Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjørnstad - Страница 16

12.

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Zum ersten Treffen mit Lill war er mit dem Flugzeug gekommen. Diesmal muss er die Bahn nehmen. In Schweden wird heftig gestreikt. Alle Flüge sind gestrichen. In Radio und Fernsehen gibt es immer neue Nachrichten. Die Leute hamstern wie verrückt. Die Gewerkschaften hatten genug, als Ministerpräsident Fälldin dieselbe Art von Lohn- und Preisstopp einführen wollte wie in Norwegen. Der Streik ist so umfassend, dass es den von 1909 übertrifft. Er sitzt im Zug und denkt, dass die Schallplattenaufnahmen vielleicht auch abgesagt werden. Dass auch die Musikergewerkschaft den Streik ausruft. Diese Vorstellung ist eher beruhigend. Für einen Moment hofft er, dass es so weit kommen wird, denn Herausforderungen hat er noch nie gemocht. Er ist wie der Hund im Zirkus, der zum tausendsten Mal durch den Reifen springen soll. Er weiß nur zu genau, was er zu tun hat. Dennoch zögert er. Und er hat noch immer nicht begriffen, wozu das gut sein soll. Natürlich begreift der Bjørnstad-Junge, wozu diese Schallplattenaufnahme gut sein soll. Es ist zudem eine große Ehre. Aber muss er das wirklich tun? Den Erwartungen entsprechen? Beim vorigen Mal war er nervös, angespannt und außer Kontrolle geraten. Norweger rechnen nie damit, von Schweden ernstgenommen zu werden. Für die Schweden sind und bleiben sie Stallwichtel, eine unterhaltsame Zutat, eine jämmerliche Nation, die damals, 1905, in vollem Ernst aus der Union ausbrechen wollte. Es reichte nicht, einen eigenen Außenminister zu haben. Sie wollten alles. Deshalb wurden sie zu einem anstrengenden Nachbarn, der ein wenig zu sehr herumquengelte, zu einem Irritationsmoment, wie eine Mücke im Zimmer, eine Nation, die nun anfing, sich mit ihrem Öl großzutun. Niemand wusste besser als die Schweden, dass der Krieg damals zum Greifen nahe gewesen war. Die verrückten norwegischen Generäle, die tief in den Wäldern jenseits der Grenze standen mit ihren Säbeln, Schnurrbärten und Gewehren. Und irgendwann mussten sie es begriffen haben, die Norweger, dass sie ein anstrengender Nachbar waren. Als die Schweden es nicht über sich brachten, in den Zweiten Weltkrieg einzutreten, lagen die Norweger in Dickicht und Unterholz und suchten nach Zündhütchen. Aber dort, im Zug, fragte er sich zum ersten Mal, ob dieses etwas plumpe Selbstvertrauen, das den Norwegern immer angehaftet hatte, daran schuld war, dass sie sich niemals mit schwedischen Augen sehen konnten. Sie konnten nicht sehen, wie die Schweden sie zum Besten hielten. Das Lächeln, das die Schweden zu verbergen versuchten, wenn sie auf den schwedischen Campingplätzen in Värmland oder Bohuslän Norweger sahen. Wie jämmerlich diese Exemplare aus diesem unbeholfenen Nachbarland wirkten, wenn sie durch die Straßen von Stockholm gingen und die monumentalen Prachtbauten anglotzten. Norweger wussten nicht, dass der schwedische Adel, in vollem Ernst, noch immer darüber diskutierte, wer wirklich im Jahre 1792 hinter dem Mord an Gustav III. gestanden hatte. Sie wussten nicht, wie lächerlich die Schweden ihre Anwesenheit fanden, wenn sie in Restaurants wie Riche oder Operakällaren saßen. Sie merkten nicht, wie gut sie zu hören waren mit ihren lauten, kläffenden Stimmen. Wie Norweger nach dem Essen die Rechnung anstarren und staunen konnten, weil der Krabbencocktail wirklich so teuer war. Deshalb wusste er, dass es vielen Freunden von Lill Lindfors unbegreiflich vorkommen musste, dass sie jetzt mit einem jungen und komplett unbekannten Liederschreiber aus Norwegen liebäugelte. Ihr allein gehörte doch der Norden! Sie war die Einzige. Er wagte nicht einmal, daran zu denken, wie viele sexuelle Träume ihr von den Zuschauern übergestülpt worden waren, aus den Zimmern der Knaben und vielleicht sogar aus den Zimmern der Mädchen. Alle liebten sie doch, diese Finnlandschwedin mit der herrlichen tiefen Stimme, der perfekten Betonung und Phrasierung. Sie war nicht wie die sonstigen Glanzbilder von Sängerinnen. Sie stellte sich der Presse gegenüber nicht als unschuldiges Opfer dar. Keine hoffnungslosen Verliebtheiten oder Geständnisse. Keine Offenbarungen oder Selbstkritik, die die Schlagzeilen aktivierte. Alle wussten, dass sie geschieden war, dass sie eine Tochter hatte und nun mit Brasse Brännström zusammenlebte, dem Komiker und Schauspieler, den ganz Schweden liebte. Um diese Zeit hatte sie zudem bereits mit ihren feministischen Programmen begonnen, bei denen Mördartango der unbestrittene Favorit war. Sie ging immer in die entgegengesetzte Richtung von der erwarteten. Aber sie verspottete niemanden.

