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2. Das Schaf, die Rose und der Maulkorb
ОглавлениеEs war still in der Stube. Nur das gemächliche Ticken der alten Wanduhr und die Maschinengeräusche der Tütensuppenfabrik waren zu hören. An dieses ständige Rasseln, Rütteln und Stampfen, das gedämpft durch die Wände drang, war Elisa inzwischen so gewöhnt, dass sie es kaum noch wahrnahm. Ihre Großmutter saß im Lehnstuhl am Fenster und schaute auf die Straße hinaus. Mit orangeroten Strahlen malte die Abendsonne das Gardinenmuster auf ihr runzliges Gesicht.
Obwohl Elisa das Buch schon seit einer Viertelstunde ausgelesen und geschlossen hatte, hielt sie es noch immer auf ihrem Schoß.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass der kleine Prinz ganz und gar spurlos im Wüstensand verschwunden ist, nachdem ihn die Schlange gebissen hatte“, sagte sie nachdenklich. „Auch der Flieger war sich da nicht sicher. Nur - wie soll das tödliche Gift es geschafft haben, ihn wieder auf seinen Planeten zu bringen?“
Die Großmutter nickte kaum merklich, ohne den Blick zu wenden, und schwieg dazu.
„Aber falls er doch dorthin zurückgekehrt ist“, fuhr Elisa fort, „dann müsste er inzwischen ein ziemliches Problem haben. - Hier steht geschrieben, dass der Flieger einen Maulkorb für das Schaf gezeichnet hat. Ja, aber den Lederriemen dazu, den hat er leider vergessen. Ein Maulkorb, den man nicht festschnallen kann, ist doch vollkommen nutzlos.“
„Es hat schon seit Wochen nicht geregnet“, murmelte die Großmutter vor sich hin. „Opa hat im Garten viel zu tun.“
Elisa überlegte weiter: „Wenn der kleine Prinz einmal nicht aufpasst und das Schaf den Maulkorb abstreift, könnte es für seine Rose sehr gefährlich werden. Oma, fressen Schafe denn überhaupt Rosen? Die haben doch Dornen.“
Da sagte die Großmutter: „Früher hatten wir einen Rosenstrauch mit über hundert Blüten hier am Haus. Aber dann wurde die Fabrik gebaut mit dieser hohen Mauer. Die nahm ihm die Sonne. Da hat Opa ihn mit in den Garten genommen und ihn dort eingepflanzt.“
„Wenn das Schaf die Blume frisst“, sorgte sich Elisa, „dann wäre das schlimm für den kleinen Prinzen. Die Blume ist das Kostbarste, was er besitzt.“
Die Großmutter lächelte versonnen und erinnerte sich: „Und dann hat Opa Setzlinge aus dem Strauch gezogen und sie den Nachbarn geschenkt. Inzwischen sind aus den hundert Rosen bestimmt schon mehr als tausend geworden.“
Elisa ging zur Großmutter hinüber, fasste ihre Hand und sprach sehr eindringlich: „Stell dir vor, Oma, der kleine Prinz ist zu dieser Giftschlange gegangen, weil die ihm versprochen hatte, ihn auf seinen Planeten zurückzubringen. Seine Sehnsucht nach dieser einen einzigen Blume war größer als seine Angst vor dem Tod.“
Die Wanduhr schlug neun Mal.
„Oh, wie spät es schon ist“, bemerkte die Großmutter. „Geh schlafen, mein Kind. Morgen kannst du Opa beim Himbeeren pflücken helfen.“
Elisa legte sich Großmutters warme Hand an die Wange.
„Hast du es denn schon wieder vergessen, Oma?“, fragte sie leise.
„Im Garten ist viel zu tun“, sagte die Großmutter mit fester Stimme, ohne ihren Blick zu wenden. „Ich warte noch. Opa kommt sicher bald nach Haus.“