Читать книгу Kuss der Wölfin Sammelband 2 | Teil 4 & 5 | Krieger der Dunkelheit & Im Schatten des Mondes - Katja Piel - Страница 19
ОглавлениеKapitel 11
Lynn kuschelte sich in den weichen Frotteebademantel, zog die Beine hoch auf den Stuhl und zündete sich eine Zigarette an. An den Füßen trug sie dicke Pantoffeln, auf dem kleinen Tischchen stand ein dampfender Becher Kaffee. Noch etwas müde starrte sie über die Balkonmauer auf einige Wohnhäuser. Viel lieber hätte sie eine schnucklige kleine Wohnung mitten in London gehabt.
Die Sonne ging gerade auf, Frühnebel kroch über den Boden und es war noch ruhig. Am Wohnhaus schräg gegenüber, das momentan saniert wurde, war noch niemand zugange und die Kinder der Nachbarn unter ihr schliefen noch.
Nur das Vibrieren ihres Handys auf dem Eisentisch war zu hören. »Hätte mich auch gewundert, wenn ich mal gemütlich wach werden könnte«, schimpfte sie genervt, griff nach dem Smartphone und nahm das Gespräch an. »Guten Morgen, liebe Lynn!« Ihr Partner Simon. Er wusste genau, dass sie ein Morgenmuffel war. »Ich hoffe, es ist was Ernstes. Ansonsten reiß ich dir nachher persönlich den Arsch auf.«
»Na, na. Nicht so obszön, Herzchen. Ziemt sich nicht für eine Lady.« Sein raues Lachen drang an ihr Ohr. Er hatte eine wahnsinnig sexy Stimme, und sie zog ihn gerne damit auf, dass er nebenbei eine Sexhotline aufmachen könnte. Rein optisch war er keine Offenbarung: Er war untersetzt, immer am Futtern, hatte einen schier unendlichen Vorrat an Süßigkeiten in seinem Schreibtisch und schwitzte ständig, selbst bei Eiseskälte. Simon war ein verflucht guter Partner und sie konnte sich immer auf ihn verlassen.
»Mord in Sheperd’s Bush, Sterne Street. Männlich«, sagte er, jetzt wieder ernst, ganz Detective Garcia.
»Ich hoffe, du hast außer deiner Zigarette und dem Kaffee noch nicht gefrühstückt«, erklärte er noch. »Nein, wie auch, du hast ja angerufen. Bin in zehn Minuten da.« Er lachte wieder. In dem Moment klopfte es an ihrer Haustür. Für einen Augenblick hatte Lynn ein merkwürdiges Echo im Ohr, denn das Klopfen drang gleichzeitig auch aus ihrem Handy. Sie stand auf, drückte die Zigarette aus, nahm den Becher mit und klemmte sich das Handy unters Ohr. »Ich hätte es wissen müssen«, rief sie aus, als sie die Tür geöffnet hatte. Simon grinste, schaltete sein Handy aus und packte es in die Weste. In der einen Hand hielt er ein Plunderstückchen, von dem er bereits abgebissen hatte. »Komm zieh dich an, wir fahren zusammen hin«, forderte er sie auf, rieb ein paar Krümel vom Mund und folgte ihr ihn die Wohnung. Simon war wie ihr Bruder, Kumpel und beste Freundin in einem. Wer bei der Met, der Metropolitan Police in London, als Detective arbeitete, hatte sowieso keinen normalen Freundeskreis. Ganz zu schweigen von einer Liebesbeziehung. Nicht mal mit einer Katze oder einem Hund teilte sie sich ihr Leben. Aber immerhin hatte sie einen Kollegen, den sie im Bademantel begrüßen und in ihre chaotische Wohnung lassen konnte, ohne sich zu schämen. Klamotten lagen auf der Schlafcouch, verwickelt in ihre geblümte Bettdecke und garniert mit zerknautschten Kissen. In ihre winzige Küche, die aus einem Kühlschrank und einem Zweiplattenherd bestand, kam sie nur, wenn sie über Schuhe, Hosen und Plastikwasserflaschen stieg.