Was wollte sie von ihm, hatte er sich gefragt. Draußen auf Hauketangen war Hans Petter auf dem Steg zurückgezuckt, als er erzählt hatte, wohin er unterwegs war. »Lill Lindfors?« Ja, verdammt. Hans Petter starrte ihn mit vielsagendem Blick an. Den Film, der jetzt im Kopf des Freundes ablief, wollte er nicht sehen. »Wir machen nur eine LP«, sagte er lachend. »Ach, LP nennt man das heute«, sagte Hans Petter und verdrehte die Augen. »Du musst mir glauben«, flehte der Bjørnstad-Junge.

Beim ersten Mal war alles so hart und fremd gewesen. Ich war schon einmal auf Arlanda gelandet, zusammen mit der Anderen. Aber damals war die Adresse Lord Nelson in Gamla Stan gewesen. Diesmal war es Hotel Diplomat im Strandväg. Vater hatte dieses Hotel oft erwähnt. Eine seiner großen Reisen nach Stockholm, vor vielen Jahren. Eine der Reisen ohne Mutter, die das Verreisen hasste. Vater errötete immer, wenn er von diesem Aufenthalt sprach. Und Mutter bekam schlechte Laune. »Was hattest du denn in Stockholm zu suchen?«, fragte sie dann. Und Vater verzog die Mundwinkel zu diesem bitteren Strich, der ihm so wenig stand. »Es ging um die Fachpresse, Alfhild! Das weißt du genau!« – »Aber du musstest sofort ins Bett, als du nach Hause gekommen bist.« – »Alfhild!«

Ich fühlte mich schuldig, als ich in diesem traditionsreichen Hotel in dem schönen Jugendstilgebäude eincheckte. Als wäre es ein Verrat an der, mit der ich zusammenlebte, dass ich es ohne sie tat. Zugleich, sagte ich mir, war es doch mein Beruf. Das, wovon wir leben mussten, alle beide.

Glaubte irgendwer, ich hätte eine Affäre mit Lill? Hatte Hans Petter deshalb die Augen verdreht? Niemand von uns wollte sich doch im Glanz bekannter Menschen sonnen. Ich am allerwenigsten. Die Andere verließ sich blind auf mich. »Gute Fahrt« hatte sie gesagt und mich umarmt. »Arbeite dich nicht kaputt. Versuch, dich auch ein bisschen zu amüsieren.«

