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4.

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Das Telefon klingelt. Ich fahre jedes Mal zusammen. Wie haben sie es geschafft, die Leitung bis hierher ans Meer zu legen? Führt die Leitung über den Boden des Hagefjord zwischen Lippfisch, Kabeljau und Fischen, die als nicht essbar gelten? Riskieren sie nicht, dass Krebse oder Hummer die Leitung kappen?

»Morgen, du. Hier ist Kjell.«

»Welcher Kjell?«

»Es gibt ja wohl nur einen Kjell, mein Junge.«

»Ach, sicher«, sage ich, auch wenn ich noch zwei weitere kenne. Kjell aus meiner Klasse. Kjell vom Norsk Musikkforlag.

In der Leitung herrscht erwartungsvolle Stille. Fast wie in alten Zeiten, als die Telefonistin in Stangeland mithörte. Kjell Bækkelund ruft zwar nicht zum ersten Mal an, aber der letzte Anruf ist lange her, damals wohnte ich noch in Oslo. Bis hierher nach Vestre Sandøya vor Tvedestrand anzurufen ist weit, denke ich. Man ruft nicht so weit an, wenn man nicht etwas ganz Besonderes will. Die Frau in der Zentrale kratzt sich dabei im Gebührenzählerschritt, wie Trond-Viggo immer sagt.

»Wann kommst du nach Oslo?«

Er hat diese nasal lispelnde Stimme, die ganz Norwegen kennt. Nicht viele klassische Musiker sind so bekannt wie er. Bækkelund, Levin, Tellefsen, Knardahl. Das sind schon alle. Und Aase Nordmo Løvberg, natürlich. Ich setze mich automatisch gerader. »Ich komme, wenn du rufst«, sage ich.

»So gehört sich das, Junge«, sagt Bækkelund zufrieden. »Kommst du dann heute Abend? Um Punkt sieben?«

Ich schaue auf die Uhr. »Das kann ich schaffen«, sage ich. Wenn man auf Sandøya wohnt, kommt man, wenn jemand ruft. Wir, die wir uns Kulturarbeiter nennen, kommen, wenn die Mächtigen anrufen.

Bækkelund ist mächtig.

Bækkelund hat etwas mit mir vor. Aber ich weiß nicht, was. Hat er mich für eine Rolle in seinem Ränkespiel ausgesucht? Er ist nicht nur einer unserer bedeutendsten Pianisten, reist um die Welt und spielt neue norwegische Komponisten, Musik, die im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten wird, die aber gerade jetzt von Botschaften und Konsulaten geschätzt wird zwischen Kanapees und Lobesreden. Er war immer schon großzügig, hat mir vorwärts geholfen, mit fast panegyrischen Artikeln in den Zeitungen und spannenden Projekten, von denen jeder Pianist begeistert gewesen wäre. Wie damals, als er sechs der bedeutendsten Pianisten einlud, während der Festspiele in Bergen im Konsertpalé Rachmaninow-Präludien zu spielen. Er wollte daraus eine Schallplatte bei der Deutschen Grammophon machen. Fast wäre es ihm gelungen.

Als ich dann im Mirafiori sitze, im Schneegestöber bei der Raststätte Cinderella und bei Søndeled, denke ich an die hervorragende Stellung, die er bei den Sozialdemokraten einnimmt. Wenn er zu seiner Adventsparty einlädt, kommen alle. Ministerpräsident Odvar Nordli, bestimmt das gesamte Kabinett, Knut Frydenlund, Inger Louise Valle, Per Kleppe und Bjartmar Gjerde. Sicher doch! Jens Evensen und Eivind Bolle. Gro Harlem Brundtland, die junge, frische und sportliche Umweltministerin, über die alle reden und die noch dazu Ärztin ist. Bestimmt finden sich einfach alle zu diesen Festen ein. Aber keine Pianisten. Nicht ich. Mir sollte die Ehre zuteilwerden, später zu kommen. An einem kalten Januarabend, an dem der Frostnebel an der Küste anzeigt, dass das Eis vielleicht liegenbleibt.

