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Kleider machen Leute

Wir stiegen aus dem Auto und eh ich mich versah, standen Hiro links und Sebastian rechts von mir. Das ging so schnell, als hätten sie übernatürliche Fähigkeiten. So wie dieser blasse Edward-Typ, der ja auch nonstop in Lichtgeschwindigkeit um Autos herumwirbelte. Anscheinend hatten die beiden Angst, ich würde im nächsten Moment einen Fluchtversuch starten und wegrennen. Mir war auch irgendwie nach Flucht zumute. Wenn mir eines aus der Vergangenheit mit Sebastian in Erinnerung geblieben war, dann die schrecklichen Shoppingerlebnisse mit ihm. Ich persönlich konnte langen Einkaufstouren noch nie viel abgewinnen. Aber wenn ich ein neues Kleidungsstück brauchte oder gerade Ausverkauf war, konnte man sogar mich mal an einem Wühltisch oder in einem überfüllten Einkaufscenter erwischen.

Aber mit Sebastian war es die Hölle!

Er war schlimmer als jede Frau!

Er konnte sich nie entscheiden, war mit allem unzufrieden, hatte zu hohe Ansprüche und war viel zu schnell schlecht gelaunt. Als eine Verkäuferin sich einmal tatsächlich erdreistet hatte, ihm zu sagen, dass ihm das Hemd, das er anprobiert hatte, wunderbar stand, hatte er sie vor der versammelten Belegschaft angeschrien und lautstark gefragt, ob sie noch ganz richtig im Kopf war. Im Nachhinein musste ich grinsen, wenn ich daran dachte. Das war mittlerweile bestimmt schon fünf oder sechs Jahre her. Aber ich war mir sicher, dass Sebastian sich in puncto Shopping garantiert kein bisschen geändert hatte.

»Ey, aber ich hab nicht allzu lange Zeit. Ich hab noch ‚nen Termin. Da darf ich echt nicht zu spät kommen! Also entscheide dich schnell für einen Anzug. Kann ja nicht so schwer sein. Hose, Hemd, Sakko. Fertig!«

»Du hast leicht reden. Meinst du, das ist der erste Laden, in dem wir was Passendes suchen?« Hiroki schielte mich mit einer kritisch hochgezogenen Augenbraue von der Seite an. Er hatte einen leicht genervten Unterton in der Stimme.

»Was? In wie vielen Läden wart ihr denn schon?«

»Das ist der Fünfte.«

»Der Fünfte?«, schrie ich schockiert.

»Nicht jeder hat das Glück, gleich im ersten Laden das Richtige zu finden«, gab Sebastian etwas bissig zurück.

»Du hättest ja den Gleichen nehmen können. Aber das wolltest du ja auch nicht.«

»Wer Partnerlook trägt, hat auch auf Facebook ein Partnerprofil. Das geht gar nicht.«

»Ich glaube ja, dass er gar nicht weiß, was er anziehen möchte«, sagte Hiro zu mir und zeigte dabei mit dem Daumen auf seinen zukünftigen Gatten, der beleidigt seine Unterlippe nach vorne schob und uns finster anschaute.

»Aber wenn ich es sehe, dann weiß ich es!«

»Wir finden schon was, denn ich bin die perfekte Beratung, wenn‘s um Mode geht!« Mein ironischer Unterton war kaum zu überhören. Sebastian musterte mein Erscheinungsbild und atmete resignierend aus. Dabei sah ich heute ganz präsentabel aus ... Das dachte ich zumindest.

»Oh Mann, da hab ich ja eine tolle Begleitung. Zum einen ein Mädel, das tatsächlich der Meinung ist, dass diese Schuhe gut aussehen«, er zeigte auf meine Boots und zog dabei eine Augenbraue hoch, »und zum anderen einen ignoranten Kerl, dem es vollkommen egal ist, ob ich etwas zum Anziehen habe oder nicht.«

Hiro umrundete mich und legte einen Arm um die Taille seines Verlobten. Dann gab er ihm einen Kuss auf die Schläfe und ließ seinen Kopf auf Sebastians Schulter nieder.

