Читать книгу Die Blume des kleinen Prinzen - Karel Szesny - Страница 3
1. Eine merkwürdige Autopanne
ОглавлениеEs passierte, als ich wie gewöhnlich beruflich mit dem Auto unterwegs war. Und natürlich war ich wie immer in Eile. Um Zeit zu sparen, bog ich in eine schmale Landstraße ein, die ich vorher noch nie benutzt hatte. Doch leider erwies sie sich nicht als die erhoffte Abkürzung. Der Weg schlängelte sich endlos zwischen Wäldern, Wiesen und Feldern entlang. Mit zunehmender Entfernung von der Hauptstraße wurde er obendrein immer schadhafter. Weil ich viele Mulden durchqueren und Schlaglöchern ausweichen musste, kam ich nur langsam voran. Irgendwann begann ich zu ahnen, dass ich mich gründlich verfahren hatte. Ich wollte schon umkehren, da setzte plötzlich ganz aus heiterem Himmel der Motor aus.
Nanu!
Ich ließ den Wagen ausrollen und versuchte, ihn erneut zu starten. Der Anlasser jaulte wie ein Hund, der sich den Schwanz eingeklemmt hat. Der Motor wollte aber nicht wieder anspringen. Nichts zu machen.
Merkwürdig.
Ich besitze dieses Auto bereits seit dreizehn Jahren, seit ich es von meinem Großonkel Alfons geschenkt bekam, der es nicht mehr selber fahren wollte, nachdem er sich im Alter von 91 Jahren einer Augenoperation unterziehen musste, die nicht das erhoffte Ergebnis erbracht hatte. Da war das Auto schon ungefähr siebzehn Jahre alt gewesen und es war stets die Zuverlässigkeit selbst. Und wenn doch mal eine Reparatur anstand, kündigte es deren unausweichliche Notwendigkeit lange vorher durch ein deutlich hörbares Rasseln, Klappern oder Schleifen an. Dieses Auto hatte jedenfalls noch nie so unvermittelt seinen Dienst verweigert. Wirklich höchst merkwürdig.
Verflucht! Ausgerechnet jetzt musste das passieren, wo ich einen so wichtigen Termin hatte! So etwas ist natürlich alles andere als erfreulich, noch dazu auf einer derart abgelegenen Straße. Oh, dieses verdammte Auto! Diese blöde Klapperkiste!
Na schön.
Da stand ich nun am Rande eines erntereifen Kornfeldes, dessen Größe ich nicht überblicken konnte, weil es bis weit über den hügeligen Horizont hinausreichte. Ich öffnete die Motorhaube. Ratlos betrachtete ich die komplizierte Maschine, die auf einmal nicht mehr laufen wollte. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Anscheinend kam hier nur selten jemand vorbei, denn während der Fahrt auf dieser holprigen Piste war mir kein einziges Auto begegnet. Seufzend griff ich nach meinem Handy und tippte die Nummer der Auskunft ein, um mich nach dem nächsten Reparaturdienst zu erkundigen, doch - Auch das noch! Kein Empfang. Ich ballte die Fäuste und brüllte ein Wort, das ich jetzt nicht unbedingt wiederholen möchte.
Allmählich sah ich ein, dass es nichts nützen würde, noch länger untätig vor dem defekten Fahrzeug zu stehen und irgendwelche Worte zu brüllen. Also krempelte ich mir die Ärmel hoch und kramte das Werkzeug hervor. Weil ich irgendwann einmal gehört hatte, dass es in solchen Fällen ratsam sei, erst einmal die Zündkerzen zu reinigen, begann ich unverzüglich mit dieser schmutzigen Arbeit. Ich hatte meinen allerbesten Anzug an. Darum musste ich mich außerordentlich vorsehen. Das Jackett konnte ich natürlich ablegen, aber die Hose…
Tief über den Motor gebeugt mühte ich mich, die erste Zündkerze herauszuschrauben. Das Gewinde klemmte. Es war anstrengend. Ich stöhnte laut und fluchte ziemlich unanständig. Da hörte ich auf einmal dicht hinter mir eine Kinderstimme: „Hallo, guten Tag. Schön dass ich Sie hier treffe.“
Es ist wohl verständlich, dass ich tüchtig erschrak. Ich war ja der festen Überzeugung gewesen, dass ich hier der einzige Mensch auf weiter Flur wäre. Vor lauter Schreck richtete ich mich so abrupt auf, dass ich mit dem Kopf an die hochgeklappte Motorhaube bumste. Es klang fast wie ein Glockenschlag. Ich dürfte gewiss keinen besonders netten Eindruck gemacht haben, als ich mich mit meinem schmerzverkniffenen Gesicht umwandte. Vor mir stand ein Mädchen, das einen auffälligen, silberglänzenden Stirnreif trug.
