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Kabeljau und wilde Beeren – was kommt auf den Tisch?

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Nachdem ihre gesellschaftlichen Strukturen geordnet und die Anpassung an die grönländischen Ressourcen gelungen waren, konnten die Kolonisten zur Ruhe kommen und von einer durch Fischfang und Jagd ergänzten Weidewirtschaft leben, wie sie das schon seit Jahrhunderten in den meisten Regionen Norwegens getan hatten. In der Landwirtschaft bemühten sie sich vor allem darum, ihre Heuwiesen für eine möglichst reiche Mahd herzurichten und Heu, getrocknete Blätter und anderes Winterfutter für die Tiere zu sammeln. Es gibt keine Belege dafür, dass es ihnen gelang, irgendein Getreide bis zur Reife zu bringen, doch die tiefer gelegenen Mulden in geschützten Gebieten dürften Nutzpflanzen für den menschlichen Verzehr geliefert haben. Nicht nur Leinsamen, sondern auch Unkrautsamen etwa von Vogelknöterich und Vogelmiere sind in menschlichem Kot aus der Zeit der grönländischen Nordmänner gefunden worden. In der Nähe der Hofstätten hat man größere Bestände von Echtem Engelwurz nachgewiesen, was vermuten lässt, dass dieses schirmförmige Gewächs als Würzmittel sowie als Heilpflanze angebaut wurde. Offenbar haben die Bauern auch den in Grönland wild wachsenden Strandroggen kultiviert. Islandmoos wurde als Nahrungs- wie auch als Heilmittel verwendet, und es gab keinen Mangel an Lappentang, einer Rotalgenart, die die Nordmänner in Fässern trockneten, um einen besonderen Leckerbissen daraus herzustellen, der süß-salzig schmeckt und riecht wie das Innere eines alten Heringsfasses.4

Insgesamt würde die Ernährung und Küche der nordischen Grönländer wohl nicht ganz unserem heutigen westlichen Geschmack entsprechen, doch sie war abwechslungsreich und hielt die Menschen bis zum Untergang der Kolonie gesund. Die Siedler aßen die verschiedensten Wurzeln, Beeren und Kräuter, Tang und Schalentiere, Milchprodukte und Fleisch von Land- und Meeressäugern. Vor allem aber waren Menschen wie Tiere sicherlich vom Fisch abhängig.5 Eine neuere dänische Untersuchung von siebenundzwanzig menschlichen Knochenproben nordischer Grönländer aus verschiedenen Zeiten der Besiedlung hat gezeigt, dass es schon früh einen dann immer stärker wachsenden Rückgriff auf Lebensmittel aus dem Meer gab.6 Das würde man sicher auch erwarten bei Menschen, die häufig Robben und andere Meeressäuger aßen und in ihren Seen, Fjorden und Meeren einen großen Fischreichtum besaßen. Dazu gehörten auch drei Dorscharten, deren begehrteste heute wie damals der Kabeljau, Gadus morhua, war.

Der Wissenschaftsjournalist Mark Kurlansky hat festgestellt, dass die Reichweite der nordischen Erkundung und Besiedlung im Nordatlantik ganz genau dem Verbreitungsgebiet des Kabeljau entspricht.7 Auch das würde man erwarten, denn die Nordmänner des Mittelalters mussten Fisch fangen und konservieren, um ausgedehnte Seereisen und die Härten der langen nordischen Winter zu überstehen. Man braucht nur kaltes, sonniges Wetter und Wind, dazu Erfahrung und geschickte Hände, um den Kabeljau mit seinem mageren Fleisch in Stockfisch, eine überaus haltbare und leicht zu lagernde Trockennahrung, zu verwandeln. Die richtigen Wetterbedingungen zur Konservierung des Fisches waren in Grönland ebenso gegeben wie in Island oder Nordnorwegen, und die Siedler brachten sicher das nötige Wissen mit. Für Stockfisch braucht man kein Salz, das im mittelalterlichen Europa eine teure Handelsware war – zusätzliche Investitionen waren also nicht nötig. Das so entstandene sehr eiweißreiche Produkt war ideal als Nahrungsmittel auf langen Reisen, wenn Trinkwasser knapp und Kochen riskant war. Stockfisch muss nicht gekocht werden – auf See wie an Land wurde der vom Wind getrocknete Fisch in Streifen gerissen oder geklopft und zur zusätzlichen Kalorienzufuhr mit Butter oder Waltran bestrichen.8

Für einen solchen Fischfang und die anschließende Trocknung in größerem Umfang wählte man am besten einen Platz nicht allzu nahe an den wichtigsten nordischen Siedlungen – einen Ort, der früher Mittelsiedlung genannt wurde, heute aber als die nördlichste Ausdehnung der Ostsiedlung gilt. Die schlecht erhaltenen Ruinen dieses Bereichs sind bisher nur oberflächlich archäologisch untersucht worden, aber man kann hoffen, dass sich das irgendwann einmal ändert. Die reichsten Fischgründe für Grönland-Kabeljau fanden sich direkt vor der Küste beider nordischer Siedlungen, wo es besonders von Mai bis Juli vor Kabeljau nur so wimmelte; die ersten kamen vermutlich schon im März an diese Küsten.9 Das einzige Haar in der Suppe war wohl das Treibeis, das die Zugänge zu den Fjorden der Ostsiedlung noch im Mai und Juni blockierte, denn es hielt die Menschen an den inneren Fjorden davon ab, die Kabeljaugründe vor der Küste früh genug in der Saison zu erreichen, um den Fisch noch unter optimalen Bedingungen trocknen zu können. Eine Fischersiedlung an der Küste war deshalb durchaus sinnvoll.