Das leere Hotelzimmer. Es gelang mir nicht, dieses Zimmer zu füllen. War ich hier nicht in der Nähe des Hauses, in dem Wallenberg gewohnt hatte? War ich nicht umgeben von Grafen, Lords und Baronen? Ach, ich kam mir ja so durch und durch norwegisch vor. Lennart Hyland zeigte ein nachsichtiges Lächeln, wenn er Norweger interviewte. Man glaubte immer, dass er in einem unpassenden Augenblick lachen würde. Dieses verdammte schwedische Feixen. Das in Lills Brief nicht zu finden gewesen war. Ich weiß noch, wie ich den Umschlag aufgeschlitzt hatte. Es war, wie einen Brief von dem Playmate des Monats zu öffnen. Sophia Loren oder Simone de Beauvoir. Oder, warum nicht, von der Finnlandschwedin Edith Södergran, obwohl sie tot war. Lill war ja auch Finnlandschwedin. Hatte dieses Direkte und Ungekünstelte. Wenn sie auf der Bühne flirtete, lag immer Humor in ihrem Blick. Das Schlimmste waren doch die, die ohne Humor flirteten. Dass sie sich wirklich für attraktiv hielten. Dass sie glaubten, die Männer sabberten nach ihnen. Ich las den Brief und mir war klar, dass sie von mir vor allem Texte wollte, dass sie mich ganz bewusst als Karrieredowner ausgesucht hatte, um sich den Erwartungen an noch mehr Sinnlichkeit zu entziehen. Natürlich. Wie damals, als Bowie nach Berlin gereist war. Um etwas anderes zu machen. Einen Norweger zu bitten, eine ganze LP zu schreiben, wenn man die sexyste und beliebteste Künstlerin im ganzen Norden war, hätte ausgereicht, um sie in eine Irrenanstalt zu sperren. Und dann gab es ja auch noch diesen Aller, der sich um ihre Geschäfte kümmerte. Ich wusste nicht, was er eigentlich dachte. Ich wusste nur, dass ihm unmöglich zusagen konnte, was jetzt passierte. Dass ein Mann aus dem Hurzel-Purzel-Land herkommen und sich als Liederschreiber aufspielen sollte.

Beim ersten Mal war ich mit dem Taxi hinaus nach Täby gefahren. Obwohl das Haus im Svängveg nicht elegant im Hollywoodsinn war, mit Disney-Lösungen, Türmen und Fledermäusen in allen Ecken, hatte es Stil. Hier wohnte sie also, zusammen mit ihrem verführerischen Brasse, der, ebenso wie sie, alle hätte haben können, wenn er gewollt hätte. Sie waren noch immer jung. Lill war 39. Reif, aber nicht so reif, dass sie vom Ast gefallen wäre. Im Gegenteil, ihre Erfahrung schenkte ihr neue Vitalität. Dass sie sich traute. Dass sie den Lippenstift vergaß. Dass sie den Menschen in die Augen schaute.

Sie öffnete die Tür, barfuß, als Geste der Erinnerung an unsere letzte Begegnung, als sie im Talent Studio in Oslo die Sandalen abgestreift und die Oda-Lieder aus Leve Patagonia aufgenommen hatte. Die braunen Locken fielen ihr auf die Schultern. In diesem Moment war sie atemberaubend schön. Wir umarmten einander, verlegen, als hätten sie oder ich bereits zu viel gesagt. Aber wir hatten noch gar nichts gesagt.

»Komm rein«, sagte sie.

»Danke«, sagte ich.

»Stimmt was nicht?«

»Ich war einer Ikone noch nie so nahe.«

Sie schnaubte. »Für solchen Blödsinn haben wir keine Zeit, Ketil. Außerdem warst du genauso nah, als wir Leve Patagonia aufgenommen haben.«

»Ja, aber da habe ich nicht einmal gewagt, daran zu denken, was du für eine große Künstlerin bist. Jetzt versuche ich nur, dir zu erzählen, dass ich Versagensangst habe.«

Sie streichelte rasch meine Wange.

Ich war zum Mittagessen eingeladen. Später würden wir die Melodien und Texte durchgehen, die ich bisher geschrieben hatte.