Denn das war etwas, das alle über Bækkelund wussten. Er hatte immer einen Auserwählten. Einen, mit dem er im Frognerpark spazieren ging. Einen, mit dem er an einem Zweiertisch im Theatercafé saß. Es konnte auch eine Auserwählte sein, eine Frau. Dann war es zumeist eine, die seine nächste Ehefrau oder Lebensgefährtin werden sollte. Aber es konnte auch ein Mann sein. Dann war es ein Kronprinz. Einer, der später Kirchen- und Bildungsminister werden würde oder vielleicht sogar Außenminister.

Ich schlingere die kurvigen Straßen durch Telemark hoch auf das Gewerbegebiet bei Brevik zu. Vor meinem inneren Auge tauchen einige unfassbare Bilder auf. Soll ich Politiker werden? Ich erröte, als ich mich plötzlich hinter dem Schreibtisch des Außenministers erblicke. Hier verschiebe ich die Ordner. Eine schöne Frau in einer grünen Wolljacke kommt herein und lächelt. Es ist meine Privatsekretärin. Die persönliche. Die weiß, dass ich immer im Schrank gleich hinter mir eine Flasche vom besten Whisky stehen habe. Jetzt teilt sie mit, dass es bald Zeit wird, sich nach Gardermoen zu begeben, da auf Fornebu keine Jumbojets landen können. Präsident Jimmy Carter wird in weniger als einer Stunde mit der Air Force One eintreffen. Da der norwegische Ministerpräsident plötzlich erkrankt ist, habe ich das Oberkommando. Mit einem kurzen Telefongespräch habe ich mich von meinem üblichen fünften Platz entfernt. Jetzt stehe ich plötzlich an zweiter Stelle, bin fast die Nummer 1. Oder will er von mir etwas anderes? Will er mich zum Chef der Universitätsbibliothek machen? Will er vielleicht, dass ich Landeskonservator werde? Bækkelund ist die eigentliche Spinne im Netz derjenigen, die etwas bedeuten. Er hat Macht über den Möbelhändler in Jessheim, über das gesamte norwegische Parlament, er könnte mit den Fingern schnippen und mich im Handumdrehen zum Rundfunkdirektor machen. Aber was sollte ich in diesem Fall der Anderen sagen? Sie will doch nur auf Sandøya wohnen!

Die Machtphantasien werden immer stärker, und als ich an Larvik vorüberfahre, bin ich bereits zum Oberkommandanten aller Streitkräfte geworden. Ich sitze an einem geheimen Ort in Akershus, wo niemand mich sehen kann. Im hintersten Raum steht ein gewaltiger Steinway-Flügel. Während alle glauben, dass ich verteidigungsstrategische Angriffspläne gegen Breschnew in der Sowjetunion schmiede und mit Svein Sørensen von der Heimvolkshochschule Svanvik in Pasvik telefoniere, meinem Verbündeten, übe ich stattdessen das B-Dur-Konzert von Brahms. Das soll mein Dank an Bækkelund sein. Meine Art, ihn zu überraschen. Vielleicht freut er sich gar nicht. Vielleicht ärgert er sich, weil ich gerade in diesem Moment so viel besser spiele als er. Aber so sind die Folgen der Freigebigkeit. Man bekommt nicht das, was man verdient. Jetzt bin ich es, der Adventsfeste veranstaltet und andere anruft.

Erst als ich mich Drammen nähere, lande ich auf der Rollbahn der Wirklichkeit und merke, dass ich die Geschwindigkeitsbegrenzung um dreißig Kilometer überschritten habe. Ich bremse verdrossen, es gefällt mir nicht, wie ich ihm immer gehorche. Was soll ich eigentlich zurückzahlen? Was kostet ein Superlativ? Meine Gedanken waren noch immer düster, nach dem tristen Silvesterabend, an dem ich mich im Schnee erbrochen und mich selbst von außen gesehen hatte. Die Kontrolle, die ich in den letzten Jahren gehabt hatte, war verschwunden. Ich wusste nicht mehr, wo ich mit dem Schreiben und der Musik hinwollte. Ich wusste nur, dass ich dünner werden wollte. Noch dünner. Dass es von mir noch weniger geben sollte. Erst dann würde ich die Kontrolle haben.

