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Unerwarteter Besuch

Jan war fast immer bei mir. Ab und an ging er nach Hause, um zu duschen und die Kleidung zu wechseln. Er musste sich Urlaub genommen haben. Wie sonst hätte er jede verdammte Minute des Tages hier an meinem Bett verbringen können? Ich hätte ihn ja danach fragen können, doch zog ich momentan Schweigen einer anregenden Konversation vor.

Wenn er hier war, las er meist Zeitung. Lustige Artikel trug er mir vor oder zeigte mir Cartoons und Karikaturen. Ich reagierte nicht wirklich oft darauf. Meistens starrte ich aus dem Fenster.

Er griff oft nach meiner Hand, hielt sie einfach so in seiner. Ich verstand einfach nicht, was das sollte, warum er das tat. Manchmal schrie ich ihn deshalb an, dass er das sein lassen sollte. Ich fragte ihn nicht gerade freundlich, was er hier noch wollte, warum er mich mit seiner Anwesenheit so quälte. Warum er hier bei mir und nicht bei seiner Freundin war. Aber er ging nicht. Ganz egal, wie unfreundlich ich war oder wie oft ich ihn ignorierte oder beschimpfte.

»Ich lasse dich nicht mehr alleine«, war das Einzige, was er auf meine Wutausbrüche erwiderte.

Es war zum Verrücktwerden und zum Haareraufen. Ich konnte sein Mitleid kaum ertragen.

Einmal waren zwei Polizeibeamten bei mir im Zimmer. Ich hatte, um ehrlich zu sein, damit gerechnet und war deshalb wenig schockiert. Sie wollten ein paar Angaben von mir, die den Fahrer des Unfallwagens betrafen. Ich konnte ihnen allerdings sehr glaubwürdig versichern, dass ich ihn, genau wie die anderen beiden, vorher noch nie gesehen hatte. Mit dieser Aussage waren sie vorerst zufrieden. Was für Konsequenzen es für Mike haben würde, der sich wegen Fahrens unter Drogen- und Alkoholeinfluss strafbar gemacht hatte, war mir ziemlich egal.

Ich genoss es, wenn ich alleine sein durfte. Ohne lästige Besucher. Ohne die traurigen Blicke von Sebastian und Bianca, die mir immer ein schlechtes Gewissen machten.

Ich mochte die Ruhe und gleichzeitig hasste ich mich dafür, dass sich meine Gedanken dann nur um Jan drehten. Wenn er da war, war ich nervös und gereizt. Sobald ich alleine war, vermisste ich ihn. Aber was sollte ich dagegen tun? Er hatte nun mal diese Macht über mich und ich keine Chance, mich dieser zu entziehen.

Es klopfte an der Tür und ich wappnete mich wieder für einen dieser Besuche, die immer mehr an meinen Nerven zehrten. Die Tür öffnete sich langsam und ich betete, dass es Hiroki war. Er war der Einzige, der mich nicht schier um den Verstand brachte. Als ich aber sah, wer mein Krankenzimmer betrat, wäre mir jeder andere Mensch lieber gewesen. Sogar dieser eine Prof aus der Uni, der so unglaublich nach Schweiß gestunken hatte, oder Helene Fischer. Ja, sogar diese Schnepfe hätte ich bevorzugt.

»Raus!« Erstaunlicherweise war meine Stimme nicht laut, dafür aber umso bedrohlicher.

»Nora, bitte, ich bleibe auch nicht lange.«

»Geh einfach! Ich will dich nicht sehen!«

»Ich muss mit dir reden, bitte.«

»Was, Pablo? Was willst du mir erzählen? Was kann verdammt noch mal so wichtig sein, dass du hier herkommst?«

Er kam auf mich zugelaufen und betrachtete meine Gestalt mit leicht entsetztem Gesichtsausdruck.

»Oh Mann ey, du siehst echt schlimm aus.« Ich schnaubte und drehte meinen Kopf zur Seite. Die Schnittwunden in meinem Gesicht heilten langsam ab. Aber für ihn musste es trotzdem ein erschreckender Anblick sein. »Ist es so schmerzhaft, wie es aussieht?«

»Geht so«, gab ich leise zurück und ließ meinen Blick dann doch kurz zu ihm wandern.