»Mir gefällt doch alles an dir, das ist die rosarote Brille«, sagte er zu Sebastian und küsste ihn ein weiteres Mal. Das war so ungewohnt süß von Hiro, dass ich beschämt wegschaute. Auch Sebastian bekam rote Wangen.

Die beiden schafften es tatsächlich, mich etwas neidisch zu machen, auch wenn ich ihnen ihr Glück wirklich von Herzen gönnte.

Begleitet von dem schrillen Läuten der Türklingel betraten wir einen pikfeinen Laden. Überall sah ich Anzüge und Kleider in allen Formen und Farben. Drei Stockwerke voller Seide, Leinen, Rüschen, Glitzer, Pailletten und noch so einigem mehr. Da wurde einem ja schwindelig.

Hiro und Sebastian ließen sich ausführlich von einem Verkäufer mit schütterem Haar beraten und da ich mich, um ehrlich zu sein, mit Anzügen, Schnitten und Stoffen eh nicht auskannte, ging ich zu den bunten Kleidern, die etwas weiter hinten aufgereiht waren. Dann stand ich ihnen auch nicht im Weg.

Mir fiel sofort ein grünes Cocktailkleid ins Auge. Ich mochte die Farbe. Es leuchtete angenehm und der Schnitt sah gleichzeitig elegant, aber auch verspielt und etwas frech aus. Schwarze Spitze an Ärmeln und Dekolleté ließen das Kleid ein klein wenig verrucht wirken. Nicht allzu brav. Das würde eh nicht zu mir passen. Ich musste grinsen. Vielleicht sollte ich das Kleid ja mal anprobieren? Immerhin würde ich ebenfalls ein Outfit für die Trauung brauchen. Sebastian würde ausrasten, wenn ich seine Hochzeitsfotos mit meinem alten, grauen Hosenanzug verschandelte.

Am besten wäre es wohl, wenn ich nächste Woche noch mal herkommen würde. Heute sollte ich mich auf Sebastian konzentrieren, bevor er ausrasten und wild mit Krawatten um sich werfen würde. Ich hing das Kleid wieder zurück, strich noch mal mit Fingerspitzen den zarten Stoff entlang und ließ meinen Blick dann weiter die Kleiderstange entlangwandern.

Im Hintergrund hörte ich die Glocke der Ladentür läuten, war aber gerade zu sehr damit beschäftigt, ein pinkfarbenes Monstrum aus mehreren Lagen Tüll zu begutachten. Ich hielt das Teil vor mich und betrachtete mich belustigt im Spiegel.

»Sebastian, schau mal, das ist krass lächerlich«, gab ich lachend von mir, drehte mich um und stand plötzlich vor Jan.

Ich erschrak so sehr, dass ich mich verschluckte und wild hustete.

»Alles okay?« Jan klopfte mir etwas unbeholfen auf den Rücken und ich wich automatisch einen Schritt zurück. Den pinken Tüll hielt ich schützend zwischen uns. Er durfte mich nicht berühren, denn wenn er das tat, keimten Gefühle in mir auf, die ich schon längst tot geglaubt hatte.

Weg damit. Ich wollte diese Gefühle nicht.

»Pink ist nicht so deine Farbe, finde ich«, sagte Jan und dachte wohl, er sei lustig. Fehlanzeige. Ich schaute ihn böse an und hing das Kleid schweigend wieder zurück an die Stange. Er winkte ab. »Na ja, aber ich hab ja auch keine Ahnung.«

»Stimmt. Außerdem geht‘s heute nicht um mich, sondern um Sebastian. Also sollten wir mal schauen, dass er nicht vor lauter Verzweiflung noch Hiro tötet.«

Ich versuchte, schnell von mir abzulenken, und, soweit es eben ging, normal mit Jan umzugehen. Nach der Aktion in der Bibliothek war das leichter gesagt als getan. Aber verdammt, wir waren nun mal beide Trauzeugen. Ignorieren ging da nicht. Wir würden wohl oder übel miteinander auskommen müssen. Irgendwie.

Ich sah Sebastian mit einem dunkelblauen Bündel in der Umkleidekabine verschwinden. Hiro schob den Vorhang einige Zentimeter auf die Seite und streckte seinen Kopf hinein. Man hörte Sebastian leise fluchen und Hiro kicherte. Mit den beiden unterwegs zu sein war ein wenig wie eine Comedyshow anzuschauen.