„Wie kommst du denn hierher?“
„Verzeihung“, sagte sie. „Tut es sehr weh?“
Ich rieb mir mit dem Handrücken den Kopf.
„Schon gut“, winkte ich ab, obwohl es eigentlich noch ganz schön zwiebelte. „Kannst du mir sagen, wie weit es bis zur nächsten Ortschaft ist?“
„Oh, das ist weit“, antwortete sie.
„Das hätte ich mir ja wohl selber denken können“, knurrte ich misslaunig. „Mich interessiert nicht, dass es weit ist, sondern wie weit es ist. Ich will wissen, ob es sich lohnen würde, loszugehen und Hilfe zu holen.“
Die Kleine sah mich mit großen, dunkelblauen Augen an.
„Es ist sehr weit“, erwiderte sie. Und weil sie wohl bemerkte, dass mich auch diese Auskunft nicht zufriedenstellte, ergänzte sie: „Wirklich sehr, sehr weit.“
Ich wandte mich ab und verdrehte seufzend die Augen gen Himmel.
„Verzeihung“, sprach sie weiter, während ich mich erneut über den Motor beugte. „Ich muss Sie unbedingt etwas fragen: Erinnern Sie sich eigentlich noch an die Geschichten aus Ihrer Kindheit?“
„Was?“, krächzte ich. So etwas hatte mir gerade noch gefehlt! Ziemlich ungehalten wandte ich mich ihr erneut zu.
„Du erwartest doch nicht etwa, dass ich mich jetzt hier gemütlich hinsetze und dir eine Geschichte erzähle? Siehst du denn nicht, dass ich eine Panne habe? Und außerdem hab’ ich’s eilig.“
„Aber es ist wichtig!“, rief sie plötzlich mit einer so eindringlich lauten Stimme, dass ich sogar ein wenig zusammenzuckte. Beeindruckt starrte ich sie an. Das Antennenstäbchen vorn auf ihrem Stirnreif zitterte. Langsam verwehte die kleine Staubwolke, die sich eben beim Aufstampfen ihres Fußes erhoben hatte. Nun erst bemerkte ich, dass das Mädchen von einem merkwürdigen Schimmer umgeben war, der von ihrem blonden Haar und dem orangeroten Kleid auszugehen schien. Bei genauem Hinsehen erkannte ich, dass dieser Schimmer von winzigen Körnchen herrührte, die sich in Haar und Stoff verfangen hatten. Ein wenig glitzerte es auch auf ihrer Haut. Und auf den Wimpern und in den Augenwinkeln sah es besonders schön aus. – Da wusste ich aber noch nicht, dass es sich dabei um echten Sternenstaub handelte.
„Also, erinnern Sie sich an diese Geschichten?“, fragte sie mit einigem Nachdruck. Ihr ernster Blick machte mir begreiflich, dass ihr meine Antwort tatsächlich äußerst wichtig war.
„Kindergeschichten?“, fragte ich zurück, um erst einmal Zeit zu gewinnen und mich zu sammeln. Schließlich war ich eine Minute zuvor noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt gewesen. Unsicher tastete ich nach der schmerzenden Stelle auf meinem Schädel, wo sich eine Beule zu bilden begann.
„Ja, aber wozu…?“, stammelte ich. „Wozu willst du das wissen?“
„Ich habe diesen Auftrag vom uralten Schnitzer bekommen“, antwortete sie.
„Was für ein uralter Schnitzer?“, fragte ich schroff. „Ich kenne überhaupt keinen Schnitzer.“
„Das ist nicht so einfach zu erklären“, erwiderte das Mädchen. „Aber Sie werden es erfahren, wenn Sie der Richtige sind.“
„Wenn ich der Richtige bin?“, wiederholte ich.