Ein großes schwarzes Kaninchen lief frei im Haus herum. Ab und zu redete sie mit ihm wie mit einem Menschen. Lill war ein Mensch, wie ich selbst so gern einer gewesen wäre. Eine, die in sich ruhte, die nicht herumquengelte, um zu verstehen oder verstanden zu werden, die von ihrer Karriere offenbar nicht zerstört worden war, von dem Ruhm, den ihr die gewaltigen Verkaufserfolge und die Revuen mit den größten Komikern und Bühnenpersönlichkeiten Schwedens gebracht hatten. Sie strahlte eine Ruhe aus, die ich selbst niemals besessen hatte. Sie suchte nicht nach Kontrolle, denn sie hatte sie, war vorbereitet auf das, was kommen würde, selbst wenn sie nicht wusste, was es war. Ich dachte daran, dass sie eine Scheidung hinter sich hatte, dass sie ein Kind hatte. Aber sie hatte keine Angst vor ihrer eigenen Vergangenheit, konnte offen darüber sprechen, vor allem, als die Rede auf die Lieder kam, die ich schreiben wollte.

Als ich mit der Bahn durch das vom Streik getroffene Värmland fahre, wird diese Begegnung, die einige Wochen zurückliegt, für mich lebendig. Der Frühling ohne Jean-Paul Sartre, ohne Alfred Hitchcock. Erich Fromm war ebenfalls gestorben. Mutter hatte eine besondere Beziehung zu Die Kunst des Liebens gehabt. Was hatte sie daran so stark berührt? Zu Hause hatte immer Vater die Rolle des Intellektuellen gespielt, aber es war Mutter, die Beauvoir und Friedan ins Haus brachte. Und Jung und Fromm. Mit Sartre konnte sie dagegen nichts anfangen. »Dieser versoffene Chauvi und Hurenbock«, sagte sie nur. Bei Lill zu Hause im Wohnzimmer standen die Bücher von allen. Sie hatte auch Bücher mit Widmung von einigen der bedeutendsten Autoren Schwedens. Von mir wollte sie Texte, die von etwas handelten, so wie Leve Patagonia von Bohème, Liebe und Utopien gehandelt hatte. Aber nach all diesen Jahren mit Ole wusste ich, dass Liedertexte das Schwierigste waren, schwieriger als Gedichte, schwieriger als Romane. Ein Liedtext bestand immer aus Strophe und Refrain. Ich dachte an Ole, der seine Lieder immer schnell schrieb, der sie auf Servietten kritzelte, in Flughäfen, Hotelzimmern, Zügen, in Garderoben. Ich selbst zögerte, saß allein in dem Zimmer, das mir die Schule ganz hinten im Internat zugewiesen hatte, hörte die Geräusche der Schüler, die in ihren Zimmern saßen und miteinander redeten. Die Geräusche eines Kassettenrekorders, ein plötzliches lautes Lachen. Was war es doch für ein Glücksspiel, Popstücke schreiben zu sollen, wenn man damit Geld verdienen musste. Ich wusste, dass Lill nicht an Geld dachte. Dann hätte sie sich nicht an mich gewandt. Aber die LP würde von Anders Burman produziert werden, damals einer der angesehensten und wichtigsten Produzenten Nordeuropas. Die Vorstellung machte mir Angst, Burman zu treffen, der mit Cornelis Vreeswijk, Fred Åkerström, Lill Lindfors, Alice Babs, Agnetha Fältskog, Bernt Staf und Pugh Rogefeldt im Studio gewesen war, obwohl ich mich auch gewaltig darauf freute, meine Lieder in dem früheren Metronome-Studio aufzunehmen, in dem auch der ABBA-Techniker Michael B. Tretow gearbeitet hatte. Ich würde für ein Streichorchester schreiben, und Marie Bergman war als Chorsängerin angeheuert worden. Das waren für mich wahnsinnig starke Namen. Ola Brunkert. Er war der feste Schlagzeuger von ABBA, hatte an all ihren Schallplatten mitgewirkt und war soeben von der dritten großen Welttournee zurückgekehrt. Auf welchen Bühnen hatte er nicht gestanden? Arenen, Fußballstadien, Madison Square Garden. Jetzt würde er eine Woche im Studio verbringen, zusammen mit vier Musikern, Lill Lindfors und einem vollkommen unbekannten Norweger, der noch dazu alle Lieder geschrieben hatte. Also nicht Mamma Mia und Dancing Queen, sondern Finnes du noensteds i kveld und Canto Libre. Jetzt bloß nicht zum lächerlichen Norweger werden. Nicht zum Stallwichtel. Nicht zu glauben, dass ich diese Produktion machen kann, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Künstlerin sonst Tausende von Platten verkauft, dass Metronome, die soeben von Warner aufgekauft worden waren, erwarteten, dass ihre fixe Idee mit diesem Norweger die Kassen zum Klingeln bringen würde. Hoch oben in Hallingdal hatte soeben der Frühling begonnen. An den Hängen lagen Schneereste, das gefrorene Laub des Vorjahres bedeckte den Boden und taute nun langsam auf. Der Staub der winterlichen Spikesreifen auf dem Asphalt. Hier hätte ich auch wohnen können. Ich hätte mich nicht versteckt, sondern mich gefunden, mich nicht von den Erwartungen anderer ablenken lassen. Es waren so wenige Akkorde nötig für einen Hit, der um die ganze Welt ging. F-Dur, G-Dur, C-Dur. Vielleicht ein a-Moll zur Abwechslung. ABBA hatten das immer wieder geschafft. Warum ging Lill nicht zu Benny Andersson und Björn Ulvaeus? Hitproduktion war für Fortgeschrittene, für Aktienmakler und Zyniker. Aber nun stand ich bei Lill in der Küche und starrte sie an, während sie in ihrem lila Baumwollrock und der weißen Bluse Eier mit Speck für uns briet, sich Zeit ließ, den krossen Speck auf Küchenpapier legte, damit das Fett abfließen könnte, während die Frühlingssonne vor den riesigen Küchenfenstern schien und ich dachte, sie nähere sich vielleicht der Midlifecrisis, bei der alle aus ihrem Leben ausbrechen und sich für etwas ganz anderes entscheiden können, etwas absolut Falsches. Ich durfte nicht zum Symbol für diesen Fehlgriff werden, dachte ich, ohne zu wissen, dass ich so dachte wie zweifellos der Sportpsychologe Willi Railo, als er sein Buch Besser sein wenn’s zählt schrieb, das später in den achtziger Jahren erscheinen sollte. Aber noch hatten die Selbsthilfebücher die Gesellschaft nicht mit amerikanischen Slogans überschwemmt. Ich hatte keine andere Methode, um Konzentration und Selbstkontrolle zu erlangen, als Vaters alten Rat, tief und lange in den Bauch zu atmen. Das hatte ich schon seit vielen Jahren gemacht, vor allem, als ich auf dem Podium gesessen hatte vor komplizierten klassischen Klavierstücken. Dann atmete und atmete ich bis zur Lächerlichkeit, und das Publikum fragte sich schließlich, was denn mit mir los sei.

