Читать книгу Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband - Katharina Wolf - Страница 33
ОглавлениеZu Hause
Ich war so unglaublich hilfsbedürftig und kam mir vor wie ein kleines Kind. Mit einem gebrochenen Bein konnte man so gut wie nichts alleine tun. Ich humpelte wie ein Zombie mit zwei Krücken klackernd durch die Wohnung. An Duschen war gar nicht erst zu denken und beim Baden legte ich mein eingegipstes Bein auf den Badewannenrand und gab mein Bestes, nicht zu ertrinken. Aber das Schlimmste war: Es juckte. Es juckte erbärmlich!
»Nora, das ist eklig.« Seine Abneigung betonte Sebastian mit jeder Silbe. Er sollte mal nicht so übertreiben. Nur weil ich versuchte, mich mit der Gabel unter meinem Gips zu kratzen. Hier am Essenstisch lag nun mal nichts anderes in greifbarer Nähe, das mich als Kratzhilfe unterstützen könnte.
Seit einigen Minuten - gefühlten Stunden – gingen wir gemeinsam die komplette Hochzeitsplanung noch einmal durch.
Jan schnarchte hinter uns auf dem Sofa und bekam nichts von Sebastians angehender Panik mit. Hiro gab alles, um ihn zu beruhigen, aber es war hoffnungslos. Es waren nur noch wenige Tage bis zu ihrem großen Tag. Dem Tag, den Sebastian sich so perfekt vorstellte, dass er niemals an seine Vorstellungen herankommen können würde.
Wieder und wieder sortierte, kontrollierte und hinterfragte er sämtliche Verträge und Dokumente. Blumen, Catering, Auto, Band, Fotograf ... Ich hatte bereits auf Durchzug geschaltet.
»Bestimmt haben wir etwas Wichtiges vergessen. Irgendetwas ganz Essenzielles. Wie, wenn man Stunden den Koffer für den Urlaub packt und am Ende keine Socken dabei hat.« Sebastian raufte sich die Haare und seufze theatralisch. Jan schmatzte daraufhin hinter mir und wälzte sich auf dem Sofa einmal von der linken auf die rechte Seite. Eines der Kissen landete auf dem Boden.
»Quatsch.« Hiro streichelte Sebastian über den Rücken. »Nichts war je so gut geplant. Nicht mal die Mondlandung.«
»Na ja, ein kleines, ganz klitzekleines Problem könnte es eventuell geben ...«, wisperte ich und legte meine Stirn sorgenvoll in Falten. Sebastians Augen weiteten sich und er starrte mich entsetzt an.
»Was?« Er schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen.
»Na ja, deine Trauzeugin wird wohl in Jogginghose und mit nur einem Schuh ihre Unterschrift leisten müssen. Ich hoffe, das stört dich nicht weiter.« Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Sieht eventuell etwas seltsam auf den Hochzeitsfotos aus, aber ich dachte da an eine Federboa und an einen krassen neonfarbenen Hut im Royal-Style, um den Rest zu kaschieren.« Hiro grunzte vor Lachen und sogar Sebastian schien lange nicht so geschockt, wie ich es erwartet hatte.
»Als hätte ich je damit gerechnet, dass du ein elegantes Kleid in deiner Garderobe finden würdest ...«
»Ich wollte mir echt noch eins kaufen, aber dann kam das dazwischen.« Ich zeigte unnötigerweise auf meinen Gips, der nicht nur plump aussah, sondern mittlerweile auch mit zahlreichen, eher unschönen, Zeichnungen verziert war. Hauptsächlich von Hiro der regelmäßig mit mir auf meinem Bein Tic-Tac-Toe spielte. Von wem der gigantische Penis mit Zylinder und Schnurrbart stammte, wusste ich nicht. Den musste wohl jemand geschaffen haben, während ich geschlafen hatte.
»Ich kümmere mich um dein Outfit ... wie immer.« Er zwinkerte mir zu und verstärkte damit mein ungutes Gefühl in der Magengegend.
»Jan, du hilfst, oder?«, rief Sebastian in Richtung Wohnzimmer.
