Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjørnstad - Страница 23

19.

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Ich jogge über die Insel. Warum laufe ich? Alles hier ist langsam, lässt sich die Zeit, die es braucht.

»Warum läufst du?«, ruft Kitt unten vom Anleger her. Seine Stimme klingt wütend, fast beleidigt. Er war in japanischer Kriegsgefangenschaft. Mehr Krach und Unfug kann er nicht ertragen. Deshalb ist er zurück nach Sandøya gezogen.

Ich kann nicht antworten. Die Zeit ist mir egal, aber ich will das, was ich brauche. Einen dünnen Körper. Einen Panzer gegen die Welt. Ich habe mir mein erstes Selbsthilfebuch gekauft, als ich zuletzt mit der Anderen in London war: Feeling Fit.

Dann entdecke ich den Kapitän. Den, der so viele Jahre lang alle Weltmeere bereist hat. Den, der am D-Day vor der Normandie im Meer geschwommen ist. Da geht er die Straße entlang, einige hundert Meter von mir entfernt, zusammen mit seiner Liebsten. Eine Stunde jeden Tag. Rasch. Sein Anblick wirkt immer beruhigend. Dieses gute Leben bei Tvedestrand, nach allem Entsetzlichen, das er durchgemacht hat. Wie kann es hier zum Drama kommen? Die Engländer haben bei der Blockade im 19. Jahrhundert zwar für ein gewaltiges Blutbad gesorgt, als die Najade von der englischen Dictator versenkt wurde. 133 wurden getötet und 102 verletzt. Aber der 6. Juli 1812 ist lange her, denke ich, als ich bis hinaus nach Hella laufe, eine Strecke von insgesamt sechs Kilometern. Der Kapitän hat im Moment nicht viel zu befürchten. Weder von Deutschland noch von England, Dänemark oder Schweden. Außerdem haben wir die NATO. Die Alten hier auf der Insel erinnern sich an den Krieg. Wie Kitt, wie alle anderen, die torpediert wurden oder in Gefangenschaft gerieten. Geschichten, die hinter den Rollläden der idyllischen Häuser verborgen werden. Aber der Friede hat sich wie ein frischgewaschenes Laken über die ganze Insel gelegt. Ich laufe. Schwitze den ganzen Scheiß aus. Nichts soll uns hier draußen bedrohen. Wenn jemand ertrinkt, dann nur in einem meiner idiotischen Angstträume. Ich laufe. Ich komme vorbei am Haus von Birthe und Eyvind mitten auf der Insel. Ich winke, obwohl ich sie nirgendwo sehe.

Der fast 45 Jahre alte Leiter des Pflege- und Altenheims von Orkdal wird festgenommen unter dem Verdacht, einen älteren Patienten ermordet zu haben. Der Lockruf des Todes. Abermals Chapman: Der Tod ist viel zu groß, um ihn zu erfassen. Vier Tage später gesteht Arnfinn Nesset die ersten der 22 Morde, für die er am Ende schuldig gesprochen werden wird. Angestellte des Pflegeheims hatten Lieferungen von Suxamethonium entdeckt. Wie sie selbst bei der Verhandlung sagten: »Ein solches Mittel hat in einem Pflegeheim nichts verloren.« Ole interessiert sich schon seit vielen Jahren für Curare. Es war ein beliebtes Gesprächsthema bei unseren Versuchen, Jens Bjørneboes Hauptwerk Die Geschichte der Bestialität jeder auf seine Weise weiterzuentwickeln. Bei Kalbsfilet und Rotkohl im alten Bagatelle konnte er leise schmatzen diesen leicht hingerissenen Blick bekommen, während er, immer überzeugt, es sei das erste Mal, mir von dem Arzt erzählte, der dieses Mittel, das er für muskelentspannend, aber auch schmerzstillend hielt, an sich selbst testen wollte. Deshalb bat er einen Kollegen, ihn zu operieren, nachdem er eine Spritze mit diesem Mittel bekommen hatte. Er war sofort gelähmt, konnte nicht sprechen und kaum noch atmen. Gerade noch rechtzeitig stellte er fest, dass dieses Mittel durchaus nicht schmerzstillend wirkte. Er war nicht betäubt. Er spürte jeden Schnitt, den sein guter Freund mit dem Skalpell ausführte.