Ich war einer geworden, der Angst davor hatte, etwas zu verpassen. So war es früher nie gewesen. Da hatte ich vor überhaupt nichts Angst. Jetzt hatte ich Angst vor allem. Angst, dass mir das Leben zwischen den Fingern zerrinnen würde.

Im Frognervei kamen sie aus dem Wohnzimmer gelaufen, sowie ich den Schlüssel ins Schloss steckte.

»Ketil!«

Jedes Mal, wenn Mutter meinen Namen rief, kam ich mir vor wie sechs Jahre alt. Und wenn Vater rief, war ich noch jünger.

»Ich bleibe nur bis morgen. Bækkelund will mit mir sprechen.«

»Bækkelund?«, wiederholt Vater beeindruckt, auch wenn ich die Enttäuschung in seiner Stimme höre. Er möchte so gern mit mir reden wie in alten Tagen. Bis spätabends am Küchentisch sitzen und über Politik diskutieren. Ich spüre mein schlechtes Gewissen. Sie hatten gedacht, ich würde häufiger von Sandøya herüberkommen, da ich trotz allem die Miete für die relativ teure Wohnung im ersten Stock bezahle. Stattdessen lasse ich mich immer seltener blicken.

»Aber ich komme bald wieder«, sage ich. »Und dann bleibe ich einige Tage.«

Ach, diese frommen Lügen, die gebrochenen Versprechen. Hatte ich wirklich für irgendjemanden einen Wert? Bedeutete ich etwas für andere Menschen? Der Gedanke kam plötzlich und war durchaus nicht angenehm. Ich hatte noch nie so gedacht. Es waren die anderen, die etwas bedeuteten. Mutter, Vater, Tormod, Aimée, Ida, Ole, Rotkäppchen, die Andere. Ich war es, der sie brauchte, nicht umgekehrt. So sollte es sein. So musste es sein.

Es schneit jetzt nicht mehr. Der Bürgersteig ist glatt. Ich rutsche zum Olav Kyrres plass hinunter. In der Bygdøy allé sind Eisbuckel. Ich habe es eilig. Es ist zehn vor sieben. Da sehe ich die alte Dame auf der anderen Straßenseite. Ach, diese dickköpfigen alten Hexen, die niemals aufhören, sich auf ihr Lebensrecht zu berufen. Die durch die Straßen schwanken, fast schwerelos mit ihren alten, klapprigen Skeletten und mit löchrigen Strümpfen. Für wen, um alles in der Welt, halten die sich? Für die zu früh geborenen Kinder der Ewigkeit? Werden sie denn niemals sagen, genug ist genug, sich auf stille, höfliche Weise zurückziehen, wie jeder normale Mensch es tun würde, sich von ihrem Stuhl erheben, langsam zur Garderobe gehen, nach Hut und Mantel greifen, die Gamaschen überstreifen und in der Nacht verschwinden, sich in ein Grab legen, während der Schnee rieselt, und zu Erde werden, ja, zu Erde, Gedärm und Eingeweide den Maden überlassen, diese absolut notwendige Verwesung, die Munch und Hamsun so schön beschreiben, und durch die Platz für andere geschaffen wird. Ich bin unterwegs zu Bækkelund. Er wartet auf mich, aber die alte Dame rutscht weiter über den Bürgersteig, ohne zu begreifen, dass das Projekt, auf das sie sich an diesem Abend eingelassen hat, einer Besteigung des Mount Everest gleichkommt.

Ich versuche, sie nicht anzusehen. Noch hält sie sich auf den Beinen. Jetzt gibt es nur uns beide. Sie auf der einen Seite. Ich auf der anderen. Zwischen uns liegt das Leben. Oder ist es der Tod? Wenn sie oder ich die Straße betreten, wird ein Auto kommen, und sie oder ich werden sterben. Wofür leben wir? Ich lebe, um eine wichtige Verabredung mit Kjell Bækkelund einzuhalten. Aber was in aller Welt hat sie vor?

