Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjørnstad - Страница 11

7.

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Robert Mugabe kehrt nach fünfjährigem Exil nach Rhodesien zurück. Ich sitze zusammen mit Tore Olsen im Frognervei. Im großen Wohnzimmer im ersten Stock. Tore kommt von nirgendwo und wird in viel zu wenigen Jahren in dieselbe Richtung verschwinden, auf einer kurvenreichen Winterstraße zwischen Schweden und Norwegen. Alle haben ihn geliebt. Er ist ein sogenannter Loner unter den Musikjournalisten. Deshalb scharen die sich um ihn. Er ist Redakteur der Musikzeitschrift Puls. Dort schreiben die Leute mit den jungen, starken Meinungen. Für kurze Zeit glaubte ich, einer von ihnen zu sein, aber ich stand zu sehr auf der anderen Seite. Ich war nicht der, der zuhörte. Ich war der, der spielte. Dennoch wurden wir aufeinander zugetrieben, als sich die Zeitungen für Rock und Pop öffneten. Ich schrieb für Aftenposten. Tore wollte für Blikk schreiben, die neue Zeitung von Trygve Hegnar. Er wollte mich mit ins Boot holen. Ich zögerte. Ich wollte eigentlich nicht schreiben. Nicht so. Als Pionier. Für den neuen, unabhängigen Musikjournalismus kämpfen. Wie kann man unter Trygve Hegnar unabhängig sein. Bei Puls ist das anders. Alle neuen Generationen entwickeln ein dichtes Netz von mehr oder weniger Intellektuellen, die die Prämissen setzen. So war es zu Hans Jægers Zeit, zu Johan Borgens Zeit, zur Zeit der Studentenbewegung. Diese selbstsicheren jungen Journalisten machten eine Musikzeitschrift, wie sie in Norwegen bisher noch niemand gesehen hatte. Bisher hatten wir Melody Maker, Down Beat und New Musical Express gelesen. Jetzt lasen wir Puls und die fähige Konkurrentin Nye Takter. Die Botschaft von beiden war klar: Don’t bore us. Come to the chorus. Für mich, der sich mit Klavierkonzerten und Symphonien beschäftigt hatte, die niemals weniger als dreißig Minuten dauerten, war es noch immer seltsam, eine Welt zu betreten, in der jedes Lied nach höchstens vier Minuten zu Ende war. Ich hatte die Methode für Leve Patagonia und Och människor ser igjen und teilweise auch bei Tidevann angewandt. Strophe und Refrain. Strophe und Refrain. Aber das war nicht genug. Was zählte, war der Inhalt. Diese jungen und begabten Journalisten wussten, wie die Musik zu klingen hatte, was gut war und was schlecht. Das Arroganzniveau war so hoch und oft so erschreckend, dass es mir unvorstellbar erschien, jemals mit einer dieser Meinungstrompeten gemeinsame Sache zu machen, ja, sie sogar in den neunziger Jahren heiraten zu sollen. Diese Mischung aus Faye Dunaway, Kim Novak, Jane Fonda und Catherine Deneuve. Die Allererste, die genauso war wie eben sie. Die blonde Bombe an sich, C., die ich später Cruella de Vil nennen sollte, das war in scherzender Stimmung, zugleich aber kam ich mir vor wie ein ängstlicher, schwanzwedelnder Dalmatiner. Bewunderung und Ehrfurcht. Denn ich hatte schon angefangen, um diese Menschen herumzuscharwenzeln, versuchte, mich hip und urban zu machen. Hatte angefangen, mich von den selbstgestrickten Pullovern zu verabschieden, war in meine erste Matinique-Boutique gegangen und hatte Hose und Hemd aus mercerisierter Baumwolle erstanden. Immer, wenn ich in Oslo war, wollte ich mit diesen Menschen zusammen sein, wollte ein Teil der guten Gesellschaft werden, der neuen Profilgruppe, diesmal in der Welt der Musik. Sie ließen das aber nicht einfach zu. Sie konnten einen Speichellecker schon auf meilenweite Entfernung entlarven. »Aal in einem Eimer voll Rotz«, wie einer von ihnen sagte. Sie standen nicht auf der Bühne. Sie saßen im Dunkeln und hörten zu. Wenn wir auf dem Podium standen, wussten wir nie, wo im Saal sie waren. Sie blieben für sich. Hatten ihren Geheimcode und waren auch keine Modelöwen der oberflächlichen Sorte. Wenn sie sich dazu herabließen, etwas zu kaufen von dem Geld, das sie vermutlich nicht hatten, dann etwas Teures. Sie waren eine eng verwobene, rauchende Clique mit Büro irgendwo in der Nähe von Bankplassen. Sie waren der neue Wein und die stinkenden Socken zugleich. Sie befanden sich irgendwo zwischen Sexbombe und Brillennerd, mit dem brutalen und zugleich so unwiderstehlichen Tore Olsen und seinem Freund Tom Stiklesæther, dem es gelang, Grünerløkka aussehen zu lassen wie die Lower East Side, wenn er nur durch die Thorvald Meyers gate ging. Mit dem filmstardunklen Jan Omdahl, der wie eine Kreuzung aus Elvis Presley und Robert de Niro wirkte. Wenn ich gewusst hätte, dass der Bluesprofessor Øyvind Pharo mein Verlagslektor werden sollte, hätte ich mich gefragt, ob mir jemand LSD untergeschoben hatte. Was sie miteinander verband, war die Liebe zur Musik. Die Verachtung des Mittelmäßigen, des Pompösen und des Lächerlichen. Alles, was ich nicht wusste, rettete mich. Deshalb sitzt Tore Olsen an einem Vormittag im Februar bei mir zu Hause und zögert. Er mochte nicht als einer von vielen ins Hotel Ambassadør kommen, zusammen mit verachtenswerten Publikationen wie Dagbladet und VG. Er musste trotz allem mit einem Minimum an Respekt behandelt werden, wie er mit einem Lächeln sagte. Dieser seltsame und melancholische Mann, der mich bisweilen an Humphrey Bogart erinnerte. Ich habe ihm soeben das Titelstück vorgespielt, Tidevann.