Das Ganze hatte etwas Unwirkliches. Ein Pfeilgift, das die Indianer in Südamerika seit Jahrhunderten verwendet hatten und das die USA bald zum Tode Verurteilten verabreichen würden. Ein Gift, hervorgebracht von dem, was sich im Hohlraum eines Bambusrohrs befand oder in der Schale mehrere Kürbissorten zu finden war. Die alten indianischen Krieger verpassten diesen Giftstoff Menschen und Tieren, die sie lähmen wollten. Niemand verlor das Bewusstsein, aber alle hatten Atembeschwerden. Man erstickte bei lebendigem Leib.

Das hatten die alten Leute im Pflege- und Altersheim von Orkdal erfahren müssen. Bei vollem Bewusstsein zu sterben, ohne atmen zu können.

Dieser sanfte, liebenswürdige Mensch. Wer hätte ihm so etwas zugetraut? Abends saßen wir mit Tore und dessen Freundin zusammen und sprachen darüber. Was hat er gedacht, als er diese Spritzen setzte? Wusste er, dass die Opfer nichts verraten könnten, dass sie gelähmt da liegen würden, bis sie erstickten? Ich erzählte von meinem Erlebnis mit Céline, den ich die beiden zu lesen gebeten hatte. Ich dachte an vieles von dem, was Bjørneboe geschrieben hatte. Vielleicht war es keine Bestialität, sondern etwas ganz anderes.

Aber was? Kann man sich eines Mordes schuldig machen, ohne zu begreifen, dass man selbst der Mörder ist? Ich hatte nicht gemordet, jedenfalls noch nicht. Aber ich hatte ein System für meine Gedanken gefunden, eine Möglichkeit, mich in mehr Situationen, als mir lieb war, vor der Verantwortung zu drücken. In den folgenden Jahren würde ich mein eigener Richter sein. Ich brauchte weder Verteidiger noch Anwalt. Ich war mein eigener Gerichtssaal, allein, ohne Publikum.

Meistens erfolgte ein Freispruch in sämtlichen Punkten, oder, wie ich gern zu mir sagte: Unzurechnungsfähig im Augenblick der Tat.

Als Präsident Ronald Reagan das Hilton Hotel in Washington verlässt, nachdem er bei einem Mittagessen der Gewerkschaft AFL-CIO eine Rede gehalten hat, richtet John Hinckley jr. seine Röhm RG-14-Pistole auf den Präsidenten und gibt in weniger als zwei Sekunden sechs Schüsse ab. Reagan wird nur von einem getroffen. Der erste Schuss jedoch trifft den Kopf von James Brady, dem Pressesprecher des Weißen Hauses. Der zweite trifft den Polizisten Thomas Delahanty im Nacken. Der dritte trifft ein Fenster in einem Gebäude auf der anderen Straßenseite. Der vierte trifft Tim McCarthy vom Secret Service im Unterleib, während der Spezialagent Jerry Parr versucht, Reagan so schnell wie möglich in die Limousine zu schaffen. Der fünfte Schuss trifft das kugelsichere Glas der Präsidentenlimousine, und der sechste wird von dem kugelsicheren Fahrzeug zurückgeworfen und dringt unter dem linken Unterarm des Präsidenten zwischen einer Rippe und dem einen Lungenflügel ein, ehe die Kugel 25 Millimeter von Reagans Herzen entfernt zum Stillstand kommt.

Und das alles nur wegen der Schauspielerin Jodie Foster.

Hinckley hatte den Film Taxi Driver gesehen. Ebenso wie ich besaß er eine vielleicht übertriebene Fähigkeit, sich mit den Filmstars auf der Leinwand zu identifizieren. In Taxi Driver ist das der Taxifahrer Travis Bickle, gespielt von Robert de Niro, der versucht, die zwölf Jahre alte, von Jodie Foster gespielte Prostituierte zu beschützen. Dass Bickle außerdem plant, einen Senator zu ermorden, der Präsident der USA werden will, spornt Hinckley an und macht ihn kreativ auf eine Weise, die ihn, wenn auch negativ, in die Weltgeschichte bringen soll. Dennoch denke ich, dass Hinckleys Handlungsplan sich durchaus mit dem Wunsch eines besonders ehrgeizigen Autors messen kann, einen Roman zu schreiben, der alle Grenzen sprengt, der ihm den Nobelpreis, den Pulitzerpreis einbringen kann, der ihn sichtbar macht. Das hilflose Mantra: Seht mich an! Ja, aber, nun seht mich doch an, verdammt noch mal!

