Читать книгу Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich - Страница 10
I.1.1.1Fernand Braudel und die Zeitebenen zwischen Natur- und Ereignisgeschichte
ОглавлениеZwischen dem 15. und 18. Jahrhundert, so analysiert Fernand Braudel (1985/86) in seinen drei Bänden zur Sozialgeschichte, verändern sich der Alltag, der Handel und es gibt einen Aufbruch zur Weltwirtschaft (Braudel 1992). Diese klassische Analyse unterscheidet drei Zeitebenen, die insbesondere auch für die Nachhaltigkeit interessante Perspektiven aufwerfen:
Eine unterste und in den Veränderungen weniger wahrnehmbare Zeitebene gibt eine quasi immobile Geschichte an, die er auch Geogeschichte nennt. In ihr sind Naturerscheinungen eingeschlossen, die sich als Wiederkehr der ewig gleichen Naturabläufe, als feststehende Gebirge und Täler, Küsten, Land- und Seewege, als Ozeane, langsam und stetig fließende Ströme, Klima oder andere Dinge mit langen Zeitspannen der Veränderung ausdrücken. Heute sehen wir mit dem Anthropozän, wie der Mensch durch sein Eingreifen in die Natur diese unterste und fundamentale Zeitebene berührt hat, wobei Moore (2016) oder Altvater (2016) davon sprechen, dass das »Capitalocene« die Natur in eine Anlageform verwandelt hat. »Die Natur wurde auf etwas reduziert, das wie jedes andere Gut bewertet und gehandelt und verbraucht werden kann: industrielles Kapital, Humankapital, Wissenskapital, finanzielle Ansprüche und so weiter.« (Ebd., 145)6 Das »Anthropocene« als »Capitalocene« soll beschreiben, von welcher Seite der Angriffspunkt auf die natürlichen Weltverhältnisse kommt: Es ist die Kapitalisierung auch der Natur, die Menschen dazu bringt, die gegenwärtige ökologische Krise immer weiter zu verschärfen.
Braudels Konstruktion dieser untersten Zeitebene kann schnell als etwas verstanden werden, was der Natur in ihrer »Eigenzeit« eine vom Menschen unabhängige Bedeutung verleiht. Die Geschichte der Welt ist Milliarden Jahre alt, Menschen rechnen mit tausenden von Jahren und in ihrer Lebenszeit nur mit Jahrzehnten. Das Reale dort draußen, das nicht vom Menschen Produzierte, ist immer mehr als die menschliche Konstruktion, aber als Menschen haben wir eben nur unsere Interpretationen, Deutungen, Konstruktionen über das, was für uns dort draußen ist oder was wir für ein solches »Dasein« in unserem beschränkten Zeitverständnis halten. So spricht Braudel von einer Zeitebene, die er nur durch Kontrast mit anderen von ihm konstruierten Zeitebenen verdeutlichen kann.
Wenn Menschen über Zeit und Raum, über die Natur und Umwelt oder über das Reale sprechen, dann ist dies immer Deutung und Interpretation über das, was sie wahrnehmen, interpretieren und konstruieren können und wollen, aber kein absolutes Ding dort draußen. Es wäre schön, wenn uns höhere Wesen von draußen zeigen könnten, wie es um die Ökologie tatsächlich steht, aber selbst dann wäre zu bezweifeln, ob wir ihnen glauben würden. Die Macht der menschlichen Konstruktion von Wirklichkeiten aller Art bedeutet aber nicht, dass es kein dort draußen oder Reales gibt. Im Erschrecken oder Erstaunen über die Wirkungen des Realen werden unsere menschlichen Konstruktionen immer wieder auf die Probe gestellt (vgl. zur Begründung des Realen im Konstruktivismus Reich 2009).