»Klar«, kam es leise zurück.
Ich wandte meinen Blick zu Jan, der in Pyjamahose und oberkörperfrei auf dem Sofa hockte. Die Decke war inzwischen auf den Boden gerutscht. Da saß er, müde im Schneidersitz und fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar. Als er einen Schluck Mineralwasser direkt aus der Flasche trank, fiel mir auf, wie muskulös seine Oberarme waren. War er damals auch schon durchtrainiert gewesen? Ich erwischte mich dabei, wie ich ihn anstarrte, und blickte beschämt und mit rasendem Puls wieder geradeaus.
»Okay, Bruderherz, zieh dich an, wir gehen shoppen!«
Jan gab keine Widerworte, streckte sich noch mal genüsslich, gähnte und stand auf. Neben der Couch lag seine Sporttasche, die momentan die Rolle eines Kleiderschrankes übernommen hatte. Er kramte in ihr nach einer Jeans und einem Pullover. Dann drehte er sich in unsere Richtung und ich schaute weg.
Ich hatte nur einen kurzen Blick auf seine Bauchmuskeln und die weichen Härchen um seinen Bauchnabel erhaschen können, doch das hatte schon genügt. Ich kam mir vor wie ein Stalker und merkte, wie meine Ohren heiß wurden. Oh Gott, nein, ich wurde rot! Wie peinlich! Und mit dem Gips am Bein konnte ich nicht mal schnell vor Scham das Weite suchen.
Ich musterte die Maserung des Tischs vor mir und versuchte, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich war so eine Idiotin. Ich war die Königin aller Idiotinnen! Warum reagierte ich so auf ihn? Warum konnte ich das einfach nicht abschalten? Ich war doch kein Teenie mehr.
»Hiro, du bleibst hier bei Nora, okay?
»Klar, bin gerne der Babysitter.«
Ich schaute ihn böse an und er lachte auf eine fiese Art und Weise.
»Du kannst ruhig auch mitgehen. Ich brauche keinen Aufpasser.«
»Klar brauchst du einen«, gab Sebastian bissig zurück. »Schau dich doch mal an!« Ich zog einen Schmollmund und schaute ihn böse an.
»Ich bin 24 Jahre alt!«
»Ja, und ziehst dir direkt ‚ne Line Crack rein, sobald du alleine bist.« Er zeigte mit dem Finger drohend auf mich.
»Alter, Sebastian ... Krieg dich wieder ein. Erstens zieht man sich Crack nicht rein. Crack raucht man! Und zweitens hab ich nichts da. In meinem Zustand werde ich mir schlecht was besorgen können und von ‚nem Lieferdienst weiß ich noch nichts. Also keine Panik!«
Sebastian schnaubte einmal verächtlich als Antwort und ging dann mit stampfenden Schritten Richtung Schlafzimmer. Dort knallte er die Tür so laut zu, dass der Kalender im Flur von der Wand fiel und wir alle vor Schreck zusammenzuckten. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich in der Küche aus und ich schaute beschämt auf den Tisch. Einige Minuten später kam er wieder zurück und rief Jan zornig zu sich. Es erinnerte mich ein wenig daran, wie ein Herrchen seinen Hund zum Gassi gehen rufen würde. Beide zogen sich dick an und verließen die Wohnung, ohne sich zu verabschieden. Dafür verzichtete Sebastian nicht darauf, die Wohnungstür noch einmal ordentlich ins Schloss fallen zu lassen. Ich zuckte zusammen und atmete dann erleichtert aus. Ich blickte zu Hiro, der mir immer noch gegenüber saß.
»Sorry, ich wollte nicht ...«
»Mach dir nichts draus. Er ist eigentlich nicht sauer. Er ist nur krank vor Sorge. Verständlich, oder?«
Ich zuckte mit den Achseln. Sebastian übertrieb maßlos. Er verhielt sich wie eine Glucke.
»Na ja, jetzt haben wir zumindest erst mal ein paar Stunden Ruhe«, sagte Hiro erleichtert und lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück.