Hinckley wird zum Stalker. Er meldet sich zu einem Schreibkurs an der Yale University an, als er entdeckt, dass Foster dort einmal studiert hat. Zugleich schreibt er ihr eine endlose Menge von Briefen, und er gibt auch nicht auf, als sie versucht, seinem Treiben ein Ende zu machen. Für Hinckley geht es vor allem darum, gesehen zu werden, weltberühmt zu werden, so wie Jodie Foster. Einen Präsidenten zu ermorden, jedenfalls in den USA, ist die einfachste Methode. Das Land legt sich jetzt eine Geschichte zu. Nur neun Tage vor diesem Attentat hatte Ronald Reagan das Ford’s Theatre in Washington besucht, wo Abraham Lincoln ermordet worden war. Der Präsident hatte zu der Loge hochgeblickt, in der das Attentat stattgefunden hatte, und gedacht, egal, wie viele Secret Service-Leute sich auch in seiner Nähe befänden, es würde immer möglich sein, ihn zu ermorden.

So muss auch Hinckley gedacht haben, als er trainierte, indem er Jimmy Carter verfolgte. Im Flughafen von Nashville war er festgenommen worden, weil er in der Nähe des Präsidenten bewaffnet gewesen war. Einmal hatte er nur dreißig Zentimeter von Carter entfernt gestanden. Aber das FBI hatte die Gefahrensignale nicht erkannt und deshalb den Secret Service nicht verständigt. Hinckleys Eltern entdeckten, dass etwas mit ihrem Sohn ganz und gar nicht stimmte, und schickten ihn zu einem Psychiater, was jedoch nicht zu einer Einweisung führte. Hinckley seinerseits erzählte seinen Eltern, er glaube, Reagan werde ein guter Präsident für die USA sein.

Einige Wochen vor dem Attentat schickte Hinckley vier Briefe an Jodie Foster, die diese an die Polizei von Yale weiterreichte. Nun stand Hinckley auf der Liste der Polizei, die jedoch nichts mehr unternehmen konnte, ehe Hinckley am 30. März am Hintereingang des Hilton Hotels auftauchte, das aufgrund der geschlossenen Passage, die President’s Walk genannt wurde und die 1963 nach dem Mord an John F. Kennedy erbaut worden war, als das bestgesicherte Hotel von Washington galt. Von der Hoteltür bis zur wartenden Limousine waren es nur zehn Meter. Deshalb hatte es niemand aus dem Sicherheitssystem für nötig befunden, dem Präsidenten an diesem Tag eine kugelsichere Weste anzulegen. Hinckley war vor zwei Tagen in Washington angekommen und hatte sich im Park Central Hotel einlogiert. Als er den Terminplan des Präsidenten las, der normalerweise in den Zeitungen veröffentlicht wird, beschloss er, tätig zu werden.

Zwei Stunden vor dem Attentat schrieb er Foster, er würde auf den Mord am Präsidenten verzichten, wenn er nur ihr Herz gewinnen und für den Rest seines Lebens mit ihr zusammen sein könnte.

Die Bilder des Attentats werden nur wenige Minuten später in aller Welt ausgestrahlt. Auf Sandøya sehe ich Bilder von derselben Brutalität wie 1963, als John F. Kennedy sich an den Hals fasste. Diesmal ist es der Pressesprecher, James Brady, der sich blutend am Boden windet. Die Bilder sind stark, unverblümt. Sieht so ein Mensch nach einem Kopfschuss aus? Ich weigere mich, bringe es nicht über mich, das so direkt und so brutal zu sehen. Es ist unvorstellbar, dass er überleben, dass er erst 2014 sterben wird, dann jedoch als Spätfolge dieser Schussverletzung. Alle Kugeln in Hinckleys Pistole waren sogenannte Devastators, die explodieren sollten, wenn sie ihr Ziel erreichten, aber das tat nur die, die Bradys Kopf traf. Zwei Tage darauf legten deshalb die Chirurgen kugelsichere Westen an, als sie die Kugel aus Thomas Delahantys Nacken entfernen wollten.

