Читать книгу ZUGVOGEL - K. Uiberall-James - Страница 37

Оглавление

Tinas freier Nachmittag

Tina schließt missmutig die Haustür, und wie immer, wenn Malik Driss abgeholt hat, macht sich eine große Leere in ihr breit. Es wurmt sie, wenn er so gut gelaunt bei ihr auftaucht, so als würde er ohne sie viel besser klar kommen, ja, sogar zufriedener sein. Sie geht in Driss’ Zimmer und räumt halbherzig ein paar Spielsachen in die Regale; die Wohnung ist wie ausgestorben. ‚Und das Kind vergöttert ihn’; denkt sie entrüstet, ‚dabei macht Malik nichts Kindgerechtes, pädagogisch Sinnvolles mit ihm, Fußball kucken und gemeinsam mit den Anderen essen; das ist alles. Nie geht er mit ihm in den Zirkus, in die Badeanstalt, ins Kino oder in den Zoo; nie macht er mit ihm eine Radtour oder ein Picknick’. Tina sinkt auf die Couch und bedeckt das Gesicht mit den Händen. ‚Oh verdammter Mist, ich liebe ihn immer noch.’

Sie schnäuzt sich kräftig und greift dann nach ihrem Handy. „Hi Rose.“

„Hey Tina; da hast du aber Glück, ich wollte gerade aus dem Haus gehen.“

Enttäuscht sagt Tina: „Schade, ich dachte, du hättest vielleicht Lust, mit mir an die frische Luft zu gehen.“

„Ja, gerne, aber ich muss vorher noch eben zu meiner Nachbarin etwas abgeben. Ist was passiert? Du klingst so komisch, du hast doch was.“

„Ach, immer dasselbe.“

Rose seufzt. „Ist Driss bei Malik?“

„Ja, bis neun Uhr“.

„Dann können wir ja etwas zusammen unternehmen, ich bin so gegen drei Uhr bei dir. Okay?“ Tina geht es sofort besser.

Es ist schon halb vier, als Rose klingelt und Tina ihr aufgekratzt die Tür öffnet. „Wollen wir erst noch einen kleinen Gang durch den Park machen?“, fragt Rose, „ich muss mich bewegen, ich habe mittags zu viel gegessen.“

„Gerne, ich hole meinen Mantel“.

Unterwegs atmet Tina tief ein. „Willst du drüber reden?“

„Nein, ist schon gut. Erzähl du mir lieber etwas, das mich aufbaut.“

„Okaaay, lass mich mal überlegen. Wollen wir uns was Tolles für Weihnachten überlegen? Wir könnten uns zum Beispiel ein kleines Strandhaus in Dänemark mieten.“ Sie ist so begeistert von ihrer Idee, dass sie gar nicht merkt, wie Tinas Gesicht immer länger wird. Aber als ihr Enthusiasmus keinerlei Reaktion hervorruft, sieht sie ihre Freundin besorgt an. „Ach du Schande, was habe ich denn gesagt?“

„Nichts“, wehrt Tina schniefend ab, „es war nur immer schon mein größter Wunsch, mit Malik, Drissi und ein paar Freunden solch ein Weihnachtsfest zu feiern. Es hat nie geklappt.“

„Und warum nicht?“

„Ach du weißt doch, wie die Afrikaner sind.“ Rose blickt Tina abwartend an.

„Als ich ihm damals vorschwärmte, wie romantisch es sein könnte, bei Punsch und selbst gebackenen Keksen vor dem flackernden Kaminfeuer zu sitzen, Spiele zu spielen und sich mit den Anderen zu unterhalten, gemeinsam zu kochen, oder bei Wind und Wetter einen Spaziergang zu machen, sagte er nur trocken: ‚Was soll ich da in der Kälte? Noch dazu auf dem platten Land, wo nichts los ist, mit Leuten, die nicht meine Freunde sind.’

