Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjørnstad - Страница 17
13.
ОглавлениеEs war nach dem vierten Tag im Studio, als alles aufgenommen, aber noch nicht abgemischt war. Nun lud Lill mich zu einer Dragshow mit Christer Lindarw ein. Am Vorabend hatten wir in Anders Burmans großer Eckwohnung auf Söder gesessen, in dem exklusiven Haus, das eine Art Wahrzeichen war, mit Aussicht über die ganze Stadt. Wir waren aufgekratzt und glücklich über alles, was wir geschafft hatten. Wenn ich Lill ansah, dachte ich, etwas auszuüben, zu erschaffen, lasse Schönheit aus sich selbst entstehen, ja, selbst die hässlichste Erscheinung, wie Orson Welles oder Charles Laughton, könne Schönheit gewinnen durch die erbarmungslose Eigen-Wirklichkeit des Schauspielers. Ich hatte diese Schönheit am ersten Abend im Gesicht ihres Lebensgefährten gesehen, als wir alle im Theatergrill gegessen hatten. Brasse Brännström war die eine Hälfte von Magnus und Brasse, der ganze Norden liebte die beiden. Sie hatten ein Programm, das sie jeden Abend aufführten, aber gerade an diesem Abend hatte Brasse frei. Ich hatte mir längst etwas gemerkt, was Lill über ihn gesagt hatte: »Entweder feiert er, oder er fastet.« Ich musterte ihn, die großen Kontraste im Gesicht, die konstante Traurigkeit, die er ausstrahlte. Etwas an ihm erinnerte mich an Jack Lemmon. Das melancholisch Hilflose, das ihn seltsamerweise nur interessanter machte. Trond-Viggo hatte auch etwas davon. Sich selbst nicht so ganz aushalten zu können. Als wir in dem eleganten Restaurant hinter dem Theater Dramaten an unserem Vierpersonentisch saßen, tauchte plötzlich Magnus Härenstam auf. Ich begriff nicht richtig, weshalb. Ich saß an einem Tisch mit dreien der berühmtesten Menschen Schwedens, und dann war er gekommen, um mich kennenzulernen. Ich registrierte die Blicke von den anderen Tischen, die übertriebene Höflichkeit der Kellner und fühlte mich fehl am Platze. Diese Jetset-Stimmung war so weit entfernt von Sandøya. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mich irgendwohin verlaufen zu haben, dass sie missverstanden hätten, wer ich war, dass ich aufstehen und sagen müsste: »Entschuldigung, hier liegt eine Verwechslung vor. Ich gehöre nicht hierher.« Ich hätte geradewegs zur Toilette gehen und den Finger in den Hals stecken müssen, ehe ich mich aus dem Restaurant und zu einer elenden Kneipe weit weg von Östermalm schlich. Aber das wagte ich nicht. Es war zu spät. Wir nahmen gerade eine LP auf. Drei Lieder befanden sich schon auf großen 24-Spur-Bändern. Ich lauschte auf die Gespräche um mich herum. Versuchte, die Rolle des jungen, in sich gekehrten, geheimnisvollen Künstlers zu spielen. »Wohin fährst du im Sommer?«, fragte Lill. »Nach Mallis«, antwortete Magnus. »Was ist Mallis?«, fragte ich. »Mallorca«, antwortete Magnus. Ich musste lachen. Es klang so blödsinnig. Mallis, also echt. Klar, dieses Herrenvolk hier sagte auch Dagis zu Kindergarten und Fritids zu Freizeit. Dennoch war es komisch. Ich lachte immer weiter. Sie lachten auch, aber nicht über sich selbst. Sie lachten über mich, weil ich Norweger war, weil ich es seltsam fand, dass ich noch nie von Mallis gehört hatte, dass ich so wenig Schwedisch konnte. Ich merkte, dass ich rot wurde. Ich lachte zu lange. Das hatte ich auf diese Weise noch nie getan. So außerhalb aller Kontrolle. Jetzt war ich der Knabe aus dem Nachbarland, dem armen Land, dem Kätnerland, dem Hurzel-Purzel-Land. Ich sagte es. »Entschuldigung. So benimmt man sich, wenn man aus einer ehemaligen Strafkolonie kommt. Wir tragen noch immer Frieswämse und schlafen im Heu.« Sie lachten pflichtschuldig. Sie fanden das nicht witzig. Sie waren professionelle Komiker. Sie waren vielfache Millionäre geworden, weil sie andere dazu bringen konnten, vor Lachen zu heulen und zu kreischen. Sie hatten eigentlich keine Verwendung für Amateure wie mich. »Aber ihr habt ja das Öl«, sagte Brasse freundlich. »Wir werden ohnehin nicht reich, jedenfalls nicht so wie ihr«, sagte ich. »Wir kriegen nur einen Haufen Geld.