Hinckley wird unmittelbar nach den Schüssen zu Boden gerungen und unschädlich gemacht. Mehrere der Anwesenden denken, dass er nicht das gleiche Schicksal erleiden darf wie Lee Harvey Oswald. Man will wissen, wer er ist, woher er kommt, warum er das hier getan hat.

Reagan selbst steht unter Schock. Sein Blutdruck ist von 140 auf 60 gefallen. Die Entscheidung, ihn sofort ins George Washington University Hospital zu bringen und nicht ins Weiße Haus, rettet ihm vermutlich das Leben. Reagan hat arge Schmerzen in der Brust, glaubt jedoch, dass daran Parr schuld ist, der ihn in die Limousine gestoßen hat. Als nach der Schusswunde gesucht wird, hustet Reagan hell schäumendes Blut, meint aber, sich nur in die Lippe gebissen zu haben. Noch begreift er nicht, dass eine Kugel nur 25 Millimeter von seinem Herzen entfernt steckt. Reagan will unbedingt zu Fuß gehen, aber unmittelbar vor der Tür hat er Atembeschwerden und fällt auf die Knie. Parr und einige andere Leibwächter helfen ihm auf die Notstation und wissen nicht, ob der Präsident vielleicht einen Herzinfarkt erlitten hat. Eine Krankenhausangestellte erkundigt sich nach Reagans Adresse. Erst, als jemand aus Reagans Begleitung sagt, »1600 Pennsylvania«, begreifen alle, wer hier gekommen ist. In den nun folgenden hektischen Minuten trifft auch Reagans Gattin Nancy ein. Der alte Filmschauspieler lässt sich die verbalen Möglichkeiten dieses Dramas nicht entgehen und übernimmt Jack Dempseys berühmte Bemerkung an seine Frau, an dem Abend, an dem er gegen Gene Tunney verloren hatte: »Honey, I forgot to duck.« Ist es die Euphorie des Schocks? Die Wirkung der beruhigenden Medikamente, wie viele sie auf dem Operationstisch verspüren, ein plötzlicher Drang nach Heiterkeit. Während vor der Narkose der Plastikschlauch zur Intubation in seine Lunge eingeführt wird, kritzelt er auf einen Zettel den oft zitierten Spruch des amerikanischen Schauspielers und Komikers W. C. Fields auf die Frage, wo sein Grabstein stehen soll: »All in all, I’d rather be in Philadelphia.«

Die Operation dauert etwas mehr als anderthalb Stunden. Die Kugel wird entfernt. Reagan verliert die Hälfte seines Blutes, ist aber in bester physischer Verfassung, nimmt gleich danach die Sauerstoffmaske ab und sagt: »I hope you are all Republicans.«

Der Oberarzt, Joseph Giordano, der zu Reagans Verzweiflung vor der Operation dessen »thousand dollar suit« aufgeschnitten hatte, und der zudem ein profilierter Demokrat ist, erwidert: »Today, Mr. President, we are all Republicans.«

Weniger als einen Monat darauf sitzt Präsident Reagan wieder im Oval Office.

Ich sitze zu Hause vor dem Fernseher und denke an Mads. Meinen Kindheitsfreund von der Waldorfschule und der Straßenbahnhaltestelle Smestad, wo wir Stunde um Stunde standen und die großen Weltprobleme lösten. Wir waren Sowjetfreunde, Chruschtschowfreunde. Wir mochten Amerika, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Wir hatten uns so gewünscht, dass ein Russe oder jedenfalls ein Kosmonaut aus der Sowjetunion die Ehre haben würde, den ersten Fuß in den Mondstaub zu setzen. Obwohl ich 1960 zu Nixon gehalten hatte, Mads dagegen zu Kennedy, waren wir Freunde geblieben. Wir waren erst acht Jahre alt. Die Welt stand uns offen.