»Kaffee?«, fragte sie ihn, als er reinkam und beim Gehen in sein Stückchen biss. »Gerne. Gib mir doch direkt deinen Becher. Du musst dich eh anziehen. Sag mal, findest du hier überhaupt etwas?« Lynn strafte ihn mit einem bösen Blick, nahm noch einen Schluck und reichte ihm ihre Tasse. Sie zupfte sich ihre Klamotten vom Boden, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Während sie sich schnell anzog, kurz wusch und die Zähne putzte, hörte sie Simon zu. »Wir haben den Anruf erst vor einer Stunde erhalten. Eine Nachbarin fand eine Blutspur von der Wohnung des Opfers quer durch das Treppenhaus. Nachdem dort keiner öffnete, hat sie uns gerufen.«
»Er hätte auch einfach nicht da sein können«, nuschelte Lynn, während die elektrische Zahnbürste in ihrem Mund kreiste.
»Genau – und beim Verlassen der Wohnung hat er versehentlich eine riesige Blutspur produziert.«
»Hmmm«, murmelte sie und spuckte ins Waschbecken. Sie strich sich mit der Bürste durch ihr langes, schwarzes Haar, bis es glänzte, setzte sich auf den Toilettendeckel und schlüpfte in die Stiefel. »Die Mets sind schon vor Ort, Spurensicherung, Arzt vor wenigen Minuten eingetroffen. Wir wurden als ermittelnde Detectives eingesetzt und müssen in… äh«, kurze Pause, »hätten vor fünf Minuten da sein sollen.« Lynn schloss die Tür auf, trat raus und grinste ihn schief an. »Warum hast du mich gewarnt, zu frühstücken, wenn du es noch gar nicht mit eigenen Augen gesehen hast?«
»Weil man mir das gleiche gesagt hat.«
»Und deshalb hast du dir gleich was zu essen besorgt, was?«, lachte sie und zeigte auf seine klebrigen Finger und die Tüte in seiner Hand. »Ich bin ein Profi. Sowohl mit Leichen als auch mit Lebensmitteln. Mein Magen kann einiges ab.« Er stellte die Tasse weg. »Können wir dann mal?« Lynn nickte und kramte auf dem Sideboard zwischen ungeöffneten Briefen, Brillenetuis, Tupperdosendeckeln, Einkaufswagenchips und Werbeblättchen herum.
»Mist, ich finde meine Schlüssel nicht!«
»Meinst du die hier?«
Simon grinste und hielt einen Bund hoch, an dem verschiedenste Anhänger baumelten. »Du Mistkerl. Gib her«, fauchte sie, lachte aber dabei. »War ein Wunder, dass ich den gesehen hab. Du solltest mal aufräumen, Lynn.«
»Jaja. Lass uns endlich abhauen.« Lynn schnappte sich den Schlüssel.
