Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjørnstad - Страница 12

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Vielleicht wird es in diesem Buch mehr um Kritik und Kritiker gehen als in den beiden vorigen. Denn der Kampf um das Überleben wurde gerade in diesem Jahrzehnt intensiver. Ich und einige der Musiker, mit denen ich nach und nach spielte, wie auch Schriftsteller, die ich kennenlernte – wir fühlten uns oft so getroffen, als stünden wir direkt am Rand des Abgrundes.

Ich kannte die Kritiker in zwei Welten. In der Musik und in der Literatur. Ich war selbst Kritiker. Aber ich hielt mich auch darüber auf dem Laufenden, was Theaterkritiker schrieben und die, die sich mit bildender Kunst beschäftigten. Ich erkannte die Methoden. Ich registrierte die unterschiedlichen Menschentypen. Die Annäherung. Mit jedem Jahr wurden sie deutlicher. Ich konnte die Ergebnisse beurteilen, mit den Verurteilten sprechen. Ich war Richter und Verurteilter zugleich.

Es war damals, in den besten Jahren, dass alles gleichzeitig passierte. Glücklich ist, wer auf solche Jahre zurückblicken kann. Man denkt an sie und träumt für den Rest des Lebens von ihnen. Es kann in den Teenagerjahren sein oder gleich nachdem man zwanzig geworden ist. Diese Periode ist die intensivste. Lebt man mit vierzig noch immer so intensiv, wird das Krise genannt, und bist du achtzig und hast noch ebenso große Visionen, wirst du als Trottel bezeichnet. Wenn du jung bist, darfst du. Manche jungen Leute aber haben mehr Glück als andere. Wir, die um 1950 geboren wurden, erlebten, dass die eigene persönliche Befreiung mit einer kulturellen Befreiung zusammenfiel, die sich in der gesamten westlichen Welt ausbreitete. Die Schöpfungsjahre des Rock. Der Durchbruch des Avantgardismus. Die Erneuerung des Jazz. Es ist nicht immer so. Nicht alles ist zu allen Zeiten immer gleich spannend. Das Energieniveau hebt und senkt sich im Rhythmus der Geschehnisse in Politik und Kulturleben. Die Bohèmiens der 1880er Jahre lebten intensiv, denn die Zeit war intensiv. Weil die Konflikte real waren. Weil jemand den Mut hatte, etwas zu sagen. Die Studentenbewegung 1968. Jugend auf den Barrikaden. Wer stand auf den Barrikaden in den acht Jahren, in denen Ronald Reagan regierte? Die Punks? Und in den Jahren von George Bush? Doch, ja, da kam der Hip-Hop. Aber die politische Opposition war schwächer. Das Gefühl, nützlich zu sein, etwas ausrichten zu können. Etwas zu erschaffen. Eine Stimme zu haben, die gehört wird. Bei den Ersten zu sein. Heute kannst du nicht das Radio einschalten, ohne ein junges Mädchen zu hören, das singt wie Joni Mitchell. Aber im Fernsehen sieht man bekannte Personen Dinge tun, von denen sie keine Ahnung haben. Doku-Soaps haben die Sendezeit übernommen, die früher den Kulturprogrammen zukam. Keine Fernsehspiele mehr. Keine großen Konzertübertragungen vom Jazzfestival in Molde. Die stundenlangen Konzerte auf der Lorelei. Im Jahre 2017 fragen wir: Wer soll raus? 1980 fragten wir: Wer soll rein? Es wurde gefragt: Wo ist das Neue? Wohin geht jetzt der Weg? Wer kommt mit? Hat irgendwer die neue LP von David Bowie schon gehört? Was macht der jetzt? Was hast du gesagt? Nile Rodgers?

Seht euch 1980 näher an. Als diese Begegnung mit Tore Olsen stattfand, hatte Norwegens staatliche Filmkontrolle soeben Life of Brian wegen des blasphemischen Inhalts verboten. Alfred Hitchcock stirbt. Barbra Streisand singt Woman in Love und Kate Bush singt Babooshka.

Jemanden herausnehmen. Jemanden hereinholen. Das war die Aufgabe der Kritiker. Ich schrieb nicht mehr so viele Rezensionen wie vorher. Außerdem machte ich einen Bogen um norwegische Musiker, mit wenigen Ausnahmen. Die eigentliche Schlussfolgerung war mir unbehaglich. Warum soll gerade die den Kritikern vorbehalten sein, wenn alle anderen Glieder in der Kette, Schriftsteller, Musiker, Produzent, Verleger wissen, dass kein Urteil über ein Kunstwerk absolut sein kann? Das Fragezeichen liegt immer näher an der Wahrheit als das Ausrufezeichen. Außerdem hat das Fragezeichen Ähnlichkeit mit einem F-Schlüssel.

Eines Tages werde ich mich zwingen, noch einmal alle meine alten Rezensionen zu lesen. Ich weiß, dass es mir furchtbar peinlich sein wird. Ich bin früheren Kritikern begegnet, die sich nicht einmal mehr daran erinnern können, was sie geschrieben haben. Wir kommen alle nicht ungeschoren davon. Ich weiß, dass ich oft bereuen werde, was ich in der Zeitung geschrieben habe. Öfter, als ich das bereuen werde, was ich in Romanen geschrieben habe. Ich werde nicht immer stolz sein, auch wenn ich nie die Schlachterschürze vorgebunden habe.

Jemanden hereinholen. Jemanden herausnehmen. Das klingt fast militärisch. Aber darauf basieren die heutigen Reality-Serien. Jemand muss entfernt werden. Verschwinden. Am Ende ist nur eine einzige Person übrig. Der Sieger oder die Siegerin. Jemanden verschwinden zu lassen bedeutet auf gut Norwegisch eigentlich: jemanden umbringen. Aber nichts ist eindeutig. In Libyen haben norwegische Jagdflieger viele Wochen lang Menschen verschwinden lassen, ohne auch nur zu wissen, was sie bombardierten. Das heißt, sie ließen sie nicht verschwinden, sie ließen sie einfach in einer Blutlache in der Wüste liegen, während sie ihr Tempo steigerten, hoch oben am Himmel, und zum nächsten Ort weiterflogen, wo sich jemand bewegte. Aber nach der Bombe im Regierungsviertel und dem Massaker auf Utøya sprachen wir nur über Gemeinschaft, darüber, dass jedes Leben unersetzlich ist. »Ist es nicht an der Zeit, dass wir anfangen, uns wie Menschen zu benehmen?«, fragte der Philosoph Arne Næss, als er sich anschickte, die Organisation Fremtiden i våre hender zu gründen. Nun zitierten wir Nordahl Grieg: »Still bewegt sich das glitzernde Band der Granaten. Haltet ihren Zug in den Tod an, haltet ihn mit Geist auf.« Musik ist Geist. Das hätten auf jeden Fall meine alten Lehrer an der Waldorfschule gesagt. Als uns die Ausmaße der Katastrophe aufzugehen begannen, und als die Zahlen der Toten von Utøya bekanntgegeben wurden, brachte der NRK die ganze Zeit Musik.

Musik ist immer die Rettung, wenn wir anfangen, über die Wörter zu stolpern.

Die Welt, die meine war

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