Aber jetzt hat sie sich zusammengezogen. Liegt das an meinem Alter, oder hat sich das Tempo gesteigert? Ich verfolge die Landung der ersten Raumfähre in der Weltgeschichte, das amerikanische Raumfahrzeug Columbia, das aussieht wie ein Flugzeug oder wie ein überdimensionaler Privatjet. Aber dem Flugzeug fehlen Motoren, die mehrere Landeversuche ermöglichen würden. Es segelt in seinem wilden Tempo durch die Atmosphäre und muss beim ersten Versuch die Landebahn treffen! Die Landebahn auf einem ausgetrockneten Salzsee in der Mojave-Wüste. Ach, Mads fehlt mir ja so sehr! Wenn wir noch immer dort stünden, an der Straßenbahnhaltestelle Smestad, würde ich ihn fragen, wieso eine Raumfähre, die hundertmal in den Raum geschossen werden kann, nicht auch Jetmotoren besitzt, die ihr bei der Landung einen etwas größeren Spielraum eröffnen würden. Warum muss es immer ein Gefahrenmoment geben? Und Mads würde antworten, mit seinen Locken und dem altklugen Gesicht, es sei eben das Leben selbst, dass es in jeder Raumfähre, in jedem Leben ein Gefahrenmoment geben muss, dass die Sowjets das hier aber jedenfalls besser geschafft hätten. Ja, dachte ich, dort in meinem Sessel auf Sandøya, an jenem Apriltag des Jahres 1981, Mads hätte vorausgesehen, wie abhängig die USA schließlich von der sowjetischen Raumfahrttechnologie werden würden, dass sie die Abschusssysteme der schrecklichen, bösen, stinkenden, alkoholisierten und lebensgefährlichen Altkommunisten verwenden müssten, an dem Tag, an dem es diese Raumfähren nicht mehr gab. Und es geschieht gerade jetzt, während ich das hier schreibe, dass Russland abermals gefährlicher ist als je zuvor. Der böse Putin, oben ohne hoch zu Ross. Der herzensgute Obama, mit dem Golfschläger auf dem Rasen.

Das Imperium schlägt zurück.

Und Mads war tot.

Aber an diesem Tag saß ich auf Sandøya und Mads lebte noch. Wir waren keine Freunde mehr. Auch keine Feinde. Wir begegneten uns nur nie. Mads war ein millionenschwerer Jurist und besuchte sicher nur die exklusivsten Restaurants. Ich selbst saß im 17. Mai-Komitee von Sandøya. Und ich konnte ihn nicht fragen, wie ich ihn in alten Tagen gefragt hatte, ob es wirklich stimmte, dass der Umlauf der Sonne um das Zentrum der Galaxis 220 Kilometer in der Sekunde betrug, also 792 000 Kilometer in der Stunde? Ob es stimmte, dass die Geschwindigkeit der Erde um die Sonne ihr eigenes Tempo von 107 200 Stundenkilometern hatte? Der pure Wahnsinn, würde ich sagen. Und aus Protest gegen diese abnormen Zahlen würde ich behaupten, mit Fug und Recht und mit meinem Hintergrund aus der Waldorfschule, die Erde sei eine Scheibe. Dass ich nicht glaubte, dass Menschen, die selbst einmal Säuglinge gewesen waren und auf einem Stuhl mit Sperren und Gittern gesessen hatten und mit Brei gefüttert worden waren, jemals erwachsen genug werden könnten, um mit voller Überzeugung behaupten zu können, dass wir alle von diesem wahnwitzigen Tempo erfasst waren, während uns die Behörden zwangen, mit dem Auto nicht mehr als 80 Stundenkilometer zu fahren. Etwas hier stimmte nicht. Und dennoch jubelte ich in einem Glücksrausch, als ich sah, dass John Young und Robert Crippen es schafften, diesen seltsamen und fast komischen Privatjet beim ersten Versuch in der Mojave-Wüste zu landen. Diese wissenschaftliche Leistung lenkte die Aufmerksamkeit von den Rassenunruhen in Brixton ab, diesem explosiven Minengelände mit vielen Schwarzen, sehr vielen Einwanderern aus Bangladesch, die fanden, für das, was sie taten, nicht ausreichend bezahlt zu werden, die nicht einmal etwas tun durften, und die zur äußersten Armut gezwungen wurden. Von Sandøya aus sah er die Welt, las er, dass François Mitterrand in Frankreich zum Präsidenten gewählt worden war, dass es in Oslo zu Straßenschlachten gekommen war, in der Nacht zum 1. Mai, dass Polizeichef Willy Haugli kein Mann der Jugend war. Er saß vor seinem guten und getreuen 22-zölligen Philips-Fernseher und sah das aufgebrachte Gesicht des Bürgermeisters Albert Nordengen, der ausrief: »Ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten! Ich bin wirklich schockiert!« Er telefonierte mit seiner Mutter und hörte sie sagen, wie so oft: »Bitte sehr, verliert den Verstand!« Er hörte zugleich Angst in ihrer Stimme. Weil sich die Welt veränderte, sich schneller drehte. Reichte es nicht, dass Sonne und Erde ein solches verdammtes Tempo vorlegen? Sie fand es schrecklich, dass der 23 Jahre alte Rechtsextremist Mehmet Ali Ağca in vollem Ernst auf den Papst geschossen hatte in der Hoffnung, ihn zu töten. Es interessierte sie weniger, dass der Papst der Papst war, als dass er eine Vergangenheit als Lyriker hatte. »Man darf doch keinen Poeten umbringen«, sagte sie energisch, die alte Buchhandelsgehilfin.