Ich gehe schneller, damit ich an ihr vorbei bin, wenn sie stürzt. Es ist ja nur eine Frage der Zeit. Wenn ich an ihr vorüber bin, bin ich die Verantwortung für sie los. Aber gerade jetzt stürzt sie, gleich vor dem teuren Küchenladen. Mein Herz wird schwer. Sie liegt auf der anderen Straßenseite und strampelt. Beine und Arme in alle Richtungen.

»Ich komme!«, rufe ich. »Bleiben Sie ganz still liegen! Versuchen Sie nicht, aufzustehen, gnädige Frau! Dann stürzen Sie nur wieder!«

Ich finde eine Lücke zwischen den vielen Autos und Bussen, die gerade jetzt wie eine Flutwelle aus Lärm, Bewegung und Auspuffgasen hereinbrechen. Wird dieses gemeine Geschehnis meine Zukunft ruinieren? Ist es der humanistische Roboter in mir, der meine Beine über die Straße zwingt? Warum musste sie gerade heute Abend auf diese lebensgefährliche Straße hinausgehen, denke ich wütend. Sie hätte so viele andere Abende gehabt. Dies ist der Abend, an dem ich zu Kjell Bækkelund bestellt bin. Er hat Pläne mit mir. Große Pläne. Er hat mich von Sandøya herkommen lassen. Das sind zwischen drei und vier Stunden Fahrt. Niemand kann erwarten, dass jemand einer solchen Aufforderung nachkommt, wenn nichts angeboten wird. Bækkelund hat etwas mit mir vor. In seiner Nähe gibt es nur Prominente. Aber nun liegt diese Elendsgestalt da und zappelt zwischen den Eisbuckeln. Großer Gott, auch ein Mensch, denke ich, als ich mich nähere. Und als ich mich Sekunden später über sie beuge, um zu hören, ob sie sich verletzt hat, sehe ich zu meinem Entsetzen, dass dort Tante Svanhild liegt.

»Aber meine Güte, Tante Svanhild!«, rufe ich.

Sie schaut aus ihren schönen, traurigen Augen zu mir hoch. »Ich wollte das nicht«, sagt sie, fast unter Tränen.

»Was wolltest du nicht?«

»Fallen natürlich.«

»Natürlich nicht. Aber hast du dich verletzt? Hast du dir etwas gebrochen?«

Sie lächelt ihr unwiderstehliches Lächeln. »Nein, ich nehme doch Kalziumtabletten«, sagt sie. »Das hab ich von Alfhild gelernt.«

Der Vorname meiner Mutter. Es ist immer so seltsam, wenn ihn jemand nennt. Meine Mutter, wie eine Elfe. Ein Wesen aus einer anderen Welt. Kein normaler Mensch.

»Jetzt fasse ich dich unter den Armen, und dann richten wir uns langsam auf, liebe Tante.«

»Nicht wir sagen, junger Mann. Ich muss mich allein aufrichten.«

»Darüber streiten wir uns nicht. Wir müssen sehen, ob du auf deinen Beinen stehen kannst.«

»Natürlich kann ich auf meinen Beinen stehen, Ketil.«

Sie richtet sich auf. Ich halte sie fest. Merke, wie dünn sie geworden ist. Die Arme. Fast nur Knochen. Sie muss krank sein. Ich habe sie so lange nicht mehr gesehen, und meine Eltern haben nichts gesagt.