Leider mussten sie mitten durch London, um nach Sheperd’s Bush zu kommen. Bis sie sich durch den Morgenverkehr gekämpft hatten, war über eine Stunde vergangen. Lynn trommelte mit ihren Händen auf das Handschuhfach, während Simon über die Autofahrer fluchte. »Bis wir da sind, ist die Party vorbei«, grummelte er und deutete nach hinten. »Lynn, kannst du mir eben die Tüte reichen?«
»Vielfraß.«
»Messie.«
»Touché.« Lynn griff nach hinten und zog die Tüte vor, rollte sie auf und reichte ihm ein Nussstückchen. Umständlich bog er in ein paar Straßen ein, rollte schließlich auf einen freien Platz vor dem vermeintlichen Tatort und stellte den Wagen zu den anderen Dienstfahrzeugen. Um das Haus standen mehrere Polizisten, ein Übertragungswagen eines lokalen Nachrichtensenders, sowie Krankenwagen und Feuerwehr. Neugierige Passanten versuchten einen Blick zu erhaschen, wurden allerdings freundlich von den Beamten weitergeschickt. Lynn klemmte sich ihre Dienstmarke an das Revers ihrer Jacke und stieg aus. Die meisten Kollegen kannte sie. Deputy Comissioner McDavis stand etwas abseits der Menge und telefonierte. Mit seiner imposanten Statur von fast zwei Metern war er genau der Richtige für den Job als Chef ihrer Abteilung. Normalerweise musste er in seiner Position nicht mehr in den Außendienst. Lynn vermutete, dass dies kein gewöhnlicher Mord war und in ihrer Magengegend fing es an zu kribbeln, wie immer, wenn sie nicht genau wusste, was sie erwartete. Simon trat neben sie, schob den letzten Bissen in den Mund und knüllte die Papiertüte zusammen. »Los geht’s«, sagte er mit vollem Mund. »Garcia! Serenata! Hierher!«, bellte McDavis Stimme über die Menschenmenge. »Oh oh. Die Bulldogge hat uns gesehen«, flüsterte Simon ihr zu. Lynn grinste und ging auf ihren Comissioner zu, der seine Hände in die Hüften gestemmt hatte und sie böse anfunkelte. »Das hier ist kein Date, wo man sich einfach mal verspäten kann. Bis Sie kommen, ist die Leiche längst verrottet.«
»Sorry, Commissioner, der Berufsverkehr …«
»Was? Soll ich Ihnen das nächste Mal einen Hubschrauber schicken?«
»Tut uns leid, Commissioner«, schaltete sich Simon ein. »Kommt nicht mehr vor.«
»Also gut«, knurrte McDavis. »Ihr Date wartet im obersten Stock. Rechte Wohnung. Aber das werden sicher selbst Sie finden. Abmarsch!« Lynn unterdrückte ein Salutieren und wandte sich um. Schon im Treppenhaus erkannte sie Zeichen, dass sich etwas Ungewöhnliches abgespielt haben musste. Die Wände waren mit Blut bespritzt, so als hätte jemand einen Eimer Farbe an ihnen ausgekippt. »Serenata. Der Comissioner hat euch gesucht.«
»Ja Freddy, wir sind ihm schon begegnet«, antwortete Simon. Freddy tippte sich an die Stirn, ging an ihnen vorbei nach unten. Lynn stieg die letzten Treppenstufen nach oben und wandte sich nach rechts, wo ein Officer Handschuhe verteilte. »Hoffe, ihr habt nichts gegessen«, raunte er ihnen zu. Garcia deutete auf seine zusammengeknüllte Papiertüte. Der Officer machte ein gequältes Gesicht und lächelte Lynn an. »Hey Lynn. Alles klar bei dir?« Sie nickte ihm freundlich zu. »Alles okay, Oskar, danke. Und bei dir?« Er zuckte mit den Schultern. »Geht so. Viel Spaß auf der Party.« Wie oft Oskar sie schon zum Essen eingeladen hatte, konnte Lynn nicht mehr zählen. Aber er war leider überhaupt nicht ihr Typ. Viel zu schüchtern und zu nett. Es war bescheuert von ihr, aber sie stand einfach nicht auf nette Kerle. Sie betraten die kleine Wohnung.