Die lange Dauer (longue durée) umfasst längere historische Zeiträume, wie die Pharaonenherrschaft oder das Feudalzeitalter des Mittelalters. Der Kapitalismus könnte auch in diese Zeitauffassung passen, es sei denn, er würde, wie es heute scheint, durch seine Tendenzen der Kapitalisierung das Anthropozän so nachhaltig bestimmen, dass die unterste Zeitebene grundsätzlich verändert wird. Solche Zuschreibungen werden allerdings immer erst im Nachhinein deutlich, und ohnehin ist zu bemerken, dass alle Einteilungen der Erdzeitalter rein menschliche Konstruktionen sind.
In der jüngsten Zeit, das zeigen die Studien Braudels, hat sich der Kapitalismus stufenweise entwickelt: zunächst lokal über Tausch und Märkte, dann über eine etablierte Marktwirtschaft mit Konkurrenz unter erst nationalen und später globalen Wettbewerbsbedingungen, schließlich als allumfassender Kapitalismus, der jeden Winkel der Erde erreicht und eine Weltwirtschaft errichtet hat.
Für die Nachhaltigkeit ist dieser Aufwärtstrend der Entwicklung die Ursache für die heutige Krise. Eine Umkehr scheint einigen nur dadurch möglich, wenn die Schritte rückwärtsgegangen werden: Eine Lokalökonomie mit kurzen Wegen und wenig Schadstoffen und Treibhausgasen, mit hoher Verantwortlichkeit und Zugehörigkeit in den Verpflichtungen kleiner und verbindlicher sozialer Gruppen könnte als Regionalpolitik Strukturen aufbauen, die nachhaltiger als die jetzige Produktions- und Lebensweise wirken. Nur wie sollen sich die Menschen davon überzeugen lassen, wenn ihnen gerade der allumfassende Kapitalismus mit weniger Zugehörigkeit und hoher Konkurrenz gegeneinander zugleich alle Vorteile im Wohlstand und einem längeren Leben beschwert haben?
In Anbetracht der langen Dauer von Kolonialismus und Benachteiligung vieler Regionen der Welt kann der Wandel ins regionale, ökologische Idyll vor dem Hintergrund einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft ohnehin nur eine Hoffnung in den reichen Ländern sein. Eine andere Hoffnung ist es, dass wissenschaftlich-technologische Revolutionen uns in einen ganz anderen Stand der Versöhnung von Wirtschaftswachstum und Umweltverträglichkeit versetzen könnten, obwohl sie das gegenwärtig noch nicht erreichen.
Die Gegenwart ist eher durch die Vielfalt der Bedürfnisse der Menschen in ihren aktuellen Ereignissen bestimmt, auch wenn eine mittlere Dauer die Konjunkturen ausdrückt, in denen dies geschieht. Einzelereignisse sind von eingeschränkter Dauer, sie bilden die Daten der Geschichte, die sich aneinanderreihen lassen, obwohl man allein aus ihnen diese Geschichte nicht verstehen kann. So betrachtet erscheinen menschliche Ereignisse wie Wellen auf der Oberfläche des Geschichtsflusses, ohne einen tieferen Grund zu erfassen.
Zur langen Dauer gehört heute die kapitalistische Entwicklung, die unsere Lage bestimmt. Für Altvater findet in Braudels »langer Zeit des 16. Jahrhunderts« eine Wende statt, in der die Märkte und der Mehrwert, der vor allem aus der Lohnarbeit gewonnen werden konnte, immer dominanter wurden, um dann im 18. Jahrhundert eine weitere Wende zu erfahren, in der eine »Verbindung von im Überfluss vorhandenen fossilen Brennstoffen und modernen Maschinen« stattfand, um dann »schnell Europa und Nordamerika und dann den Rest der Welt zu verändern. Weit entfernt von einer rein technischen Entwicklung, war diese industrielle Transformation ein Kind des europäischen Rationalismus, der Profitgier und der Dynamik von Geld und Markt. Der industrielle Kapitalismus, der von billigen fossilen Brennstoffen getragen wurde, wurde zum vorherrschenden Modell der modernen Wirtschaftsentwicklung. Nicht weniger wichtig, schuf er auch eine neue globale sozial-ökologische Realität.« (Altvater 2016, 146)