»Du kannst dich da drüben auf die Treppe setzen, und dann gehe ich zum Taxistand am Thomas Heftyes plass und hole uns einen Wagen.«

»Nein«, sagt sie energisch. »Ich bin doch fast zu Hause. Und du hast sicher eine Verabredung.«

»Natürlich bringe ich dich nach Hause.«

»Ich kenne dich zu gut. Du bist ein vielbeschäftigter Mann. Mit wem bist du verabredet?«

»Kjell Bækkelund.«

»Meine Güte. Wann sollst du da sein?«

»Vor zehn Minuten. Nein, in einer Stunde, meine ich.«

Sie mustert mich mit scharfem Blick. »Du meinst um sieben, nicht wahr? Vor zehn Minuten. Ich bin zwar alt, aber ich bin trotzdem nicht schwachsinnig.«

»Ach, Tante!«

»Ich geh allein.«

»Das tust du nicht.«

Es ist das letzte Mal, dass ich mit ihr durch eine Straße gehe. Sie hat sich bei mir eingehakt wie früher, wenn wir viel zu selten zusammen spazieren waren. Meistens saß sie mit übereinandergeschlagenen Beinen im Sessel, entweder in ihrer Wohnung oder bei uns. Sie war immer die Eleganteste, die mit dem feinsten Duft. Von ihr habe ich meine Vorliebe für französische Filme. Sie war die Erste, die Fernsehen hatte. Ich habe sie geliebt. Und ich habe sie einmal zutiefst verletzt. An dem fatalen Silvesterabend 1959, als ich ihr gesagt hatte, dass meine Eltern sie eigentlich gar nicht zu Besuch haben wollten.

»Wo warst du denn?«, frage ich.

»Beim Nähkränzchen. Wir fangen früher an, jetzt, wo wir älter sind.«

»Natürlich«, sage ich.

»Wir waren sechs«, sagt sie mit einem traurigen Lächeln. »Jetzt sind wir nur noch zwei. Aber wir können nicht aufhören, es ein Kränzchen zu nennen.«

Ich gehe neben ihr her und höre zu. Auch ihre Stimme ist schwächer geworden.

»Du musst besser auf dich aufpassen«, sage ich.

»Ich habe immer auf mich aufgepasst«, sagt sie.

Ja, denke ich. Sie hat immer allein gelebt.

»Du?«, fragt Bækkelund, als er die Tür einen Spaltbreit öffnet und demonstrativ auf die Uhr schaut. Er trägt ein weißes Hemd und eine Wollweste, wie sie nur Zeitungsredakteure oder Dorftrottel tragen. Das Design der Macht. Als ob man die allerreichsten Amerikaner mit rosakarierten Jacken die allerfeinsten Restaurants betreten sieht.

»Meine Tante ist gestürzt. Meine Lieblingstante.«

»Erzähl mir bitte nichts über deine Tante. Wen wird sie wohl wählen, wenn sie hier in der Gegend wohnt? Die Konservativen natürlich. Meinen alten Freund Albert Nordengen. Aber es gibt für alles eine Grenze. Wenn die Sozialdemokraten im Osloer Rathaus die Macht hätten, gäbe es jedenfalls Verstand genug, um auf den Bürgersteigen zu streuen. Ich gehe davon aus, dass sie sich auch diesmal nichts gebrochen hat. Komm rein.«

Ich denke, das hier ist ein Meilenstein, etwas, woran ich mich den Rest meines Lebens erinnere. Ein privater Besuch bei Kjell Bækkelund. Zum ersten Mal betrete ich die Patriziervilla am Olaf Kyrres plass, die für mich Macht bedeutet. Große politische und kulturelle Macht. Durch diese Tür ist erst vor Kurzem die gesamte norwegische Regierung geschritten. Jetzt komme ich als einziger Gast.

Kälte schlägt mir entgegen. Bækkelund registriert, dass ich das spüre.

»Wir verschwenden nichts«, sagt er. »Es wäre Wahnsinn, im ganzen Haus zu heizen.«

»Natürlich«, sage ich. Wir bleiben in der Diele stehen. Aus dem ersten Stock höre ich eine Frauenstimme, die leise telefoniert. Ich weiß, wer das ist. Die Schauspielerin Ingerid Vardund. Die die Hauptrolle in Elskere gespielt hat. Die Zeitungen haben über sie und Bækkelund geschrieben. Mutter hat immer schon gesagt, Bækkelund steht auf schöne Damen.