Nach dem Mittagessen, nachdem ich auf der Toilette gewesen war und den Finger in den Hals gesteckt hatte, setzten wir uns hin und sprachen darüber, was auf der Welt geschah. Alles, was sie in diese Lieder einbringen wollte, die Erfahrungen, die sie in Lateinamerika gemacht hatte. Aber wie sollte ich denn Lieder über ihre Erfahrungen schreiben können?

»Du kannst über die Chilenen schreiben, die hergekommen sind in den siebziger Jahren, vor allem nach Schweden. Waren die nicht auch in Norwegen?«

»Nicht so viele wie bei euch.«

»Viele von denen sind enorm stark. Wir merken, dass sie hier sind. Auf positive Weise. Sie wollen zurück in ihr Land und es wieder aufbauen, wenn diese Hölle von Diktatur ein Ende genommen hat.«

Ja, dachte ich, ich könnte über Canto Libre schreiben, das freie Lied. Das mit den Menschen weiterwanderte. Außerdem kam der Saxophonist und Flötenspieler Hector Bingert aus Lateinamerika. Für Lill war er vielleicht der wichtigste Musiker in dieser Band.

An diesem Nachmittag merkte ich, wie dringend Lill etwas über Politik sagen wollte, sich an der gesellschaftlichen Diskussion beteiligen, sich von der unverbindlichen Leere der Popstücke distanzieren.