Jan stand neben mir und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er grinste und zeigte dabei lustige Lachfältchen um die Augen.

Lachfältchen.

Jan hatte in den letzten Jahren tatsächlich Falten bekommen. Wir wurden nun mal alle nicht jünger. Leider konnte ich nur wenig Schadenfreude verspüren, da ihn das irgendwie noch viel anziehender machte. Der Typ hatte den Zenit des guten Aussehens noch nicht erreicht. Er würde irgendwann mit grauen Schläfen und netten Fältchen um Mund und Augen immer noch richtig sexy aussehen. George Clooney wurde schließlich auch von Jahr zu Jahr heißer.

»Sag mal, was war das eigentlich? Das in der Bibliothek ...«

Ich ignorierte seine Frage und schaute einfach weiter auf Hiros Rücken. Mein Herz hatte kurz ausgesetzt und mir war schlecht. Ich presste meine Hände auf meinen schmerzenden Magen und hoffte, dass die Übelkeit schnell vergehen würde. Was sollte ich denn bitteschön dazu sagen? Zum Glück kam in diesem Moment Sebastian aus der Umkleide und drehte sich vor einem Spiegel. Er posierte, lief einen Schritt zurück, betrachtete sich von hinten und seufzte dann theatralisch.

»Die Hose ist zu lang«, nörgelte er in Hiros Richtung, woraufhin sich der bemühte Verkäufer mit zahlreichen Nadeln im Mundwinkel vor ihn hinkniete und die Hosenbeine umschlug.

»Hiro, wie findest du die Farbe?«

»Eigentlich ganz ...«

»Ich weiß ja nicht.« Er drehte sich noch mal um die eigene Achse und begutachtete sich wieder kritisch. »Also mein Hintern kann durchaus besser aussehen.«

Hiro schaute sich hilfesuchend nach uns um.

»Ich finde, du hast ‚nen geilen Arsch in der Hose«, rief ich daraufhin Sebastian zu und pfiff zwischen den Zähnen.

»Meinst du?« Er machte große, hoffnungsvolle Augen. »Nein, warte. Bringen Sie mir den bitte in Anthrazit?«

Sebastian verschwand wieder in der Kabine und nachdem der Verkäufer den Laden einmal auf den Kopf gestellt hatte, reichte er ihm diverse Kleidungsstücke hinein.

Dieses Schauspiel wiederholte sich einige Male. Hiro war genervt und die Glatze des Verkäufers glänzte vor Schweiß.

»Sag schon, woher kennst du Pablo?« Jan wollte es einfach nicht auf sich beruhen lassen. Ich konnte ein kleines verzweifeltes Grinsen nicht verbergen. Das war so lächerlich.

»Ist egal, Jan.«

»Nein. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass es nicht egal ist.«

Ich schwieg.

Jan ging einen Schritt auf mich zu und stand nun direkt von mir. Er schaute mich genau an. Blickte mir tief in die Augen und legte seinen Kopf etwas schräg. Für einen kurzen Moment blieb die Welt stehen und mein Puls beschleunigte sich.

»Sag‘s mir!«, raunte er leise. Ich spürte seinen Atem in meinem Gesicht.

»Woher kennst du ihn?«, konterte ich mit einer Gegenfrage. Denn das war es, was mich wirklich interessierte. Zu Schulzeiten hatten sich die beiden nie gesehen, dessen war ich mir sicher.

»Er ist Fernandas Bruder.«

Mein Mund stand vor Schock weit offen. Ich starrte Jan vollkommen fassungslos an.

»Das ist nicht dein Ernst?« Ich lachte hysterisch und schüttelte immer wieder den Kopf. »Ihr Bruder«, flüsterte ich wie zu mir selbst und fuhr mir durch die Haare. Was hatte das zu bedeuten? Das konnte doch kein Zufall sein.

»Was, Nora, was?«

»Das ist verrückt!«

»Was ist verrückt? Woher kennst du ihn? Er hat dich nie erwähnt.«

»Warum sollte er auch?« Warum sollte er nur einen Gedanken an mich verschwenden? Ich war aus seinem Leben verschwunden, genau wie Jan aus meinem. Nur warum konnte Pablo mich so einfach vergessen und ich mit Jan nicht abschließen?

