nüssen und Keksen sind so gut wie leer und überall sind Krümel verstreut. Das Teelicht unter der Teekanne ist erloschen.
Verlegen ringt Amadou mit seinen Händen, als Emily sich abrupt erhebt und auf die Wanduhr hinter sich deutet. Sie zeigt auf die Fünf, wie eine Lehrerin vor der Tafel und dann kopfschüttelnd auf ihre Armbanduhr. Amadou schluckt. ‚Das glaube ich nicht! Deswegen macht sie so ein Theater?’
Anscheinend ist sein Gesichtsausdruck nicht bußfertig genug, denn Emily fängt laut auf Deutsch an, ihrem Ärger Luft zu machen, wohl wissend, dass er so gut wie kein Wort verstehen würde.
„Ich habe mich den ganzen Tag auf dieses Treffen vorbereitet, alle sonst am Wochenende anfallenden Arbeiten so schnell wie möglich erledigt, damit ich Zeit für dich habe; ich war im Afro-Shop, um für dich afrikanische Nüsse zu kaufen; ich habe die Wohnung dekoriert und“, ihre Stimme versagt; sie muss sich räuspern, um wieder sprechen zu können. „Ich habe ein Schaumbad genommen und eine Stunde damit verbracht, mich hübsch zu machen. Und wer nicht kommt, bist du. Meinst du, ich habe nichts Besseres zu tun, als stundenlang auf dich zu warten?“
Fassungslos starrt Amadou sie an. ‚In dem Ton hat noch nie eine Frau mit mir geredet’, denkt er aufgebracht. Er hat zwar nichts verstanden, aber doch kapiert: ‚Ich bin zu spät gekommen; na und?’
Durch Amadous entsetzten Gesichtsausdruck etwas milder gestimmt, nimmt Emily neben ihm auf der Couch Platz und lächelt ihn engelgleich an. „Tu das nie wieder!“, sagt sie mit einer Schärfe in der Stimme, die nicht zu ihrem lächelnden Mund passt, und legt dann, wie um ihre Worte zu entschärfen, schmeichelnd die Arme um seinen Hals. Geistesgegenwärtig reißt Amadou sie in seine Arme. Schwer atmend versenkt er sein Gesicht in ihre seidenweichen Haare. Emily gurrt mit ihren Lippen ganz dicht an seinem Hals: „Du bist ja ganz verschwitzt, mhm, du riechst nach Kokos“ und grast mit ihrer Nase schnuppernd jedes Fleckchen unbedeckte Haut ab.
Amadou fühlt eine nie gekannte Sinnlichkeit in sich aufsteigen. Europa, eine weiße Frau! Sie wird ihm dabei helfen, seine Träume zu verwirklichen. Das Blut rauscht in seinen Ohren, sein Penis schwillt schmerzhaft an. Seine Hände führen ein Eigenleben, sie zeichnen mit traumwandlerischer Sicherheit die atemberaubenden Kurven ihres Körpers nach, was bei Emily ganz seltsame kleine Geräusche auslöst. ‚Sie will es’, denkt Amadou fieberhaft; aber die vorhergegangene Szene mahnt ihn zur Vorsicht, so ist er bereit sofort aufzuhören, wenn sie es so will. ‚Nur jetzt keinen Fehler machen.’
Emily nimmt Amadous Kopf zärtlich in ihre Hände und zieht ihn zu sich auf Augenhöhe. Widerstrebend schaut er sie aus fast schwarzen Augen unsicher an.
„Willst du mich nicht küssen?“, fragt sie lachend und zeigt auf ihren Mund. Er versteht. Stürmisch presst er seine vollen, weichen Lippen auf ihre, und als sie den Mund etwas öffnet, dringt er grob mit der Zunge ein.
„Nicht so heftig!“, keucht Emily und versucht sich von ihm zu lösen, was sich als schwierig erweist, weil Amadou partout nicht versteht, was sie nun schon wieder will. Er ist so erregt, dass seine Arme vor innerer Anspannung zittern, als sie sich aus ihnen befreit.