« – »Schön gesagt«, sagte Lill. Aber ich merkte, dass ich mich ausgesperrt hatte, und darüber sprach ich nun, in Anders Burmans Wohnung, drei Tage später. Ich gestand, wie sehr ich mich ausgeschlossen gefühlt hatte. Ich erzählte nicht, dass ich nach dem Fischgericht gekotzt hatte. Ich erzählte auch nicht, dass ich Brasse um ein Haar gefragt hätte, ob auch er jeden Tag den Finger in den Hals steckte. Es reichte, zu erzählen, wie sehr ich mich ausgeschlossen gefühlt hatte. Aber sowie ich es gesagt hatte, merkte ich, wie ichbezogen ich war. Diese freundlichen, berühmten Menschen hatten mir freie Hand gelassen, hatten mir alle Möglichkeiten gegeben, und hier saß ich nun und beklagte mich, weil ich nicht ganz dazugehörte. Gab es denn keine Grenzen, wenn man aus Norwegen kam? Aber auch diesen ichbezogenen Ergüssen lauschten sie höflich, und sie brachten ihre eigenen Anekdoten über andere Leute, Schweden sogar, denen es genauso gegangen war. Aber wie konnte man denn auf einer Bühne stehen und sich selbst dennoch als dysfunktional erleben? Oder in einem Studio? Ich hatte die Streicher dirigiert. Alles hatte geklappt wie am Schnürchen, obwohl ich glaubte, ziemlich komplizierte Arrangements geschrieben zu haben, vor allem bei Regent Street. Triolen, die klingen sollten wie ein Kaffeehausmusiker im Delirium. Und wenn ich in der Musik war, ob auf der Bühne oder im Studio, repräsentierte ich einen anderen als mich selbst. Dann war ich entweder meine eigene Vergangenheit, der Pianist, der jeden Tag acht Stunden geübt hatte, oder der, der die Musik geschrieben hatte. Dann stand ich dort und nahm mit Fug und Recht Platz ein. Dann zögerte ich nicht. Im Konzertsaal konnte ich dem Publikum weniger und weniger ins Auge schauen. Auf irgendeine Weise bat ich immer um Entschuldigung dafür, dass ich dort stand und ihre Zeit stahl. Selbst, wenn ich wusste, dass ich etwas Gutes zu bieten hatte, etwas, das jedenfalls nicht schlechter war als das, was andere liefern konnten, glaubte ich nicht, Applaus verdient zu haben. Hatte ich deshalb das Publikum gebeten, nicht zu klatschen, als ich in den siebziger Jahren Poesie und Musik gemacht hatte? Aber ich rezitierte nicht mehr. Ich spielte. Und zu Hause auf der Insel schrieb ich Lieder und Romane. Schweden war das Land der Lieder. Die Liedermacher schrieben Texte, die oft die der Lyriker übertrafen. Schon zu Beginn der achtziger Jahre schien die Lyrik in der literarischen Landschaft an Boden zu verlieren. Axel Jensen würde zwar fünf Jahre später mit seinem Boot vor Aker Brygge vor Anker gehen und ein internationales Poesiefestival arrangieren, aber gerade jetzt, zu Beginn der achtziger Jahre, stahlen die Romane sehr viel Aufmerksamkeit. Es würde das Jahrzehnt von Jan Kjærstad werden. Das Jahrzehnt von Lars Saabye Christensen. Das Jahrzehnt von Herbjørg Wassmo. Das Jahrzehnt von Dag Solstad. Tove Nilsens Wolkenkratzerengel in Bøler. Und diese literarischen Dinge strömten plötzlich durch meinen Kopf, fast wie eine Vorwarnung vor späteren Traumata, während ich zugleich eingestand, wie gering mein Selbstbewusstsein war, was mich für diese phantastischen Menschen zur Belastung machte, für Lill und Anders, die diese Produktion ermöglicht hatten. In letzter Zeit erlebte ich mich mehr und mehr als jemanden mit großem Erfolg, für den aber trotzdem alles immer zum Teufel gehen würde. Warte nur ab, hätte ich gern gesagt, wann immer jemand mir ein Kompliment machte.
Lill ohne Brasse war so anders, sie kam mir fast vor wie bei einem Date, redete die ganze Zeit, eine Fähigkeit, anwesend zu sein, um die ich sie beneidete, weil ich selbst so zurückhaltend war. Ich merkte, dass sie erleichtert war. Dass sie glaubte, wir hätten etwas geschafft. Anders Burman verhielt sich ebenso. Er sagte, er freue sich auf das Abmischen. Ich hatte gedacht, er werde mit uns die Dragshow besuchen. »Nein, ihr zwei solltet allein gehen«, sagte er entschieden.
Sollte ich wirklich allein mit Lill losziehen zum absoluten Hotspot und After Dark sehen, die Dragshow mit der »schönsten Frau Schwedens«, Christer Lindarw, dem Sohn eines Speedwayfahrers? Seine Parodie auf Lill war der Höhepunkt in seiner raffinierten Show.