»Denk doch nur, Mugabe ist an die Macht gekommen. Was denkt jetzt wohl eine Frau wie Doris Lessing?«

»Ja«, ich nickte. Das The Children of Violence-Quintett. Lessings großes Werk, das Mutter und dann auch mich so beschäftigt hatte. Lessings Erfahrungen. Im weißen Rhodesien aufzuwachsen. Jetzt hieß das Land plötzlich Zimbabwe. All die Erwartungen, die sich mit Robert Mugabe verbanden. Und gleichzeitig: die großen Krisen in der Welt, gerade jetzt. Josip Broz Titos Tod, der den gesamten Balkan den Atem anhalten ließ. Die misslungene Aktion der USA in der Wüste bei Teheran.

»Aber daraus kann ich keine Lieder machen«, sagte ich.

»Natürlich nicht«, sagte sie.

»Aber ich kann über die Zeitungsbotin schreiben, die mir jeden Morgen auf dem Frogner plass begegnet ist, Ende der sechziger Jahre. Sie hatte eine andere Tour und war oft früher da als ich, um ihre Zeitungen zu holen. Aber manchmal bin ich ihr begegnet. Und habe in ihre alternden Augen gestarrt.«

»Ja, schreib darüber.«

»Und alle Nachrichten, die sie den Menschen im Viertel gebracht hatte. Das ganze Grauen. Die Verzweiflung. Was ist jetzt mit dem Flüchtlingsstrom aus Kuba? Den über zehntausend Menschen, die sich in der peruanischen Botschaft in Havanna aufhalten? Castro, der viele von ihnen ausreisen lässt?«

»Aber darüber steht doch immer weniger in den Zeitungen!«

»Da steht etwas über den Boykott der Olympischen Spiele in Moskau.«

»Ja, was meinst du dazu?«

»Ich finde, es ist seltsam, dass Norwegen, das immer für die USA mit dem Schwanz wedelt und das sogar im Norden an die Sowjetunion grenzt, diese Olympiade boykottiert, wenn ihr in Schweden und in den anderen nordischen Ländern das nicht tut. Und auch nicht Großbritannien, Italien, Spanien, Österreich.«

»Ihr tut das, weil die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert ist.«

»Und warum ist die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert?«

»Hatte deine Zeitungsbotin sich dazu nichts überlegt?«

»Vielleicht? Sowjetische Unterstützung für den Kampf der marxistischen Regierung für Bodenreformen, Frauenstimmrecht, Verbot von Zwangsverheiratungen, in einem Land mit einem Gewimmel von muslimischen Stämmen, die sich die Scharia wünschen. Aber wer wagt, darüber ein Lied zu machen?«