»Wir?« Ich zog die Augenbrauen spöttisch in die Höhe. »Wie redest du bitteschön von deinem Zukünftigen?«
»Ich bin froh, wenn die Hochzeit vorbei ist. Der Stress tut ihm nicht gut und mir im Übrigen auch nicht.«
»Er kann ziemlich zickig sein, stimmt‘s?« Ich schmunzelte, immerhin kannte ich Sebastian schon recht lange und gut.
»Kann er! Ist er aber nur, wenn er gestresst und schlecht gelaunt ist ... oder wenn seine beste Freundin mit drei vollkommen fremden, zwielichtigen Gestalten, die zudem alle unter Drogeneinfluss stehen, in einen Verkehrsunfall verwickelt wird.«
»Ist ja gut, ich habe den Wink verstanden.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schaute aus dem Fenster. Ich hasste es, ein schlechtes Gewissen zu haben.
»Kommst du klar damit, dass Jan hier ist?« Der Themenwechsel kam zu plötzlich und verwirrte mich.
»Ja, passt schon. Geht halt nicht anders.«
»Er ist wieder Single.«
»Toll ...«
Hiro musterte mich kritisch und ich hielt seinem Blick stand. Wollte er mich einschüchtern?
»Ist gestern etwas zwischen euch vorgefallen?«
»Wie kommst du darauf?«, fragte ich tonlos und so gleichgültig, wie mir möglich war.
»Jan war etwas nervös und seltsam heute Morgen und außerdem starrt er dich an. Selbstverständlich nur, wenn du nicht hinsiehst.« Meine Reaktion auf diesen Satz entging Hiro natürlich nicht. Ich lief rot an und mein verzweifelter Gesichtsausdruck sprach vermutlich Bände. Natürlich ließ mich das Ganze nicht kalt. Jans Anwesenheit, seine Blicke, der Kuss gestern ...
»Meinst du, das mit euch, na ja, meinst du, ihr habt noch eine Chance?«
»Ich glaube, der Zug ist abgefahren.« Ich sprach leise und konnte die Traurigkeit in meiner Stimme nicht verbergen. Ich spürte, wie mein Kinn anfing zu beben. Ach Mann, bitte nicht. Ich wollte jetzt nicht heulen!
»Wie kommst du darauf? Also warum denkst du, dass das mit euch nichts mehr werden kann?«
»Es ist zu viel passiert, es ist alles so lange her.«
»Aber hebt das eine nicht das andere auf?« Hiro lachte. Er hatte gut reden. Es ging schließlich auch nicht um sein verkorkstes Leben. »Man könnte auch sagen, dass es schon so lange her ist, dass Gras über alles gewachsen sein müsste. Ein Neuanfang. Ganz einfach.«
»Ganz einfach?«
»Ja.«
»Nein, Hiro, es ist eben nicht so einfach. Ich bin ein anderer Mensch. Die Trennung, die Zeit danach. Das alles hat mich verändert. Ich bin nicht mehr die Nora von früher. Das wird Jan auch schon festgestellt haben.«
»Er ist garantiert auch nicht mehr der Jan von früher. Jeder verändert sich. Das Leben geht weiter und man schreitet voran.« Ich schüttelte den Kopf.
»Er ist immer noch mein Jan. Es ist erschreckend, wie wenig er sich verändert hat.«
»Dein Jan?« Hiro zog eine Augenbraue skeptisch nach oben. Ich lächelte und zuckte mit den Achseln. Ich wusste, dass er eben nicht mehr mein Jan war, und doch würde er immer mein Jan bleiben. Ein wenig schizophren war das ja schon.
»Früher dachte ich, dass mit uns ist für immer. Dass es niemanden geben wird, der besser zu mir passt, der mir mehr gefallen wird. Und weißt du was? Es stimmt. Er war perfekt. Perfekt für mich. Klar hatten wir auch Probleme und haben uns auch mal gestritten oder so. Aber trotzdem kann ihm einfach niemand das Wasser reichen.«
Hiro sagte nichts dazu. Er nickte nur nachdenklich.