»Doch, das ist gut. Natürlich ist das gut.« Er zieht eine fast unsichtbare Grimasse. Als ob er sich darauf vorbereitet, eine faule Tomate runterzuschlucken.

»Ja, sind die Musiker nicht hervorragend? Die Begleitung durch Venaas und Thowsen? Riisnæs und Eberson, die sich gegenseitig hochspielen?«

Noch heute kann ich meine junge, naive Stimme hören. Die Teetassen auf dem weißen IKEA-Tisch. Tore, der ein Nicken andeutet, auch wenn er eigentlich den Kopf schüttelt.

»Das gefällt dir wirklich?«, fragt er freundlich. Ich bemerke den Spott nicht sofort. Ich tappe nichtsahnend in die Falle. Er ist genau wie Rowan Atkinson und Griff Rhys Jones in Not the Nine O’Clock News, wo dem armen Mel Smith, der ein Grammofon kaufen will, am Ende Ketchup ins Gesicht gespritzt wird.

»Als wir diese Spur gemischt haben, habe ich gedacht, alles andere hätte ungeschehen bleiben können«, sage ich und schlucke eilig. Ein sicheres Anzeichen für plötzliche Unsicherheit.

»Du bist nicht auf den Gedanken gekommen, es könnte zu gut sein?« Tore Olsen zieht wieder diese unheilverkündende Grimasse.

»Wie kann irgendwas zu gut sein?«

Er zögert. Schluckt ebenfalls. Bestimmt um ein spöttisches Lächeln zu verbergen, denke ich. Er ist der Kritiker, der seinen Standpunkt finden will. Den Kipp-Punkt. Er ist der Wiener Kritiker Eduard Hanslick, der fand, Tschaikowskis Violinkonzert stinke. Plötzlich begreife ich, worauf er hinauswill. Vielleicht habe ich es zum ersten Mal geschafft, sein umwerfendes Ego zu erkennen. Ich bin zwar selbst Kritiker, sehe mich aber nur als jemanden, der den Lesern den Weg weist. Tore Olsen will auch die Musiker beeinflussen. Aus diesem Gedanken ergibt sich die selbstverständliche Überzeugung, dass der Kritiker die Bedingungen vorgibt. Es ist die verdammte Pflicht der Musiker, sich danach zu richten. So hat sich die Kritik von Kunst, Musik und Literatur ohnehin immer schon verhalten, und jetzt mehr denn je. Aber die Besten, die Reflektiertesten und Präzisesten haben eine Botschaft. Sie werden respektiert, weil ihre Meinungen auch für die von Bedeutung sind, die kritisiert werden. Sie sind nicht wie ihre Kollegen, die Schlagzeilenlieferanten. Die Mobber. Die, an die ich denke, während ich im Flughafen von München schreibe, auf dem Heimweg zum Jubiläumskonzert eines lieben Freundes und Musikers. Der Kritiker, der es damals gewagt hat, ihm von sechs möglichen Punkten einen zu geben. Der, der nicht gut genug zugehört hatte. Torheit, verkleidet als Wissen. Wie das Geräusch eines Luftballons, wenn er seinen Inhalt aus sich herauszischt, in die Luft und hinein ins Rampenlicht jagt, um danach zu Boden zu fallen wie ein undefinierbares Häuflein.