Im Mittelalter wurde der Kabeljau immer mit Haken und Handleine gefangen, nicht mit dem Netz. Die Haken waren groß und aus Metall oder Knochen mühsam von Hand gefertigt. Damit stellten sie einen wertvollen Besitz dar, den man nicht einfach so verlor. Zudem wäre ein Haken, egal welcher Größe, auf dem Boden eine Gefahr für Tiere wie auch für die oft barfuß laufenden Menschen gewesen. Vor einigen Jahren zeigte sich der amerikanische Paläozoologe Thomas McGovern, ein zu Recht anerkannter Fachmann für nordische Abfallgruben, überrascht darüber, dass sich in diesen Gruben nur so wenige Angelhaken und Bleigewichte und zudem vergleichsweise wenige Köpfe und Gräten von Kabeljau fanden. Er schloss daraus, die Nordmänner hätten den Fisch, der direkt vor ihren Küsten entlangschwamm, verblüffend selten gegessen. Diese Behauptung ist inzwischen durch aufwändige neuere archäologische Untersuchungen in der Westsiedlung widerlegt worden. Dort fanden sich reichlich Grätenreste von verschiedenen Arten, darunter auch von großen Kabeljaus. Köpfe wurden zwar nur von der Lodde und vom Seesaibling gefunden, aber das war in Anbetracht der nordischen Traditionen beim Fang und der Konservierung des Kabeljau eigentlich keine Überraschung: Kopf und Gräten wurden meist entfernt, bevor man den Kabeljau zum Trocknen über Holzstangen hängte. Die Innereien, abgesehen von der wertvollen Leber, wurden oft als Dünger eingesetzt, und andere Fischabfälle – darunter auch die getrockneten und zerstoßenen Köpfe und Gräten – dienten als Nahrungsergänzung für Menschen wie für Tiere.10 Noch heute gilt ein großer Kabeljaukopf in Island und Norwegen als Delikatesse. Mein Großvater reiste fünfundsiebzig Kilometer weit mit dem Zug an, wenn meine Mutter einen solchen Kopf für ihn zubereitete, und nahm ihn sorgfältig auseinander, um den Inhalt der verschiedenen Hohlräume zu genießen. Das dürfte vor fünfhundert oder tausend Jahren nicht anders gewesen sein, und im Mittelalter landete der aufgebrochene Schädel dann im Abfall, wo er weitaus schneller zerfiel als ein vollständiger.

Kein ernst zu nehmender Archäologe hat je behauptet, dass die grönländischen Nordmänner den Verzehr von Fischen mit einem Tabu belegt hätten. Immer und überall haben die Menschen überlebt, indem sie nutzten, was die Umwelt ihnen bot. Falls die Grönländer sich zu einem »Nein« gegen Fisch, ihr am reichlichsten verfügbares Nahrungsmittel, entschlossen hätten, wären sie so schnell untergegangen, dass es keine fünfhundert Jahre Geschichte gegeben hätte, über die wir uns streiten könnten. Vor allem aber zeigt die moderne Forschung zur Ernährung der nordischen Grönländer überzeugend, dass die Kolonisten einen überaus abwechslungsreichen und gesunden Speiseplan hatten und manchmal auch große Mühen auf sich nahmen, um ihn zu bereichern. So haben McGovern und seine Kollegen Reste von Belugawalen in grönländischen Siedlungen gefunden, obwohl nach neueren Untersuchungen diese stumpfnasigen weißen Wale nie entlang der besiedelten grönländischen Südwestküste lebten. Sie ziehen daraus den Schluss, dass die Nordmänner erlegte Belugas aus größerer Entfernung nach Hause transportierten.11

Die Milchwirtschaft der nordischen Grönländer, die, wie wir wissen, ihre Kühe, Schafe und Ziegen hoch schätzten, ist nie ernsthaft angezweifelt worden. Die Verarbeitung von Molkereiprodukten war allgemein anerkannt, lange bevor Archäologen erstmals Milchablagerungen in Fässern aus den Überresten der Ostsiedlung nachweisen konnten. Selbst die schlimmsten skandinavischen Schreibtischhistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts, die, nebenbei gesagt, mehrmals wöchentlich Fisch aßen, wussten, dass Butter, Käse und andere Milchprodukte in ihrer eigenen Gesellschaft sehr wichtig waren, und gingen deshalb davon aus, dass für die nordischen Grönländer, die ihrem Kulturkreis angehörten, das Gleiche gegolten haben müsse.

Den Reiz von Käse und Butter muss man nicht weiter erklären. Wer je im modernen Island skyr (ein quarkartiges Produkt aus mit Lab versetzter Milch) probiert hat, versteht wohl, dass es auch den mittelalterlichen Nordmännern geschmeckt haben muss. Molke – ein Nebenprodukt von Sauermilch – würde heute vielleicht nicht so viel Anklang finden, doch für die Nordmänner war diese dünne, saure, bläuliche Flüssigkeit ein wertvolles und nahrhaftes Lebensmittel, so reich an Milchzucker, dass in Norwegen noch heute ein süßer brauner Käse daraus gemacht wird. Die Nordmänner mischten Molke mit Wasser und machten so ein durststillendes Getränk daraus, oder sie verwendeten sie wie Essig, um Nahrungsmittel darin einzulegen.

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