»Was ist denn mit dir passiert?« Pablo brauchte nichts über meinen Zustand zu sagen. Auch er sah aus wie nach einem Kampf mit einem Pitbull.

»Das ist eine etwas längere Geschichte.« Er rieb sich verlegen über den Nacken und setzte sich auf den Stuhl, der neben meinem Bett bereitstand. »Sagen wir es mal so, ich habe mit Jans Faust Bekanntschaft gemacht.«

Ich schaute ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an und wartete auf weitere Erklärungen. Er bevorzugte es aber, vorerst zu schweigen. Ich nutzte die Zeit, um das zu tun, was ich schon die letzten Tage getan hatte: Ich schaute aus dem Fenster.

»Ich muss mit dir reden.«

»Das erwähntest du bereits.«

»Hörst du mir auch zu?« Er klang verbittert, genau wie ich.

»Ich kann schlecht weglaufen, wie du siehst.« Mein eingegipstes Bein lugte unter der Bettdecke hervor. Pablo starrte es an und atmete dann einige Male geräuschvoll ein und aus. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. Ich würde ihm dabei garantiert nicht helfen.

»Ich habe einen Fehler gemacht und will mich dafür entschuldigen.« Nun musste ich ihn doch anschauen und konnte einen kritischen Blick mit angehobener Augenbraue nicht vermeiden. »Ich wusste ja nicht, dass ich eine Familie auseinanderreiße. Es war eine scheiß Idee. Aber sie meinte, dass sie eh schon fast mit ihm zusammen wäre. Dass sie besser zusammenpassen und du ihn eh nur bremsen würdest.«

Nun machte ich wirklich große Augen und hielt die Luft an. Was wollte mir Pablo gerade mitteilen?

»Pablo, wovon redest du, verdammt noch mal?«

»Es war nicht so, als ob sie direkt mit ihm zusammengekommen wäre. Er hat dir ewig hinterhergetrauert. Wirklich. Das hat meine Schwester richtig sauer gemacht. Du weißt doch, dass Fernanda meine Schwester ist?«

»Jan hatte da was erwähnt.«

»Ihr redet wieder miteinander?«

»Nicht wirklich.«

Pablo lehnte sich kurz zurück, fuhr sich mit dem Handrücken erschöpft über die Augen und kreuzte dann die Arme vor seiner Brust.

»Weißt du, ich war ziemlich in dich verschossen.« Ich schaute ihn an und war nicht sonderlich überrascht. »Na ja, ich dachte, ich hätte eine Chance bei dir. Ziemlich dumm, nicht? Und meine Schwester wollte die ganze Zeit schon was von Jan und ... ach ich weiß ja auch nicht ... es war falsch.«

Was sollte ich nun dazu sagen? Ich war sprachlos. Bedeutete das, es war ein abgekartetes Spiel? Mein Puls raste.

»Es war meine Schuld, und als ich gesehen habe, wie Jan dich anschaut, auch jetzt noch ...« Er beendete den Satz nicht und schüttelte nur den Kopf. »Wir hätten euch nicht auseinanderbringen dürfen.«

Das war wie ein Startschuss für mich. Ich sah rot, holte aus und schlug ihm mit der flachen Hand auf die rechte Wange. Er zuckte nicht zurück, presste nur die Augen schmerzhaft zusammen, als hätte er damit gerechnet. Ich holte ein weiteres Mal aus und gab ihm auch auf die andere Seite eine schallende Ohrfeige.

Das tat gut. Auch wenn meine Hand nun unangenehm pochte und brannte. In mir herrschte Chaos und doch schlussfolgerte mein Hirn eines richtig: »Jan hat dich deshalb verprügelt, oder?«

Er schwieg einige Sekunden, bevor er weitersprach.