Ich denke an das Lied Sara. An Daniels bok, Regent Street, Och människor ser igjen, das der Schallplatte schließlich den Titel gab. Texte, die durch Gespräche entstanden. Melodien, die zu schreiben ich von ihr indirekt gezwungen wurde. Sie wusste nicht, wie es um mich stand. Für Leve Patagonia hatten wir nur bei zwei Liedern zusammengearbeitet. Diesmal waren es elf. Jetzt, wo ich das hier schreibe, lasse ich diese 36 Jahre alte Produktion laufen und höre, wie begeistert Lill ist, mit welcher Glut sie singt, wie sie meine Melodielinien noch weiter ausdehnt, als ich das für möglich gehalten hätte. Wie sie ihnen überraschende Betonungen gibt und welche Punkte sie hervorhebt. Die Stimmung im Studio war engagiert und konzentriert. Der Wunsch, zusammen etwas zu erschaffen. Ich war so nervös gewesen, als ich in der Stockholmer Centralstation angekommen war. Am nächsten Tag wollten wir uns im Studio treffen. Alles, was ich noch nicht wusste. Ich hatte den ganzen Abend frei. Es war ein Maiabend mit plötzlicher Wärme. Nachdem ich im Diplomat eingecheckt hatte, drehte ich eine Runde durch die Stadt, merkte, dass mich meine Füße zu den Sexshops und den Kaschemmen in den Seitenstraßen trugen, alles war so anders als in Oslo, so unerwartet offen. Das überraschte mich. Ich hatte geglaubt, mich in einer der Hauptstädte des Feminismus zu befinden. Ich hatte nicht gewagt, das Lill gegenüber zu erwähnen. Es war vor allem Neugier. Ich ging vorbei. Musste vorbeigehen. Sagte mir, dass jeder anständige Mann an solchen Orten vorbeigeht. Natürlich. Ich ging hinüber auf die andere Seite der Bucht, vorbei am Grand Hotell, über die Brücke zum Schloss. Es war am Vortag plötzlich warm geworden. Junge verliebte Paare waren engumschlungen und leicht bekleidet unterwegs. Sie waren auf andere Weise hübsch als zu Hause, fand ich. Die Blonden waren noch blonder, die Dunklen noch dunkler, die Großen noch größer, und Durchschnittliche gab es fast nicht. Als bewegten sie sich alle auf einer Welle des Selbstbewusstseins. In Gamla Stan kam ich am Cattelin vorbei. Als ich mit der Anderen dort gewesen war, hatten wir Schafshirn gegessen. Ich kannte diese Stadt als eine Stadt, in der ich von mir selbst pausieren und neue Impulse holen konnte. Jetzt war ich hier mit elf Liedern, die die Schallplattenfirma Metronome von ihrer meistverkauften Künstlerin aufnehmen lassen wollte. Ich ging in Richtung von Den Gyldene Freden und suchte nach dem Selbstbewusstsein, von dem ich wusste, dass es irgendwo in meinem Kopf vorhanden sein musste, vielleicht kurz hinter dem linken Ohr, was wusste denn ich. Cool Water hatte Cornelis Vreeswijk gesungen. Das Lied darüber, im Gyldene Freden zu sitzen und langsam nüchtern zu werden. Ich sehnte mich immer ins Freden, wenn ich in Stockholm war. Vreeswijks Erschöpfung war nicht meine. Noch immer wollte ich in den Rausch, wollte dort sein, etwas verzehren. Wenn ich dann danach den Finger in den Hals steckte, hatte ich jedenfalls vorher zugelangt. Da sah ich das Lokal, unscheinbar von außen. Ich wollte nicht in die Kellerhallen, wo die Touristen saßen. Im ersten Stock hatte ich aber auch nichts zu suchen, wo jedes Jahr entschieden wurde, wem der Literaturnobelpreis zugesprochen werden sollte. Ich gehörte ins Erdgeschoss. Dort hatten Vreeswijk und Åkerström gesessen. Und Taube. »Spiel jetzt, Taube, zum Henker«, hatte wohl irgendwer gerufen, wann immer er ein Restaurant betrat, wo eine kleine Kapelle spielte. War es das Selbstbewusstsein, das Leute berühmt machte? Lag es an ihrer Frechheit, dass sie Erfolg hatten? Alf Cranner hatte mir die Anekdote erzählt, wie Taube um ein Lied zum Geburtstag von Albert Bonnier gebeten worden war. Taube verlangte ein reichliches Honorar, dazu vierzehn Tage Aufenthalt in einem Luxushotel in Südfrankreich. Als er nach Schweden zurückkam, hatte er keine einzige Note zu Papier gebracht. Dennoch sang er bei der Geburtstagsfeier. Er sang Fridtjof Andersons Paradmarsj. Der war genau wie früher. Er hatte nur einen Namen ausgetauscht: »Hier kommt Albert Bonnier, ja, hier komme ich.« Und damit kam er durch. Er war Taube. Er war genial. Aber er war nicht politisch. Nicht allen war es vergönnt, Boris Vian zu sein, Victor Jara, Wysotzki, Brecht/Weill. Aber dort im Freden, mit gesalzener Rinderbrust und einer Flasche Wein auf dem Tisch, dachte ich an sie und an die elf Lieder, die ich selbst geschrieben hatte. War ich weit genug gegangen? Lill hatte über ihre eigene Zeit singen wollen. Sie hatte keine Angst vor politischen Liedern. Das hatte ich auch nicht. Aber ich konnte nicht fortlaufend die Gesellschaft kommentieren, wie Ole es in der Paus-Post tat, und ich hatte auch keine Erfahrung damit, ein richtig politisches Lied zu schreiben, das sich über die Floskeln erheben könnte. Ich konnte solidarische Lieder schreiben. Mehr nicht. Aber jetzt war es ohnehin zu spät.

Die Welt, die meine war

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