Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjørnstad - Страница 6
2.
ОглавлениеIn seiner allerersten Erinnerung steht er auf der Treppe zu Hause im Melumvei, gleich vor der Haustür. Später wird er denken, dass das in den ersten Monaten des Jahres 1955 gewesen sein muss.
Es ist Frühling.
Er erinnert sich an Staub, an die letzten Schneereste. Er erinnert sich daran, dass er zu sich selbst gesagt hat: Jetzt bin ich drei Jahre alt.
Er erinnert sich an den Zaun und das rote Haus auf der anderen Straßenseite. Er erinnert sich an die Angst vor den beiden Jungen, die dort wohnten, und vor deren schwarzem Hund. Aber vor allem erinnert er sich an das Loch in der Treppe daheim. Es war so groß, dass ein Erwachsener eine Faust hineinstecken konnte. Er konnte mit beiden Füßen hineintreten, wenn er die Schuhe auszog.
Es war so erschreckend groß.
Wie war das Loch entstanden?
Er wagte nie, seine Eltern danach zu fragen. War es ein Meteorit gewesen? Eine Atombombe? Ein vom Himmel gestürzter Engel? Oder hatten sich die Eltern gestritten und Vater oder Mutter hatte mit dem Fuß aufgestampft, wieder und wieder, in gewaltigem Zorn?
Oder war er es selbst gewesen?
Dieser letzte Gedanke ist der erschreckendste. Das Gefühl, dass mit ihm vielleicht etwas Schwerwiegendes nicht stimmt, dass Gott ein Zeichen auf die Treppe vor der Haustür gesetzt hat, damit ER in alle Ewigkeit daran denkt, dass hier einer wohnte, mit dem etwas ganz und gar nicht stimmte.
Bis ihm dieser Gedanke gekommen war, hatte er sich des Lebens freuen können, ehe er groß genug wurde, um sich sagen zu können, er sei jetzt drei Jahre alt, er müsse versuchen, sich für den Rest seines Lebens an diesen Augenblick zu erinnern.
Jetzt, da der letzte Gedanke gedacht ist, hofft er, diesen Augenblick vergessen zu können. Der Wind in den Bäumen, der Gesang der Vögel, das Hupen eines Autos in der Ferne. Die Straßenbahn nach Lijordet, die an der Haltestelle Røa vorfährt.
Sich liebevoll zu erinnern. An alle, die da waren. Die ganze Zeit. Die versuchten, sich um mich zu kümmern. Die tiefe Dankbarkeit. Dafür, dass ich wirklich die Möglichkeit erhielt, dieses Leben zu leben. Aber die Erinnerung hat ihre eigene Dramaturgie. Wir erinnern uns an das, woran wir uns erinnern wollen. Das, was wir vermissen, und das, was wir nicht verdrängen können. Deshalb werden diese Bücher über die Vergangenheit als Romane geschrieben. Genau wie das Leben hat der Roman oft ein Leitmotiv und mehrere Nebenmotive. Und wie im Leben sucht unser Gedächtnis aus, welche Erinnerungen wesentlich sind und in Erinnerung bleiben und welche vergessen werden sollen.
So entsteht eine Dramaturgie, die einem Roman zum Verwechseln ähneln kann.
Nicht das Drama an sich sorgt für die Dramaturgie. In Madame Bovary ist das Fehlen von Ereignissen ebenso wichtig wie die Ereignisse selbst. Die Langeweile an sich ist eine der Voraussetzungen dieses Buches.
Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich oft am besten an das Ereignislose: vor dem Haus im Melumvei in Røa auf einer Treppe zu sitzen.
Zumeist war ich glücklich und ahnungslos. Aber ich weiß auch noch, dass ich Unbehagen verspürte.
Meine erste bewusste Erinnerung: dass ich mich fürchtete, vor dem Leben und vor allem, was vor mir lag.