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Die Vertreibung aus natürlichen Rhythmen in die Zeitkontrolle

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Der Jahresablauf im Rhythmus der natürlichen Produktionsphasen einer Feudalgesellschaft verwandelt sich mit der Industrialisierung in ein neues Denken, in dem alles in Zeit gemessen und in Geld verwandelt wird. Die Zeit wird rationalisiert; Kalender, Uhren, Maßstäbe effektiv genutzter Zeit gegenüber einem Müßiggang verweisen darauf, dass die Zeit in einer Gegenwart mit beschränktem Ende gelebt und genutzt werden muss. Die Arbeit rückt ins Zentrum einer Schaffenskraft, die auf eine Vermehrung der materiellen Dinge und des Wohlstands setzt. Dabei entwickelt der Mensch eine Haltung, die gesamte Welt von sich aus, von seinen Bedürfnissen und dem wachsenden Wohlstand her zu denken, ohne Rücksicht auf Verluste bei ärmeren Klassen, in fremden Ländern oder für die Umwelt zu nehmen. Um die Ausbeutung des Menschen zu bremsen, entsteht eine Arbeiterbewegung als Gegenkraft. Um die Natur und Umwelt oder fremde Völker zu schützen, dazu fehlen nachhaltige Bewegungen von Anfang an.

Thompson (1967) zeigt etwa, wie Zeit und Macht innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verschränkt eingesetzt werden. Die Kontrolle der Zeit steht dabei im Fokus in der Organisation der Industrie wie des Lebens. Er analysiert, wie die Arbeitsverhältnisse im Übergang von der Feudalzeit in die Industrialisierung durch mechanische, lineare Zeitmessungen ersetzt und wirksam gemacht wurden. Hierzu gehört insbesondere der Einsatz von Uhren und die genaue Bestimmung von kleinen und gut definierten Arbeitseinheiten. Die Leistungen werden von einer Bewertung in der Gesamtleistung eines längeren Zeitraums zunächst auf Wochen, dann Tage, schließlich Stunden und Minuten festgelegt. Die Kontrolle dieser Zeiten wird immer engmaschiger und subtiler, sie reicht von der persönlichen Überprüfung über die Stempelkarte bis hin zur elektronischen Erfassung der Zeiten. In der Erziehung der Menschen, früher vielfach noch religiös als Tugend zur Arbeitsamkeit und zum Fleiß inspiriert, um ein sittliches Leben zu führen, hat nach Max Weber (1934) insbesondere die protestantische Ethik dazu beigetragen, das Wirtschaftsleben zu effektivieren. Besonders drei Maßnahmen helfen hierbei: eine effektive Betriebsorganisation, die Trennung von Haushalt und Betrieb und eine rationale Buchführung. Diese Maßnahmen sind immer vor dem Hintergrund zu sehen, dass Zeit und Geld gegeneinander aufgerechnet werden.

Während die Landwirtschaft noch länger den Nutzungsmöglichkeiten in natürlichen Zeitabläufen folgte und erst nach und nach industrialisiert wird, so wird alle Waren produzierende Arbeit unter Zeitdruck gestellt, damit sich durch Zeitersparnis der Gewinn vergrößert. Je weniger Zeit nötig ist, um etwas herzustellen, desto kostengünstiger kann es produziert werden. Von vornherein steht eine Produktivitätsmaximierung im Vordergrund, eine Ressourcenschonung oder Umweltschonung, selbst eine Gesundheitsschonung sind zunächst kaum im Programm der Moderne.

Das absehbare Ende der eigenen Lebenszeit mag in der Unendlichkeit religiös nach einem »Jüngsten Gericht« enden, aber bis dahin scheint es genau die Erfolgsaufgabe dieser Lebenszeit zu sein, die Notwendigkeiten des Tages zu ergreifen und das eigene Leben abzusichern. Besonders die Entwicklung eines anwachsenden Privateigentums gilt als ein Königsweg der Zeitnutzung.

Die Ereignisgeschichte beschleunigt sich durch die neuen Möglichkeiten zur Zeitkontrolle: Ab jetzt erscheint die Vergangenheit im Rückblick als sehr langsam. Etwa die natürliche Geschwindigkeit von Menschen oder Pferden wird als langsam wahrgenommen, seit die Dampfkraft und die Motorisierung die Welt beherrschen. Die Jahreswechsel und Ernten, die ehernen Rituale der Geburt und Heirat, wie auch festgelegte Feste der Erinnerung bleiben zwar, spielen aber in den Städten und auf den Märkten eine zunehmend geringere Rolle. Früheren Zeiten selbst kultureller Hochentwicklung war diese neue Art Beschleunigung in der Ereignisgeschichte fremd, aber auf dem Boden der langen Zeit, der longue durée vor dem Hintergrund des Anwachsens der Produktion und der Mehrwerte, nimmt die Beschleunigung immer weiter zu.

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2

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