„Ja, der Richtige“, bestätigte sie, „ich meine, wenn Sie derjenige sind, den ich suche.“
Da lachte ich laut auf, obwohl mir eigentlich gar nicht danach zumute war. Es war ein bitteres Lachen.
„Na, in mir wirst du ganz bestimmt den Richtigen gefunden haben“, spottete ich, „wo ich im Moment so richtig zum Geschichtenerzählen aufgelegt bin. Allerdings brauche ich jetzt keinen Schnitzer, sondern einen Schlosser.“
Sodann tauchte ich wieder unter die Motorhaube und setzte den Kerzenschlüssel an, um dem Mädchen damit zu zeigen, dass ich das Gespräch für beendet hielt. Nun war ich aber doch ein wenig amüsiert über diese absurde Situation.
„Kindergeschichten!“, lamentierte ich, während ich angestrengt werkelte. „Wenn ich so drüber nachdenke, kommen mir schon einige in den Sinn. Jetzt, wo ich es so eilig habe, wünsche ich mir, fliegen zu können wie zum Beispiel Peter Pan oder wie der kleine Häwelmann mit seinem Bett. Oder man müsste einen fliegenden Teppich haben, wie Aladin. Oder es wäre auch toll, wenn jetzt Fuchur aus den Wolken käme, der Drache aus der unendlichen Geschichte. Ich würde meinetwegen sogar mit den Wildgänsen reisen wie Nils Holgersson oder mich einfach in einen Storch verwandeln wie dieser morgenländische Kalif aus dem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Dann bräuchte ich mich nicht mit dieser Schrottkiste herumzuplagen.“
„Und diese Geschichten kennen Sie alle?“, hörte ich die Stimme des Mädchens hinter mir. Weil sie auf einmal so erfreut klang, blickte ich mich um.
„Natürlich“, versicherte ich. „Meine Nase soll so lang werden wie die von Pinocchio, wenn ich sie nicht alle mindestens fünf bis zehn Mal gelesen habe. Das war nämlich früher meine allerliebste Beschäftigung.“
„Und welche kennen Sie noch?“, wollte das Mädchen wissen, das einen Schritt nähergetreten war.
„Du meine Güte, das würde viel zu weit führen, wenn ich die alle aufzählen würde“, lenkte ich ab, denn die Zeit saß mir mächtig im Nacken. Doch das Mädchen ließ nicht locker.
„Dann kennen Sie auch… die Schatzinsel?“
„Aber sicher.“
„So?“, zweifelte sie. Anscheinend wollte sie mich auf die Probe stellen, denn sie fragte: „Wie hieß denn der Junge, der die Landkarte der Insel gefunden hatte?“
„Jim Hawkins“, antwortete ich. „Und die Karte stammte aus der Seemannskiste eines gewissen William Bones.“
„Und auf welchem Schiff ist Jim Hawkins als Schiffsjunge…?“, wollte sie fragen. Da kam meine Antwort schon wie aus der Pistole geschossen: „Es war die HISPANIOLA unter dem Kommando des Kapitäns Smollett.“
Die Fragerei ging weiter und hätte mir unter anderen Umständen richtig Spaß machen können.
„Was wollte Peter Pan niemals werden?“
„Erwachsen.“
„Welches Tier führte Alice ins Wunderland?“
„Ein weißes Kaninchen.“
„Wer hatte ein paar Zauberpantoffeln, mit denen er unheimlich schnell rennen konnte?“
„Der kleine Muck natürlich.“
„Was tauschte der Köhler Peter gegen sein Herz ein?“
„Der Holländer Michel gab ihm einen Stein dafür.“
„Und wie lautet Pippi Langstrumpfs vollständiger Name?“
Mit dieser Frage wollte mich die Kleine wohl hereinlegen, doch ich sprudelte ohne zu zögern hervor: „Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf.“
„Und kennen Sie auch die Geschichte von diesem Flieger, der in der Wüste notgelandet war?“
„Der kleine Prinz“, sagte ich.
