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Karl Polanyi und die große Transformation

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Am Beispiel der Industrialisierung Englands zeigt er zwei Entwicklungen, die seither die westliche Weltordnung prägen: einerseits das Anwachsen bestimmter Marktformen und ihre Ausweitung in alle Winkel der Erde, was letztlich bis in die Globalisierung führt, andererseits das Erstarken des Nationalen und der Nationalstaaten, die in Wechselwirkung mit den Markterfolgen eine Konkurrenz der Nationen und unterschiedliche nationale Profile des Erfolgs im Wohlstand der Nationen ausdrücken. Die Durchsetzung der Eigentumsmarktgesellschaft, die bereits bei Hobbes und Locke konzipiert wurde (Macpherson 1973), nennt Polanyi die Marktgesellschaft, in der alle natürlichen Substanzen und menschlichen Tätigkeiten in Waren verwandelt werden können. Das individuelle Streben nach Gewinn und Eigennutz in allen Handlungen nimmt auf allen Ebenen zu. Dabei entsteht diese Geschichte nicht im evolutionären Eigenlauf, sondern sie wird durch die Konkurrenz der Nationen ebenso angetrieben wie durch die Konkurrenz kapitalistische Strategien der Gewinnmaximierung. Die Marktwirtschaft führt zu einer Verselbstständigung ihrer Strukturen, die über die Zeit hinweg den wirtschaftlichen Fortschritt mit einer dauerhaften sozialen Ungleichheit verbindet. Zugleich wird von Anbeginn an verhindert, sich mit Fragen von Nachhaltigkeit außerhalb esoterischer Zuwendung zu beschäftigen.

Die Konkurrenz der Individuen in der Marktgesellschaft bietet auf der Ebene der Ereignisgeschichte genügend Beispiele für Erfolge und Misserfolge, wobei die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit und die Sehnsucht nach Gewinn als durchgehendes Motiv für alle sogar vor die sozialen Beziehungen rückt und diese immer stärker prägt. Um es in heutiger Terminologie auszudrücken, an die Stelle der moralischen Verpflichtung eines Ehebündnisses rückt der Ehevertrag, an die Stelle der moralischen Pflichten der Kinder rücken Erbverträge, da in den Marktverhältnissen auch mit dem Vertragsbruch engster sozialer Beziehungen zu rechnen ist. Ein Tausch mit ungleichen Ergebnissen ist nicht nur im ökonomischen Kapital möglich, sondern betrifft auch das soziale, kulturelle (Bourdieu 1986), das Lern- und Körperkapital (Reich 2018 a), das Naturkapital (Wackernagel et al. 1999). Die Verteilung der Kapitalformen unter den Menschen wirft immer die Frage nach sozialer Gerechtigkeit auf (Reich 2020). Der mit dieser Entwicklung ausufernde Materialismus zeigt sich für Polanyi weniger als materielle Verelendung oder als Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, sondern als grundsätzliche kulturelle und soziale Verwahrlosung. Menschen sprechen viel von Solidarität, aber ihre tatsächlichen gegenseitigen Hilfen und Unterstützungen bleiben stets auf ein überschaubares Maß begrenzt. Heute lässt sich hier nahtlos die nachhaltige Ignoranz anschließen. Sie spiegelt sich in einem Materialismus, der immer allumfassender das menschliche Leben durchdringt (Miller 1987, 2005) und wenig Raum für alternative Ideen lässt.

Polanyi wird heute von jenen gern zitiert, die den Staat in der Verantwortung sehen, die Märkte zu regulieren und die Nachhaltigkeit stärker durchzusetzen. »Die Wahrheit ist, dass die moderne Ungleichheit deshalb existiert, weil die Demokratie aus der ökonomischen Sphäre ausgeschlossen bleibt.« (Wilkinson & Pickett 2010, 264) Enden damit alle Nachhaltigkeitsfragen in der Ökonomie schon von Anbeginn an?

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2

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