»Das gefällt mir nicht«, sagt Tore Olsen, plötzlich ein bisschen verlegen.

»Aber hörst du nicht, dass Pete und Ebers die Dreigriff-Gitarristen, die du mit deinem verdammten Polizeikorps die ganze Zeit hochjubelst, in Grund und Boden spielen?«

»Doch, die sind natürlich tüchtig.«

»Tüchtig!? Und was ist mit Pål, Terje, Trond und Knut? Eine bessere Band findest du nirgendwo. Knut ist im Moment vielleicht einer der weltweit besten Saxophonisten. Pål macht Paul Motian zu einem Tanzkapellenmusiker, Terje lässt Jaco Pastorius lächerlich wirken, und Trond Villa ist ein Geschenk an die Menschheit.«

»Doch, die sind alle tüchtig. Auf ihrer Weise.« Tore rutscht im Sessel hin und her.

»Du wirst uns also eine zurückhaltende Kritik schreiben und stattdessen die Superlative für eine Drecksband aus Rakkestad aufsparen, wo der Drummer so angeknallt ist, dass er mit den Stöcken nie das Becken trifft?«

»Ich kann verstehen, dass du aufgebracht bist«, sagt Tore Olsen peinlich berührt. »Aber ich muss doch meine Meinung sagen. Das ist meine verdammte Pflicht. Dass etwas gut ist, rein technisch, bedeutet nicht, dass der Inhalt gut ist. Sieh dir nur die übelsten naturalistischen Maler an. Überdeutliche Metaphorik.«

»Du klingst jedenfalls mitfühlend«, sage ich tröstend, ohne zu wissen, wen ich hier überhaupt zu trösten versuche.

Er beunruhigt mich. Er ist Verbündeter und Widersacher zugleich. Und dennoch wird er nie zu meinem Freund. Nicht auf die tiefe, vertrauliche Weise. Egal, was Ole macht, ich werde sein Freund sein. Ich werde seine Entscheidungen akzeptieren, so unmöglich sie auch sein mögen. Ich werde durch dick und dünn mit ihm gehen. Er wird das auch für mich tun. In dieser Art Freundschaft gibt es keinen Platz für scharfe Kritik. Aber für Tore Olsen ist etwas anderes wichtiger. Die Wahrheit über die Musik, so wie er sie erlebt. Manchmal, wenn er den Kopf hebt und meinen Blick sucht, liegt dort etwas Suchendes, als erwarte er eine Kapitulation oder vielleicht ein Eingeständnis: »Ja, das ist wirklich schlecht. Ich weiß, dass du die Wahrheit sagst.« Und wenn ich etwas sage, huscht ein Hauch von Erstaunen über sein Gesicht. Etwas fast Verwirrtes. Als habe er allen Ernstes geglaubt, dass ich mich nach all diesen Monaten der Vorbereitungen und der Aufnahmen seinem Gedankensystem einordnen und sagen könnte: »Ja, sicher. Du hast recht. Das ist wirklich schlecht. Schade, dass wir das nicht schon im Studio begriffen haben. Jetzt werde ich die Polygram bitten, die ganze Kiste zurückzuziehen.«

Aber das sage ich nicht.

»Noch Tee?«

»Nein, danke.«

Er steht auf. Wischt sich die Krümel der Rosinenbrötchen ab.

»Gute Rosinenbrötchen kannst du immerhin backen«, sagt er.

»Die habe ich bei Møllhausen gekauft«, sage ich.

»Die sind trotzdem gut«, sagt er.

Die Welt, die meine war

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