Wütend fragte ich ihn, was wir denn als Familie überhaupt zusammen machen würden. Weißt du, was er da geantwortet hat?“

„Nein, aber du wirst es mir schon sagen“, meint Rose spitz.

„Also, er schnauzte in etwa: ‚Alles. Wir sind jeden Tag zusammen, essen und schlafen zusammen, was willst du denn noch? Ich gehe nun einmal nicht spazieren, nicht in Afrika und hier auch nicht, und schon gar nicht im Winter. Das weißt du doch; ich trinke auch keinen Punsch und unsere Zentralheizung ziehe ich allemal einem offenen Feuer in so einem Ferienhaus vor. Ich hab‘ doch keine Lust, mich in meiner wohlverdienten Freizeit auch noch um einen Ofen zu kümmern. Da hab ich’s ja in Afrika noch besser gehabt. Da kümmern sich die Frauen um das Feuer.’ Damit war das Thema für ihn beendet. Und jedes Mal, wenn ich wieder von gemeinsamen Aktivitäten außer Haus anfing, zum Beispiel meine Eltern zu besuchen, kam die Antwort: ‚Ich treffe meine Leute und du kannst deine Leute besuchen. Was soll daran nicht gut sein?’“

Rose nimmt ihre Freundin mitfühlend in den Arm. „Mir wird langsam kalt“; sagt sie fröstelnd, „wollen wir nicht irgendwo in der Nähe Kaffee trinken, oder“, sie stupst Tina lachend mit dem Ellenbogen an, „oder sollten wir vielleicht besser einen Punsch …?“ Tina grinst. „Oder auch zwei?“ Zielstrebig steuern sie ein kleines Café an der Flussseite an.

Sie nehmen am Fenster Platz und schauen entspannt auf die zinnfarbene Elbe, von der gemächlich herbstliche Nebelschleier aufsteigen. Die Gartenstühle und Tische draußen auf der Terrasse glänzen vor Nässe im wässrigen Abendlicht. „Diese Aussicht ist bei jedem Wetter schön, irgendwie beruhigend“, sagt Rose nachdenklich.

„Stimmt“, ist die einsilbige Antwort. Nach einem Kaffee sind die beiden mittlerweile bei ihrem dritten Punsch angelangt.

„Weißt du Tina, dein Problem ist, dass du ihn immer noch liebst“.

„Nein, nein, das tue ich nicht“, weist Tina empört zurück. Rose überhört den Protest geflissentlich und fährt unbeirrt fort:

„Aber wie erklärst du dir sonst, dass deine Gedanken ständig um Malik kreisen; mich stört ja auch nicht, dass es liebevolle Gedanken sind, aber du scheinst im wahrsten Sinne des Wortes noch von ihm ‚besetzt’ zu sein. Wenn er dir egal wäre, würdest du keinen müden Gedanken an ihn verschwenden und endlich einen deiner Bewunderer erhören und wieder am Leben teilnehmen.“

Tina nimmt einen großen Schluck von ihrem Punsch und betrachtet dann eingehend die Finger ihrer linken Hand. Rose wartet. Endlich entschließt Tina sich zu einer Erklärung. „Es ist nur wegen des Kindes“, „ach quatsch“ fällt Rose ihr ins Wort, „lass dir etwas Besseres einfallen.“

„Also gut, wahrscheinlich hast du recht.“ Tinas Augen beginnen verdächtig zu glitzern.

„Na klar habe ich recht, und nun? Warum klammerst du noch?“

„Ich, ich suche nach Antworten. Ich frage mich die ganze Zeit, wie es soweit kommen konnte, dass wir uns scheiden lassen haben.“

„Ihr habt euch doch in beiderseitigem Einverständnis getrennt. Ihr werdet beide eure Gründe gehabt haben. Willst du ihn etwa wieder zurück?“

„Er fehlt mir so.“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage, Tina.“

„Ja, also, ich wäre schon gerne wieder mit ihm zusammen, aber er hat sich kein bisschen geändert und dann hätten wir wieder dasselbe Theater wie vorher.“

„Hast du dich denn geändert?“

„Nein, was sollte ich denn ändern?“

Rose klatscht sich die gespreizte Handfläche an die Stirn und stöhnt: „Das kann doch nicht wahr sein. Du mit deinen Erwartungen, festen Vorstellungen und unrealistischen Träumen meinst, du musst nichts ändern? Ich gebe dir den guten Rat: lass ihn in Ruhe.“ Sie lehnt sich laut ausatmend zurück.

