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Die andere Seite der Bucht

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Als Eirik der Rote Grönland erkundete und Ausschau nach Land zum Siedeln hielt, fand er zunächst nur unüberwindlich erscheinende Gletschermassen – also nichts, was Siedler anziehen könnte. Doch als er schließlich bis weit in die tiefen Fjorde im Westen des Landes vordrang, konnte er dort grüne Hügel, Bergeschen mit orangefarbenen Beeren und sich im Wind wiegende Birken ausmachen. Man brauchte viel Gottvertrauen und Mut, um so tief in die langen unbekannten Meeresarme mit ihren vielen Windungen und Verzweigungen hineinzusegeln, doch spiegelte dieser Wagemut auch die Erfahrung wider, dass die Landschaft wohl um so lieblicher werden würde, je weiter man in einen Fjord oder eine Bucht vordrang. Die Vínland-Sagas lassen vermuten, dass die Nordmänner mit ihrer Vorliebe für geschützte Lagen auch auf der anderen Seite der Meerenge – diesmal unter Leifs Kommando – Buchten, Fjorde und Flussmündungen erforschten und dass sie dieselbe Vorsicht übten wie Eirik in seinem ersten Winter in einem unbekannten Land: Sie überwinterten auf einer Insel, weil sie nicht wussten, wer sonst noch das Land und die Meere ringsum bewohnte. Wie sich zeigen sollte, war diese Umsicht entlang der fremden Küsten besonders ratsam. Leif und seine Gefährten gaben ihnen Namen, die Historiker noch heute verwenden, wenn sie über die nordischen Fahrten nach Nordamerika vor einem Jahrtausend sprechen.

Die Felsplatten und Gletscher von Baffin Island in dem Landstrich, den sie Helluland (Steinplattenland) nannten, boten wenig, was die Seefahrer nicht auch in Grönland hätten finden können, doch die »Saga von den Grönländern« hält fest, dass Leif dennoch einen Landungstrupp entsandte, damit niemand ihm eine Pflichtverletzung vorwerfen konnte. In der »Saga von Eirik dem Roten« ist es Karlsefni, der dieses Gebiet wegen seiner gewaltigen Steinplatten Helluland nennt. Sein Landungstrupp hatte offenbar nebenbei noch Zeit zur Jagd, denn nach Auskunft der Männer war die Gegend voller Füchse, und sie erbeuteten sicher so viele dieser wertvollen Pelztiere wie nur möglich.4

Sobald Leifs Expedition bei 58° N Napartok Bay erreichte, die gegenwärtige Nordgrenze für Bewaldung an der amerikanischen Nordostküste, gaben die Männer dem Land dort den Namen Markland (Waldland). Dies zeigt, dass sie weit genug nach Süden gekommen waren, um die Bäume zu finden, auf die sie gehofft hatten. Der Waldgürtel in Nordostamerika setzt sich mit einer wechselnden Mischung von Baumarten sehr weit nach Westen und nach Süden hin fort, deshalb ist es unmöglich, die gedachte Grenze zwischen Helluland und Markland oder den Übergang zwischen Markland und Vínland (Weinland) genauer zu bestimmen. Der letztere Name zeigt an, dass die Nordmänner in einer Landschaft, in der es ganz offensichtlich noch Bäume gab, eine auffällige neue Art gefunden hatten, vínber (Weinbeeren). Deshalb verdiente das Gebiet einen eigenen Namen. Aber wo lag Vínland?

Schon vor 1960 und Helge Ingstads Entdeckung einer nordischen Ruinenstätte aus der Zeit um 1000 bei L’ Anse aux Meadows auf der grünen, grasbewachsenen Nordhalbinsel Neufundlands war in der Diskussion über die richtige Lokalisierung von Vínland auch vorgeschlagen worden, Vínland als »Grasbedecktes Feld« zu übersetzen. Dieser Argumentation zufolge hatte das Präfix des Namens einen kurzen, keinen langen Vokal und korrespondierte deshalb mit dem Suffix »-vin« wie etwa in Bergens altem Namen Bjørgvin. Doch dieser besondere Gebrauch von »vin«, als Suffix wie als Präfix, war schon vor der Besiedlung Islands und Grönlands veraltet. Es fehlt in Ortsnamen nordischen Ursprungs nicht nur in Island und Grönland, sondern auch auf den schottischen Inseln und den Färöern.5 Falls Vínland noch immer »Land der grünen Wiesen« bedeutet hätte, als Eirik der Rote Siedler nach Grönland locken wollte, hätte er sein neues Land genauso gut Vínland (mit kurzem Vokal) und nicht Grönland nennen können, um anzuzeigen, dass es dort gute Weiden gab. Es ist darüber hinaus zweifelhaft, ob die Nordmänner, die doch zu Hause in Grönland genügend Weideland besaßen, von Wiesen auf der amerikanischen Seite besonders beeindruckt gewesen wären.

Die Nordmänner hatten schon mehrere Jahrhunderte mit und auf dem europäischen Kontinent Handel getrieben, als sie sich daran machten, Nordamerika zu erkunden. Deshalb wussten sie sehr gut, was man brauchte, um Wein (vín) herzustellen. Wikinger, die in Frankreich und auf der Iberischen Halbinsel überwinterten, lernten wahrscheinlich schnell, wenn es um Essen und Trinken ging, und die Norweger, die zu Hause blieben, genossen eingeführten Wein und Rosinen ebenso wie frische Trauben, die schon in Deutschland wuchsen.

Auf der Insel Neufundland wachsen heute – wie auch vor tausend Jahren – keine Trauben. Deshalb kann Vínland nicht mit Neufundland gleichgesetzt werden, doch Teile der Insel waren zweifellos einbezogen in den Namen, den die Nordmänner der südlichsten von ihnen erkundeten Region gaben. Die kanadische Archäologin Birgitta Wallace, gegenwärtig für die Grabungsstätte L’Anse aux Meadows verantwortlich, nennt den Ort das »Tor« zu Vínland und meint, dass die Nordmänner wenigstens Teile von Nova Scotia erkundet haben müssen, wo sowohl wilde Trauben wie auch der amerikanische Butternussbaum (Juglans cinerea) wuchsen und noch heute wachsen, denn Früchte und (mit Eisenwerkzeugen bearbeitetes) Holz der Butternuss wurden in der nordischen Kulturschicht in L’ Anse aux Meadows gefunden. Wie ihre Vorgängerin Anne Stine Ingstad weist auch Wallace darauf hin, dass diese Kulturschicht sehr dünn ist. Die Stätte war offenbar nur ein oder höchstens zwei Jahrzehnte in Benutzung und diente damals wohl als Umschlagplatz für amerikanische Waren, die nach Grönland exportiert werden sollten. Die Ruinen verweisen auf die Anwesenheit von drei oder vier Häuptlingen mit großen Besatzungen, die den Ort für Schiffsreparaturen, Erkundungen, die Ausbeutung verschiedener Rohstoffe und zum Überwintern nutzten.6 Man nimmt heute allgemein an, dass die Häuser von L’ Anse aux Meadows Leif Eirikssons strategisch ausgewähltes Winterlager darstellten, das eine Zeitlang von nachfolgenden Kapitänen und ihren Mannschaften benutzt und ausgebaut wurde, wie auch die Sagas es andeuten.

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