Ich weiß noch, dass mich Pablo auch nach der Abi-Party noch ein paarmal angesprochen hatte. Aber ich muss auch gestehen, dass meine Erinnerungen sehr verschwommen sind. Ich bewegte mich wie in einem Nebel durch die Tage. War nicht Herrin meiner Sinne und stand wohl immer noch etwas unter Schock. Als wir zwei Monate später unsere Abizeugnisse überreicht bekamen, gratulierte mir Pablo. Ich hatte gar nicht darauf reagiert. Nicht mal einen Blick schenkte ich ihm. Ich packte alles in meine Schultasche, warf sie mir über die Schulter und verließ das Gebäude, ohne mich auch nur einmal umzuschauen. Und nun war es Jan, der mich über Pablo ausfragte.

Ich wollte mich wegdrehen und das Gespräch damit beenden. Aber Jan hielt mich an der Schulter fest. Ich schlug seine Hand weg. Als ich seinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, tat mir meine Brutalität leid und ich hob entschuldigend beide Hände. Was machte ich hier eigentlich?

Ich musste weg, sonst würde die Situation hier noch aus dem Ruder laufen.

»Sebastian, Hiro, ich muss gehen. Es ist schon spät.«

Sebastians Kopf kam aus der Kabine geschossen, der Vorhang verdeckte den Rest seines Körpers.

»Schon?«

»Ja, ich muss mich vor dem Vorstellungsgespräch noch umziehen.«

»Ja, das solltest du. Zieh dir mal was Schickes an. Die dunkelblaue Bluse in der obersten Schublade.«

»Woher kennst du den Inhalt meiner ... ach, was soll‘s. Bis heute Abend. Und noch viel Erfolg!«

»Dir auch!«, rief Sebastian.

Ich winkte Jan kurz zum Abschied zu und verließ den Laden.

Das Vorstellungsgespräch in einer großen Werbeagentur lief ganz gut. Ich hatte mich zu Hause in eine enge schwarze Jeans geschmissen und ein hübsches Oberteil angezogen. Die von Sebastian angepriesene blaue Bluse hatte ich tatsächlich gefunden, kam mir damit aber irgendwie wie verkleidet vor. Wir waren doch alle junge Kreative. Da musste man nicht im Kostüm erscheinen, dachte ich mir. Und ich behielt Recht. Ich wurde in einen kleinen Raum geführt, in dem nichts außer einem Tisch mit vier Stühlen stand. Ich hoffte inständig, dass mich nicht gleich mehrere angsteinflößende hohe Tiere gleichzeitig in die Mangel nehmen würden. Ich war so schon aufgeregt genug.

Nach einigen Minuten kam eine junge Dame herein und fragte mich, ob ich etwas trinken wolle. Ich nickte und kurze Zeit später brachte sie zwei Tassen Kaffee. Genau in dem Moment betrat ein junger, dunkelhaariger Mann den Raum. Er war sogar ziemlich attraktiv. Er leitete die Abteilung Webdesign und brauchte wohl dringend neue Mitarbeiter, da sie in Arbeit erstickten. Anfangs war ich sehr nervös, aber unser Gespräch war locker und schon fast freundschaftlich. Ich konnte mit Fachwissen glänzen und zeigte ihm meine Mappe mit Websites, die ich bereits während des Studiums entworfen hatte. Meine anfängliche Nervosität war schnell verflogen. Er lobte meine Arbeit und sagte abschließend, dass er sich sehr gut vorstellen könnte, mit mir zusammenzuarbeiten. In den nächsten Tagen würden sich allerdings noch ein paar andere Bewerber vorstellen. Danach müsste er noch mit seinen Kollegen und mit ein paar anderen Herren aus der Chefetage sprechen. In ungefähr zwei Wochen würde er mir Bescheid geben.

Abschließend schüttelten wir uns die Hände und ich verließ das Gebäude mit einem guten Gefühl.

Na ja, es konnte ja auch nicht alles scheiße laufen.

Vielleicht hatte ich ja zumindest in einem Bereich meines Lebens etwas Glück.

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