„Was erwartest du von mir?“, fragt Tina mit hochrotem Kopf, „dass ich die Schuld für das Scheitern unserer Ehe ganz alleine auf mich nehme?“

„Nein, nur die Hälfte.“

„Aber was soll ich denn falsch gemacht haben? Ich habe alles für ihn getan.“

„Oh Tina, das ist es ja gerade! Du hast ihm jegliche Verantwortung für die Familie aus der Hand genommen, weil du alles besser kannst. Warum habt ihr überhaupt geheiratet, wenn du kein Vertrauen zu ihm hattest?“

„Aber er war doch fremd hier, ich musste ihm doch helfen.“

„Ja, am Anfang vielleicht, aber du hast damit nicht aufgehört. Du wolltest immer alles selber machen, weil er nicht sauber genug, nicht schnell genug, nicht billig genug, einfach nicht gut genug für dich war.“

„Jetzt bist du aber ungerecht. Ich habe ihn sogar manchmal kochen lassen“, und ärgerlich fügt sie hinzu: „auch wenn die ganze Küche hinterher vom verspritzten Palmöl glänzte und ich sofort wischen musste, um zu verhindern, dass einer von uns noch auf dem Fettfilm ausrutscht.“

„So wie ich dich kenne, hast du ihm das bestimmt auch unter die Nase gerieben.“

„Das brauchte ich gar nicht. Er hatte wohl selber eingesehen, dass mein fettarmes Essen gesünder ist und nicht die ganze Küche verschmiert. Außerdem isst er oft in der Betriebskantine.“

„Wenn du meinst“, Rose zieht skeptisch den rechten Mundwinkel ein und lächelt leicht maliziös.

„Was willst du damit sagen?“

„Oh, nur, dass ich deinen ‚Ex’ mittags oft auf dem Weg zu Freunden getroffen habe.“

„Soll das heißen, er hat gar nicht … er hat nur nicht mein Essen … er hat mich die ganze Zeit belogen und du hast es gewusst?“

„Typisch, du schreist gleich wieder Betrug, anstatt die Bedrängnis zu sehen, in der dein Mann sich befunden hat, nur, um dich nicht zu verletzen. Mensch Tina, wach auf! Als du Malik kennengelernt hattest, war er kein neugeborenes Baby, das du nach deinem Willen formen konntest.“

Das saß. Kreidebleich erhebt Tina sich, schnappt ihre Jacke und blafft Rose an: „Vielen Dank für die Aufmunterung“, und Rose, auch nicht auf den Mund gefallen, kontert: „Wenn’s denn wenigstens was gebracht hat“, und zündet sich seelenruhig eine Zigarette an.

Bei einem vierten Punsch versucht sie, leicht berauscht vom Alkohol, der Frage, ob man Freundinnen um jeden Preis die Wahrheit sagen sollte, analytisch auf den Grund zu gehen. ‚Vielleicht sollte ich bei allen Freundinnen eine Meinungsumfrage veranstalten. Danach wüsste ich wenigstens von Fall zu Fall, wie ich mich zu verhalten hätte.’

Das ist die einzige verwertbare Schlussfolgerung, zu der sie nach all dem Punsch noch in der Lage ist, und, dass sie wieder die Dumme ist.

Der Nachmittag in der afrikanischen Enklave ist im Gegensatz zu Tinas recht harmonisch und befriedigend verlaufen. Nachdem alle anfallenden Arbeiten verteilt waren, kümmerten sich Amadou und Sekou gut gelaunt um das Essen, Toucou bügelte für alle, Ibrahim kümmerte sich um die Wäsche und Malik räumte mit seinem Sohn das Wohnzimmer auf. Ein Sonntag wie jeder andere auch, nur mit dem Unterschied, dass dieses Mal Driss dabei war.