„Der kleine Prinz“, fuhr das Mädchen fort, „hatte den Flieger gebeten, ihm etwas zu zeichnen. Stimmt’s?“
Ich nickte. „Ein Schaf. Er wollte ein Schaf gezeichnet haben.“
Das Mädchen fragte weiter: „Und wie hat der Flieger ihm den Wunsch erfüllt?“
„Er hat einfach eine…“, wollte ich antworten, doch das Mädchen schnitt mir mit einer heftigen Geste das Wort ab: „Oh, sagen Sie es nicht!“
Sie streckte mir einen Zettel und einen Bleistift entgegen.
„Zeichnen Sie es auf!“
„Ich kann nicht zeichnen“, wehrte ich ab. „Und außerdem …“
„Bitte“, sagte sie und sah mich dabei mit ihren tiefblauen Augen so flehentlich an, dass ich einfach nicht widerstehen konnte. Also säuberte ich mir die Finger notdürftig an einem Lappen und kritzelte eine Kiste mit drei Luftlöchern aufs Papier.
„Das Schaf war nämlich in der Kiste drin“, erklärte ich, als ich ihr die Zeichnung reichte.
Sichtlich zufrieden betrachtete sie mein Werk. Ich war jetzt sogar ein bisschen stolz, dass ich die Schafskiste einigermaßen hingekriegt hatte. Und ich war froh, mich noch so gut an die Geschichten zu erinnern, die ich als Junge gelesen hatte. Ich hätte nie gedacht, dass dies einmal von so enormer Bedeutung sein könnte, wie sich noch zeigen wird. Die Kleine faltete das Blatt zusammen, wobei sie Obacht gab, dass die Kiste keinen Knick bekam, und verwahrte es sorgsam in einer Tasche ihres orangeroten Kleides.
„Sie kennen die Geschichte also tatsächlich“, stellte sie befriedigt fest.
„Aber ja“, bestätigte ich.
„Dann wissen Sie auch, dass der kleine Prinz am Ende verschwunden ist.“
Ich machte eine unbestimmte Geste. Verstohlen sah ich auf die Uhr. Ich hatte schon viel zu viel Zeit verloren.
„Aber was…?“, fragte sie, als ich den Kerzenschlüssel erneut ansetzte. „Was glauben Sie, was mit ihm passiert ist?“
Ich hielt kurz inne, denn ich kannte ja die traurige Wahrheit. Doch irgendetwas hielt mich zurück, sie auszusprechen. Darum erwiderte ich ausweichend: „Wollte er denn nicht zurück auf seinen Heimatplaneten? Bestimmt ist er jetzt dort, zu Hause bei seiner Blume.“
„Das wollte er“, sagte sie bekümmert. „Aber er ist nie wieder dorthin zurückgekehrt.“
Während ich die Zündkerze herausschraubte, fragte ich über die Schulter hinweg: „Woher willst du das eigentlich so genau wissen?“
Da antwortete das Mädchen: „Ich weiß es, weil ich dort gewesen bin.“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis diese Worte in meinem Bewusstsein anlangten. Ich richtete mich auf und sah das Mädchen prüfend an.
„Sag mal, hab ich das jetzt richtig verstanden!?“
Da hat man also eine Autopanne und ist gerade mit dem Herausschrauben von Zündkerzen beschäftigt, und es kommt jemand daher, der einem erzählt, er sei schon einmal auf einem anderen Planeten gewesen. Natürlich sollte man zu allererst dessen Glaubwürdigkeit bezweifeln, bevor man überhaupt anfängt, sich über derlei Behauptungen Gedanken zu machen. Aber in der Stimme dieses Mädchens lag etwas, das an ihren Worten einfach keinen Zweifel zuließ. Es war etwas Warmes, Weiches, Leises, etwas, das man kaum erklären kann, weil es dafür einfach keine Bezeichnung gibt. Und doch war dieses Etwas da, denn es hat mich deutlich spürbar in meinem Innersten berührt.
So kam ich an dieser abgelegenen Landstraße mit dem Mädchen Elisa ins Gespräch. Was ich im Weiteren von ihr erfuhr, erwies sich nach und nach als so unausdenkbar bedeutsam, dass ich mich nun dringend verpflichtet fühle, ihre vollständige Geschichte niederzuschreiben.
Am besten, ich beginne ganz am Anfang, nämlich an jenem Tag, als Elisa das Buch vom kleinen Prinzen ausgelesen hatte.