‚Diesmal lass ich mich nicht sofort ins Bett zerren’, denkt Emily genervt und steht auf. Seine plumpe Leidenschaft turnt sie total ab, sie kommt ihr aufgesetzt und unpersönlich vor.
Der so seinen Gefühlen überlassene Amadou starrt sie mit offenem Mund verdattert an. Emily muss unwillkürlich über seinen komischen Gesichtsausdruck lachen.
„Ich mach uns einen frischen Tee“, sagt sie in tröstendem Ton und schwirrt ab in die Küche. Amadou denkt aufgebracht: ‚Scheiße!’ Er geht ihr hinterher und versucht sie von hinten zu umarmen, aber sie wehrt sich energisch. Als er nicht aufhört, sie spielerisch zu umgarnen, wird sie wütend. „Ich will jetzt nicht, okay? Neihein! Das verstehst du doch?“
Amadou schnappt wütend und gekränkt seine Jacke und ist drauf und dran, die Wohnung zu verlassen, als Emily ihn gerade noch am Ärmel erwischt.
„Komm, sei nicht gleich eingeschnappt“, sagt sie schmeichelnd und bugsiert ihn zurück zur Couch. „Wir müssen uns doch erst kennenlernen.“ Nur sehr widerwillig lässt er sich auf die Couch drücken. Er spielt den Beleidigten. Breitbeinig, die Arme mit baumelnden Händen auf den Oberschenkeln abgelegt, schaut er finster auf den Boden. Gedanken wie ‚was habe ich falsch gemacht’, und, ‚was soll das Rumgezicke? Erst will sie, dann will sie wieder nicht, aber ohne mich. Es gibt auch noch andere Frauen’, schwirren ihm durch den Kopf.
Emily ist hin und her gerissen zwischen ihren guten Vorsätzen und ihrem Verständnis für Amadou. ‚Ich verstehe ja, warum er sauer ist, aber ich kann doch nicht nachgeben, nur weil er sich nicht beherrschen kann.’ Sie ist tief in Gedanken; sie möchte nicht nur Sex haben, dafür ist sie nicht der Typ. Sie möchte ihren Partner erst einmal kennenlernen; seine Schwächen und Stärken erfahren, und ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Sie möchte, dass sich ihre Gefühle und eine Beziehung langsam entwickeln. Ihre Freundinnen halten sie für altmodisch, aber für sie ist es nicht nur eine Frage der Moral, es ist eine Frage der Notwendigkeit: Sie kann nur Spaß am Sex haben, wenn sie den Partner gut kennt und Vertrauen zu ihm hat‚ aber wie soll er mich verstehen, wenn ich es ihm nicht erklären kann?’, denkt sie, während er sprungbereit vor ihr sitzt und jeden Moment aus ihrem Leben für immer verschwinden kann. Handlungsbedarf ist angesagt.
Und so bedeutet sie Amadou mit pantomimischen Gesten, dass sie später am Abend zusammen in die Disco gehen könnten. Amadou schüttelt düster den Kopf, er hat nur das Geld für die Heimfahrt in der Tasche. „Ist es wegen Geld?“ Er nickt. „Ich kann heute mal für dich mitbezahlen; wenn du dann Geld hast, kannst du mich ja mal einladen.“ Er antwortet nicht, spielt immer noch den Beleidigten. Für Emily heißt das ‚ja’, und damit liegt sie richtig. Wie gesagt, sie versteht ihn ganz gut.
‚Aber was fange ich mit ihm bis Mitternacht an?’ Emily sucht im Regal nach einer CD mit afrikanischer Musik, um Amadou etwas aufzuheitern. „Und? Gefällt dir diese Musik?“, fragt sie ihn Beifall heischend. Sein Gesicht hellt sich etwas auf und vorsichtig greift er nach ihrer Hand. Emily lacht. ‚Warum lacht diese Frau ständig?’