»Ins Wohnzimmer?«

»Nein, in die Küche.«

Ich nehme den Geruch von Schweinerippe wahr. Ach ja, denke ich. So ist es richtig. Ein Festmahl mit Wein und brennenden Kerzen. Denkt er an die Wahlen im nächsten Jahr? An einen neuen Minister? Etwas Junges und Frisches. Weder Bratteli noch Nordli hatten Minister, die die Jugend begeistern konnten. Nach all dem Schönen, das er über mich geschrieben hat, muss er einen Plan haben. Bækkelund lässt sich zu keiner Begegnung mit jemandem herab, mit dem er keinen Plan hat.

»Hast du Hunger? Möchtest du Kekse?«

»Ja, gern.«

»Auch Kaffee?«

»Danke, ja.«

Ich verspüre ein plötzliches Unbehagen. Der Geruch nach Schweinerippe ist jetzt noch stärker. Der kleine Esstisch ist mit zwei Tellern und zwei Rotweingläsern gedeckt, aber er geht mit mir ins Wohnzimmer, wo die vielen Lithografien mit den Widmungen all seiner Freunde unter den Künstlern neben- und übereinander hängen.

»Also, was machst du denn so, Ketil?«

»Ich?«

»Ja. Dieses neue Album, das bald erscheinen wird. Tideverv?«

»Tidevann.«

»Ja, genau. Aber ist das eigentlich Jazz?«

»Nein«, sage ich. »Ich betrachte mich nicht als Jazzmusiker.«

Er nickt, zufrieden, fast erleichtert. »Hab ich mir’s doch gedacht«, sagt er.

Wir schweigen.

»Noch ein paar Kekse?«

»Nein, danke.«

»Ich kenne Friedrich Gulda«, sagt er plötzlich.

»Ein guter Pianist«, gebe ich zurück.

»Aber er spielt auch keinen Jazz«, sagte Bækkelund. »Er tut nur so.«

»Ja, das tun viele von uns«, sage ich.

Er nickt zufrieden. Ich habe ein Geständnis gemacht.

Ist das alles, was er von mir will? Ist das der Grund, warum er mich von Sandøya nach Oslo bestellt hat? Will er mich nicht fragen, ob ich mir vorstellen könnte, in die Sozialdemokratische Partei einzutreten? Hat er denn gar keine Verwendung für mich? Hat er einfach nur Angst, ich könnte etwas gelernt haben, das er selbst nicht beherrscht? Kein klassischer Pianist von Format kann Jazz spielen. Nicht einmal Friedrich Gulda. Bækkelund weiß das. Ich weiß das. Aber er scheint darauf zu warten, dass ich es schaffe. Würde ihn das dann ärgern? Ihn eifersüchtig machen?

Zehn Minuten darauf steht er in der Türöffnung und wünscht mir noch einen schönen Abend.

»Nett, dass du dir die Zeit genommen hast.«

»Tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin.«

»Das spielt keine Rolle. Ich hatte ohnehin heute Abend nichts anderes vor.«

»Wie denkst du über Reagan?«, frage ich, mit dem plötzlichen Bedürfnis, mich wichtig zu fühlen. »Glaubst du, er wird es schaffen?«

»Natürlich wird er es niemals schaffen. Ein schnöder zweitrangiger Schauspieler. Keine Sorge, mein Junge. Wir haben die Sache im Griff. Ich mache mir größere Sorgen, ob unsere Partei im nächsten Jahr die Parlamentswahlen gewinnen wird. Willoch ist ein Schlaukopf.«

Er lächelt sein bekanntes Lächeln. Steht da mit seinem Bäuchlein. Seine graue Hose ist schon häufiger gewaschen worden. Diese lispelnde Selbstsicherheit. Die freundliche, aber bestimmte Weise, wie er mich vor die Tür setzt, während Ingerid Vardund noch immer telefoniert. Man weiß nicht, ob er eigentlich sarkastisch oder todernst ist.

»Dann viel Glück mit dem Jazz, Ketil. Und geh vorsichtig.«

Die Welt, die meine war

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