»Bevor ich zu dir gekommen bin, habe ich es Jan gebeichtet. Ich wollte das einfach loswerden und, na ja, er hat ähnlich reagiert wie du. Nur fester und mit der Faust. Und bei zwei Hieben hat er auch noch nicht aufgehört. Aber das hatte ich wohl verdient.«

»Oh ja, das hast du! Und wenn ich könnte, würde ich dir noch mehr Schmerzen zufügen.«

Wir stierten uns einige Sekunden schweigend an. Dann seufzte Pablo und strich sich über seine geröteten Wangen, die nun noch zu seinem malträtierten Auge, der geplatzten Lippe und der geschwollenen Nase hinzugekommen waren.

»Ich geh dann mal, es tut mir wirklich leid.«

Ich nickte ihm kaum merklich zu und widmete meine Aufmerksamkeit dann wieder dem Blick aus dem Fenster. Als ich hörte, wie die Tür leise ins Schloss fiel, konnte ich ein leichtes Beben meines Kinns nicht mehr unterdrücken. Mehr ließ ich nicht zu. Ich heulte nicht. Aber an Schlaf war auch nicht mehr zu denken. Also betrachtete ich das trübe Wetter und wünschte mir, etwas würde mich von meinen genauso trüben Gedanken ablenken, oder sie am besten ganz ausschalten.

Zwei unglaublich lange und quälende Stunden später – ich hatte die Zeit genutzt, um vor mich hin zu grübeln, Pfefferminztee zu trinken, und mich bemüht, nicht verrückt zu werden – kam Jan.

Er klopfte, öffnete zaghaft die Tür und setzte sich dann ohne Begrüßung, dafür aber mit einem betrübten Gesichtsausdruck, neben mich. Wir schwiegen. Nun sah er aus dem Fenster. Die Stille war beklemmend und in keiner Weise angenehm. Mehr eine Ruhe vor dem Sturm. Ich musterte meine Bettdecke und löste einen Faden, den ich mit den Fingernägeln immer weiter herauszog. Sein Seufzen ließ mich zusammenzucken. Er kratzte sich am Hinterkopf und rieb sich mit den Händen erschöpft über die Augen. Seine Hände sahen schlimm aus. Die Knöchel waren blutig verkrustet und geschwollen. Der Anblick erschreckte mich.

»Vor vier Jahren ...«, begann er plötzlich zu sprechen und sah mich an. Ich hielt seinem Blick stand. »Da habe ich dich vernachlässigt, oder?«

Ich regte mich nicht, wagte es nicht, zu blinzeln oder zu atmen. Ich schaute ihn einfach weiter an. »Ich wollte nur so schnell wie möglich unabhängig sein. Mein eigenes Geld verdienen und endlich fest angestellt sein. Ich wollte eine Zukunft mit dir. Glaubst du mir das? Aber am Ende ... am Ende blieb mir nichts.« Er seufzte ein weiteres Mal und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Weißt du, dass sie niemanden übernommen haben?« Ich sah ihn fragend mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Meine Chefs von früher. Sie haben uns Azubis rackern lassen wie Packesel und am Ende haben sie keinen übernommen. Scheint eine Strategie zu sein. Sie lassen billige Azubis und kostenlose Praktikanten die ganze Arbeit machen und tauschen die dann alle paar Jahre einfach aus.«

Das hatte ich nicht gewusst. Woher auch? Nach allem, was Jan geleistet hatte, was er hatte aufgeben müssen ... Das war nicht fair.

»Ich arbeite jetzt in einer anderen Agentur. Kein Vergleich zu meiner letzten Arbeitsstelle. Dort habe ich zum ersten Mal gesehen, wie man tatsächlich mit Auszubildenden umgeht. Ich war wirklich dumm und naiv.«

Ja, das war er wahrscheinlich. Aber ich hatte den Versprechungen ja auch geglaubt.

Ich schaute wieder aus dem Fenster. Was sollte ich dazu sagen? Was erwartete er denn von mir?

Absolution?

»Wann darfst du aus dem Krankenhaus?« Jan schien bemüht zu sein, das Thema schnell zu wechseln. Ihm war die Situation wohl gerade genau so unangenehm wie mir.

»Morgen, denke ich.«

»Ich hol dich ab.«

Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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