Als wir vor dem Theater aus dem Taxi steigen, geht es wie ein Rauschen durch die Menschenmenge. Lill Lindfors! Hier ist sie! Wirklich! Sie hakt sich bei mir ein, und ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll, wie ihr todkranker, Hilfe brauchender Vetter vierten Grades, den sie aus Kiruna oder Umeå hergeholt hat, um ihm etwas Gutes zu tun? Oder soll ich die norwegische Karte ausspielen? Den Stallwichtel? Den Hilfesuchenden? Sie, die Waisenkinder in aller Welt besucht, die in Afrika war, um den hungernden Müttern zu helfen, jetzt kommt sie mit diesem armen Norweger her, mit dem sie eine LP aufnimmt, nur um sein elendes Selbstbild zu retten. Ich gehe dicht neben ihr, merke, dass jemand mit Blitz fotografiert, versuche zu lächeln, während ich mich im Glanz sonne. Ja, ich habe schon einen Sonnenbrand. Meine Haut pellt sich. Lill lacht und lächelt mich an. Keine kann lächeln wie Lill Lindfors.
Drinnen gibt es Glamour und laute, intensive Musik. Nichts weist daraufhin, dass in Schweden gerade überall gestreikt wird. Wir landen in der Welt der Verkleidungen. Lindarw und seine Herren erschaffen eine Damenwelt, die selbst sabbernden Tattergreisen die Potenz zurückgeben kann. Ich sitze da mit großen Augen und offenem Mund und glotze. Kann das wirklich möglich sein? Diese Menschen zaubern doch mit ihren Körpern und mit Schminke und Haltung. Ihr Selbstvertrauen ist ansteckend. Sitze ich hier und denke, dass Lill und ich ein Album eingespielt haben, von dem wir Tausende Exemplare verkaufen werden? Sind wir schon dicht vor einem großen Hit? Etwas in der Größenordnung von Du är den ende? Was? Was? Reden wir jetzt über klingende Münze? Welcher Champagner erwartet uns nach der Show? Was wagen sie, uns nicht anzubieten? Sind schon Gerüchte über diese LP im Umlauf? Und da kommt Lill Lindfors! Die Frau, neben der ich in der dritten Reihe sitze. Aber sie kommt von der Bühne her. Sie ist strahlend schön in einer weißen Kreation, und sie zeigt die perfekten Beine, Haut und Seide, streicht wie eine selbstsichere Katze über die Bühne, während die Stimme der Lill, die im Saal sitzt, aus den Lautsprechern strömt. »Er geht wie ein Kerl / Er sieht aus wie ein Kerl / mit einem Körper wie ein Kerl / und küsst, wie ein Kerl das soll.« Gelächter wogt durch den Saal. Alle sehen ja, wie sehr er sich an ihr orientiert, wie er ihr zuzwinkert, wie sie da neben mir sitzt und höflich mitsingt, um klarzustellen, wie entzückt sie von der Parodie ist. Er geht fast ihre gesamte Hitliste durch, und als er bei Du är den ende ankommt, explodiert der Saal. Die Sinnlichkeit auf der Bühne ist so überwältigend, dass Lill losprustet. Für wenige Sekunden scheint Lindarw mehr Lill zu sein als Lill selbst. Es entsteht eine magische Kommunikation zwischen dem, der parodiert, und der, die parodiert wird, vielleicht, weil es gar keine Parodie ist, sondern eine Imitation, eine Widmung, ein Ausdruck der Bewunderung, Lindarws Version einer Frau, die er hätte sein können, die er vielleicht gern wäre, wenn er die Möglichkeit dazu hätte. Als ob Lindarw als Lindfors besser wäre denn als Lindarw. Das Dach hebt sich vom Theater.
Ted Turner, der Medienmogul aus den USA, auf den ich zehn Jahre später gewaltig eifersüchtig sein werde, als er Jane Fonda heiratet, meine ewige Barbarella mit den sichtbaren Orgasmen, gründet Cable Network News, zusammen mit 25 anderen Investoren, die zusammen 20 Millionen Dollar in den neuen Fernsehsender schießen. CNN wird rund um die Uhr Nachrichten senden. Das ist bisher noch nicht dagewesen. CNN soll zudem zu einem globalen Fernsehprojekt werden, mit Büros in den USA, Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika.
Ich sitze draußen auf der riesigen Terrasse, die wir gebaut haben, und lese über dieses Projekt, verspüre einen Stich Sehnsucht nach Stadt, Kabeln, Satelliten, Rockmusik und Technologie. Ich lese, was Ted Turner in Verbindung mit der Einweihung von CNN gesagt hat: »Wir werden erst aus dem Äther verschwinden, wenn die Welt untergeht. Wir werden dabei sein, wir werden live berichten, und es wird unsere allerletzte Sendung sein. Wir werden einmal die Nationalhymne spielen, wenn wir am 1. Juni auf Sendung gehen, und das ist alles. Und wenn die Welt untergeht, werden wir Näher, mein Gott, zu dir spielen, ehe wir endgültig verstummen.«
Sofort ein eiskalter Wind. Wie bei einer Sonnenfinsternis.
Die Welt geht unter?
Das sagt ein steinreicher Philanthrop, der einen rund um die Uhr sendenden Nachrichtenkanal eröffnen will?
Wie hat er das eigentlich gemeint? Weiß er mehr als wir?
Plötzlich ist die Angst der Kubakrise wieder da. Der neun Jahre alte Junge. Die Luftschutzräume.
Die kreideweißen Gesichter meiner Eltern.