Während sie ihm, wie eine Schlangenbeschwörerin, unverwandt in die Augen blickt, bewegt sie sich verführerisch tanzend direkt vor seiner Nase. Amadou erhebt sich wie ein hypnotisiertes Kaninchen und nimmt ihre aufreizenden Bewegungen auf.
‚Wahnsinn!’, denkt Emily; ungeahnte Glücksgefühle fluten rhythmisch durch ihren Körper. ‚Wie einfühlsam er sich bewegt.’ Sie hat die Augen geschlossen und weiß nicht mehr, wo ihr Körper aufhört und seiner anfängt. Ist es das, was ‚Einssein’ bedeutet? So müsste es immer sein. Sie könnte bis in alle Ewigkeit weiter tanzen.
Amadou hat nur einen Gedanken: ‚Wie kriege ich sie ins Bett, bevor ich durchdrehe oder sie sich es wieder anders überlegt?’ Denn dass sie mit ihm schlafen möchte, ist für ihn klar; ihre Bewegungen gleichen mehr einem Liebesakt als einem Tanz; aber halt! Jetzt schiebt sie ihn wieder von sich, streicht eine Haarsträhne aus der erhitzten Stirn und lässt ihn einfach stehen. Sie geht in die Küche und gießt sich ein Glas Saft aus dem Kühlschrank ein. Sie lehnt an der Arbeitsplatte, als Amadou dazu kommt.
„Willst du auch einen Saft oder ein Glas Wasser?“
„Nein, ich wollen dich.“ Sie lacht wieder mit zurückgeworfenem Kopf.
Amadou schüttelt resigniert den Kopf. ‚Sie ist verrückt’, denkt er, ‚oder sie will einen starken Mann, der sich durchsetzt.’ Er nimmt ihr das Glas aus der Hand, stellt es langsam und vorsichtig ab, hebt sie hoch und trägt sie zur Couch. Emily wehrt sich spielerisch, lacht aber dabei. Als er versucht, ihr das Sweatshirt über den Kopf zu ziehen, hält sie wieder seine Hände fest und blickt ihn vorwurfsvoll an.
„Ich habe gesagt, dass ich nicht mit dir schlafen werde. Wir kennen uns doch gar nicht. Und überhaupt, hast du ein Kondom dabei? Nein? Das hab ich mir gedacht.“ Sie löst sich aus seiner Umklammerung und setzt sich auf. Amadou versteht die Welt nicht mehr. So etwas würde in Afrika nie passieren! Wenn eine Frau ihren Partner so intensiv küsst und so aufreizend mit ihm tanzt, dann muss sie konsequenterweise auch mit ihm schlafen. Emilys Signale waren doch eindeutig. Oder? Er zieht sich wortlos an und Emily schaut ihm traurig dabei zu. Ohne sich zu verabschieden, zieht Amadou leise die Tür hinter sich zu. Ein sanftes Klicken, als die Tür ins Schloss fällt, dann ist es ganz still.
Emily versucht verzweifelt sich einzureden, dass sie es richtig gemacht hat. ‚Ich habe ihm gezeigt, dass ich ihn mag, habe ihm einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie es sein wird, wenn wir miteinander schlafen; aber er muss doch verstehen, dass ich nicht sofort mit ihm ins Bett steigen kann; er ist ein Fremder für mich, auch wenn mein Körper auf ihn reagiert hat. Wenn ich mich beherrschen kann, wird er das ja wohl auch können. Andererseits, warum sollte ich nicht … sollte er …? Schade, eigentlich hätte ich … vielleicht hätte ich … ach, ich werde ihn schon wieder sehen.’ Sie weint ein bisschen und kuschelt sich dann mit einer Wolldecke vor den Fernseher. Nach Disco ist ihr heute nicht mehr zumute.
Amadou trödelt auf dem Nachhauseweg. Er hält unterwegs sogar noch an einem Imbissstand an und trinkt eine Cola. ‚Hoffentlich sind die Anderen schon weg’, denkt er schlecht gelaunt, ‚ich habe Zero Lust auf ihre Fragen oder Ratschläge.’ Zu tief sitzt seine Enttäuschung über den misslungenen Abend.