Später, beim gemeinsamen Essen aus der großen Emailschüssel, legten sie dem Jungen fürsorglich die knochenlosen Stücke Fleisch auf seine Seite und Driss genoss es, von seinem Vater beachtet zu werden. Es hat ihn noch nie gestört, dass er sich wie alle anderen der Gemeinschaft unterzuordnen hat, obwohl Tina, seine Mutter, das alles ganz anders sieht.

„Und? Was habt ihr Schönes unternommen?“, ist denn auch zuckersüß die rein rhetorische Frage, als Malik den Jungen abends pünktlich abliefert.

„Mama, wann darf ich wieder zu Papa?“, quengelt Drissi müde. Er bleibt unbeachtet.

Malik schaut Tina ärgerlich an. „Dem Jungen geht es gut, reicht das nicht? Muss er ständig im Mittelpunkt stehen? Schlimm genug, dass sich bei dir alles um ihn dreht. Merkst du gar nicht, dass du ihn damit zu einem egoistischen Einzelgänger erziehst?“ Er hebt Idrissa hoch und drückt ihn fest an sich. „Bis bald, Chef“. Als er ihn wieder herunterlässt, sagt er mit ernstem Gesichtsausdruck zu seiner ‚Ex’: „Du verwöhnst das Kind. In eurer Kultur ist das ja üblich, aber irgendwie gibt es mir zu denken, dass ihr mit euren Kindern überhaupt nicht klarkommt.“

Tina ist kurz davor, in Tränen auszubrechen. Da ist sie wieder, die ‚deine und meine Kulturmauer’, die sie trennt und eine Kommunikation fast unmöglich macht.

„Kommst du noch mit rein?“

„Nein, ich habe morgen Frühdienst, ein andermal.“ Weg ist er. ‚Sie sieht schlecht aus’, denkt Malik auf dem Weg zum Auto besorgt, ‚was hat sie nur?’ Er nimmt sich vor, nächstes Mal zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Schließlich hatten sie sich bei der Trennung versprochen, sich gegenseitig zu helfen und wegen des Kindes einen guten Kontakt zu halten. Bisher hatte das auch ganz gut geklappt, solange sie nicht über ihre vergangene Beziehung sprachen. ‚Warum muss sie immer wieder die alten Probleme hervorkramen?’

Selbst seine guten Gefühle für Tina hat er rigoros ganz tief in seinem Inneren verplombt und versiegelt, wie atomaren Giftmüll; den er vernünftigerweise lieber nicht mehr anrührt. Es ist besser so.

Zu Hause empfängt Malik eine ungewohnte Stille. Nur Toucou hängt lustlos vor dem Fernseher. Auf Maliks fragenden Blick bekommt er die unwirsche Erwiderung: „Amadou und Ibrahim sind bei ihren Tussis.“

„Und Sekou?“

„Der wohl auch, aber er hat nichts gesagt.“ Malik grinst und klopft ihm besänftigend auf die Schulter.

„Ist doch gut; vielleicht zieht dann bald einer aus und wir haben die Wohnung wieder für uns; eine finanzielle Entlastung wäre es auch.“

Dieser Stimmungsaufheller geht Toucou runter wie Sahne. Dankbar schaut er Malik an und spürt wieder einmal, dass sein langjähriger Kumpel genau weiß, was in ihm vorgeht. Meistens schafft er es auch, seine Laune zu verbessern, so wie jetzt. Tja, Malik ist schon immer der Schlauere von ihnen beiden gewesen und Toucou hat das nicht nur akzeptiert, sondern dankbar angenommen.

Sie schauen sich noch eine Nachrichtensendung im Fernsehen an und gehen dann früh zu Bett.

ZUGVOGEL

Подняться наверх