Ich werde ins Weltgeschehen hineingesaugt, obwohl ich mich so weit davon entfernt angesiedelt habe wie überhaupt nur möglich. Ich war monatelang von dem Fall des Yorkshire Ripper besessen. Nun wird endlich der 34 Jahre alte Peter Sutcliffe für die dreizehn Morde verurteilt. Dreizehn Frauen, denke ich. Wie wahnsinnig kann man werden?

Ich jogge über die Insel. Warum jogge ich? Einige Monate zuvor wählte ich die Nummer der Polizei von Yorkshire. Sie hatten eine Tonbandaufnahme der Stimme des Mörders zugänglich gemacht. Damals wussten sie noch nicht, dass er Sutcliffe hieß. Aber selbst draußen auf Sandøya mochten die Frauen nicht allein im Dunkeln über die schmalen Wege gehen. Ich lauschte der Stimme, hoffnungslos neugierig, als ich unten in meinem Keller saß und die Andere schlafen gegangen war: »I’m Jack. I see you’re having no luck catching me. I have the greatest respect for you, George, but Lord, you’re no nearer catching me now than you were years ago, when I started.« Die gänsehauterregende Nähe in dieser Stimme, als säße er gleich neben mir. Ich dachte an die Frauen, die er ermordet hatte. Wie hießen sie überhaupt? Wilma McCann, Emily Jackson, Irene Richardson usw. Ich dachte an die unheimlichen alten Freitagskrimis im NRK. Den Schock, als ich das Gesicht eines toten Menschen sah, obwohl es doch eine Schauspielerin war, die diese Rolle spielte. Mutter, die mich trösten musste. Dieses Urbritische. Eine Frau allein auf einem dunklen Weg. Ein Mann, der sie einholt, sie niederschlägt, sie erstickt oder erwürgt.

Der Yorkshire Ripper.

Ich träume nachts von ihm. Ich lese alles, was ich in den Zeitungen über ihn finden kann. Wieso beschäftigt er mich dermaßen?

Plötzlich überkommt mich die Angst vor der Dunkelheit. Ich werde von etwas eingeholt. Aber was ist das? Ich laufe nach Hella hinaus. Es ist frühlingsdunkel. Das unheimliche Licht, das Ingmar Bergman oft verwendet hat, wenn er etwas Erschreckendes erzählen wollte. Was, wenn jetzt ein wahnsinniger Seemann mit einer Axt kommt und mich umbringen will? Diesen entsetzlichen, klavierspielenden und bücherschreibenden Menschen aus dem besten Frogner? Was wusste ich über das Leben? Was hatte ich erfahren? Verdiente ich es zu leben? Glaubte ich wirklich an diese Idylle?

Er hebt den Arm. Die Axt fällt auf mich, durch die Luft. Trifft mich an der Stirn.

Das Schlimmste von allem: Ich lebe noch.

Die Welt, die meine war

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