Sofort bot sich ihnen das Ausmaß der Katastrophe. Auf dem Sofa lagen mehr oder weniger Stücke eines Menschen. Nur durch dünne Sehnen und vereinzelte Muskelfasern wurde der Körper noch zusammengehalten. So etwas hatte Lynn noch nie gesehen, und obwohl sie nichts gegessen hatte, hob sich ihr Magen bei dem Anblick. Der Geruch von Blut und aufgerissenem Gedärm bohrte sich in ihre Nase, und sie würgte. Jemand hielt ihr eine Tüte hin. »Oh mein Gott!«, murmelte Simon und trat näher. Im Zimmer verteilt waren überall gelbe Beweiskärtchen mit Pfeilen. Die Spurensuche war mit Pinseln und Sprays bereits in ihre Arbeit vertieft und der Gerichtsmediziner stand abseits und kritzelte etwas in ein Notizbuch. Als er Lynn und Simon sah, kam er auf sie zu, umrundete dabei die von der Spurensuche bereits abgearbeiteten Areale. »Garcia, Lynn«, begrüßte er sie und blickte dabei besorgt auf Lynns Gesichtsfarbe. »Wollen Sie kurz frische Luft schnappen?« Lynn schüttelte den Kopf, versuchte, ihren Blick von dem Massaker auf der Couch abzuwenden. Die Blöße würde sie sich nicht geben. Als Frau unter den ganzen Männern hatte sie es ohnehin schon schwer genug. »Kein Problem, Dr. Hauck. Was haben wir hier?« Dr. Hauck blickte sie über seine Brillengläser prüfend an, holte Luft und blätterte in seinem Notizbuch. »Was wir hier sehen, sind Bisse. Es wurde kein Messer oder anderer Gegenstand verwendet. Aus dem Körper sind Fleischstücke gerissen worden. Als Verursacher kommt eigentlich nur ein Tier in Frage. Ein großes Tier. So etwas wie ein Tiger, oder zumindest ein American Stafford.«
»Wie ein Tier?«, hakte Lynn nach, während sie Simon aus den Augenwinkeln beobachtete, der näher an die Leiche trat.
»Nun ja. Verwunderlich ist, dass der Tod erst sehr spät eingetreten ist. So als hätte jemand absichtlich mit harmlosen Körperregionen angefangen. Ich habe mir die Abdrücke genauer angesehen. Die üblichen American Stafford Terrier haben eine Maulspanne von etwa 17,5 cm. Diese Wunden hier haben einen Durchmesser von mehr als 20 Zentimeter.«
»Wieso ausgerechnet ein Amstaff? Ich mein, es könnte ja auch ein Schäferhund oder Rottweiler gewesen sein?« Hauck zog die Brille ab und deutete auf die Leiche. »American Staffords sind dafür bekannt, dass sie eine Kiefersperre bekommen, wenn man sie bis aufs Blut reizt. Sie lassen nicht mehr los, man kann sie dann nur noch mit Tricks vom Opfer bekommen. Weiterhin hatte ich soeben erklärt, dass es sich hier um Wunden handelt, die größer als 20 Zentimeter sind. Das bekommen Sie rein anatomisch mit einem Schäferhund oder Rottweiler nicht hin.« Lynn nickte, war aber noch nicht überzeugt. »Was meinten Sie damit, das Tier hätte erst harmlose Regionen zerfetzt? Wie soll das funktionieren?« Hauck setzte die Brille wieder auf. »Dazu muss die Leiche in mein Labor, damit ich völlig sicher sein kann. Aber dieser Mann hier hat sehr lange gelebt, bevor er gestorben ist. Den wollte jemand absichtlich leiden sehen.« Lynn schluckte die Magensäure runter und gesellte sich schließlich, nachdem sie sich bedankt hatte, zu Simon, der sich rund um die Leiche umsah. »Eh, Simon. Das ist die Aufgabe der Spurensuche. Haben wir schon die Identität des Opfers? Wo hat er gearbeitet? Freundin hat er keine, dazu ist es hier nicht wohnlich genug.« Simon blickte sie an und Lynn hob die Hand. »Bevor du etwas sagst: Nicht jede Frau ist so wie ich.« Er grinste sie an. »Ist schon harter Tobak, finde ich. Sowas habe ich noch nie gesehen. Sieht alles aus, als hätte ihn jemand regelrecht abgenagt.«
»Denkst du an einen Ritualmord?« Simon schüttelte den Kopf. »Nee, glaub ich nicht. Aber der Mörder will uns etwas sagen. Sonst hätte er den Mann doch beseitigt – das Bisschen, was von ihm übrig ist, passt in eine handelsübliche Mülltüte. Warum lässt er ihn geradezu demonstrativ auf der Couch liegen?« Es war eher eine rhetorische Frage, als dass er eine Antwort zu erwarten schien. Lynn hatte ihre eigene Theorie, aber die durfte sie nicht teilen, mit niemanden. Noch nicht.