»Kaffee?« Nach einigen Minuten durchbrach er das Schweigen und stand auf.
»Gerne.«
Wir saßen noch lange da und sprachen über Gott und die Welt. Nur der Name Jan fiel nicht mehr.
Irgendwann verlagerten wir unseren gemütlichen Nachmittag auf die Couch. Wir schauten doofe Sendungen auf RTL2 und irgendeine Reality-Show mit dieser Kardashian. Wir lachten viel und ich vergaß den Ärger mit Sebastian schnell. Hiro schaffte es, mich abzulenken. Später öffneten wir eine Flasche Rotwein und aßen dazu Lebkuchen. Eine perfekte Kombination für die Vorweihnachtszeit.
Ich mochte Hiro. Nicht nur, weil er mit meinem besten Freund zusammen war und demnach einen guten Geschmack bewies. Er wusste auch, wann man den Mund zu halten hatte. Das Gespräch vorhin war sehr intim gewesen. Aber er hatte gespürt, dass es mir nah ging, und mich nicht weiter bedrängt. Eine wichtige und sympathische Eigenschaft.
Nach einiger Zeit hörten wir den Schlüssel in der Tür und Sebastian betrat mit Jan im Schlepptau die warme Stube. »Wir haben gleich noch Essen besorgt. Ich mache heute Lasagne«, sagte Sebastian gut gelaunt und ich jubelte daraufhin mit Hiro um die Wette. Sebastian zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. Er war es nicht gewohnt, mich so gut gelaunt zu sehen. Das war wohl auch der Anlass, warum er genauer betrachtete, was hier in seiner Abwesenheit vor sich gegangen war. Sein Blick blieb an den beiden Weingläsern und der Rotweinflasche auf dem Wohnzimmertisch hängen.
»Mensch Hiroki, muss das sein?«
»Was?« Hiro war sichtlich verwirrt und verstand wohl nicht ganz, wie die Stimmung so schnell kippen konnte.
»Das.« Er ging zum Wohnzimmertisch und nahm die Weinflasche wütend an sich.
»Oh.« In diesem Moment fiel ihm auf, dass die Flasche voller war, als er erwartet hatte.
»Ich habe nicht mal ein halbes Glas getrunken.« Im Gegensatz zu Hiro verstand ich, was Sebastian so wütend machte. Seine kleine depressive, drogenabhängige beste Freundin soll sich ja keine Ersatzdroge anschaffen. Ich war ihm nicht böse wegen seiner Anschuldigung. Ich wusste, dass es war nur Sorge war und keine Boshaftigkeit. Sebastian sah mich an und nickte mir dann kaum merklich zu. Wir hatten uns verstanden. Er stellte die Flasche wieder ab und ging zu Jan in die Küche, der gerade die Einkäufe aus den Tüten und in die Schränke räumte.
»Okay!« Sebastian klatschte in die Hände. »Wer hilft beim Salat-Schnippeln?« Hiro und ich hoben beide wie in der Schule die Hand und prusteten dann gleichzeitig los vor Lachen. Sebastian grinste und die getrübte Stimmung, die einige Augenblicke zuvor noch im Raum spürbar gewesen war, war vergessen.
Hiro und ich wurden dazu verdonnert, Tomaten, Gurken und Zwiebeln für einen Salat in kleine Stücke zu schneiden. Die beiden Brüder schichteten in der Zwischenzeit die Lasagne in eine Auflaufform.
Wir verbrachten einen gemütlichen Abend zusammen. Zu viert bereiteten wir das Essen zu, aßen, tranken und lachten viel. Ich genoss die ausgelassene Stimmung, obwohl sie für mich so ungewohnt war, dass es mir manchmal etwas surreal vorkam. Wie in einem Märchen oder einem Traum. Ich wollte nicht erwachen.
Es war so schön und vertraut, dass es mich schmerzlich daran erinnerte, wie sehr mir in den letzten Jahren eine Familie gefehlt hatte.
Wie sehr mir Jan gefehlt hatte.