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Die Siedler passen sich dem arktischen Klima an

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Männer und Frauen hatten in traditionellen mittelalterlichen Gesellschaften gewöhnlich fest umrissene Betätigungsfelder – das war auch bei den Nordmännern in Grönland nicht anders. Milchwirtschaft, Kochen und die Konservierung von Nahrungsmitteln zählten zu den vielen Pflichten der Frauen. Seit den Anfängen der nordischen Besiedlung Grönlands bedeutete die Nutzung der Nahrungsressourcen im Meer wie an Land jedoch harte Arbeit für Frauen wie für Männer, weshalb es niemanden überraschte, als Niels Lynnerups forensische Untersuchungen an Skelettmaterial der grönländischen Nordmänner zeigten, dass beide Geschlechter sehr muskulös waren.

Lynnerup konnte auch Knochenbrüche nachweisen, die nach Unfällen oder gewaltsamen Auseinandersetzungen wieder verheilt waren. Viele Grönländer litten offenbar an Arthritis oder anderen weit verbreiteten Krankheiten wie etwa chronischen Mittelohrentzündungen. Die Untersuchung erbrachte auffälligerweise keine Anzeichen von Mangelernährung oder genetischer Degeneration, allerdings hatte Lynnerup in einer früheren Untersuchung Hinweise darauf gefunden, dass die Menschen im Laufe der Zeit immer kleiner wurden. Zahnuntersuchungen an grönländischen Schädeln lassen ebenfalls einen leichten Rückgang der Körpergröße und der Zahnentwicklung vermuten. Allerdings sind diese Veränderungen nach Meinung Lynnerups nicht notwendigerweise Anzeichen einer Degeneration. Ganz im Gegenteil könnten sie sogar auf eine effiziente Anpassung der nordischen Siedler an ihren grönländischen Lebensraum hinweisen. Lynnerup zeigte sich deshalb überrascht, als Thomas McGovern vom Fehlen einer parallel laufenden kulturellen Anpassung sprach. Auch andere Wissenschaftler haben die Diskrepanz zwischen diesen forensischen Studien und den Theorien der mangelnden Anpassungsfähigkeit bemerkt, darunter auch die Tatsache, dass sich bei Zahnuntersuchungen keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf die Stressbelastung zeigten, wenn man Proben aus der Früh- und der Spätzeit miteinander verglich.12

Die oft wiederholte Behauptung, die Gesellschaft der nordischen Grönländer habe sich in den verschiedensten Bereichen nicht anpassen können – dazu zählte auch die angebliche Nichtausbeutung der Fischbestände –, ist viele Jahre lang von zahlreichen Lesern und Autoren nur allzu gern akzeptiert worden. Ein einflussreicher Wissenschaftler räumte zwar ein, dass die grönländische Wirtschaft »durch geschickte Koordination kommunaler Arbeit und jahreszeitlichen Überfluss von Ressourcen an Land und auf dem Meer charakterisiert« gewesen sei, war aber auch der Überzeugung, dass sie zu knapp an der Überlebensgrenze operiert habe und so inflexibel gehandhabt worden sei, dass »das Aussterben der Nordmänner … als ein Scheitern menschlicher Manager bei der Wahl wirksamer Gegenmaßnahmen gegen klimatischen Stress gesehen werden« könne. Andere Mängel waren seiner Ansicht nach, dass die nordischen Grönländer »nicht die Art Walfänger-, Fischer- und Robbenfängerdörfer hervorbrachten, die für das moderne Grönland so typisch sind«, und dass sie nicht die Kleidung und Jagdmethoden der Eskimos übernahmen, um zu überleben.13

Erst kürzlich wurden Meinungen dieses Tenors wieder publiziert. So schreibt etwa Jared Diamond, der den Wikingern insgesamt sehr kritisch gegenübersteht: »Mit Grönland kommen wir einem kontrollierten experimentellen Zusammenbruch so nahe wie möglich: Zwei Gesellschaften (Norweger und Inuit) teilten sich dieselbe Insel, hatten aber eine ganz unterschiedliche Kultur, sodass die eine Gesellschaft überleben konnte, während die andere zugrunde ging.«14 Und weiter: »Warum lernten die Wikinger nicht, mit der kleinen Eiszeit umzugehen, wo sie doch nur die Inuit zu beobachten brauchten, die vor der gleichen Herausforderung standen?… Im Gegensatz zu den Wikingern repräsentierten die Inuit den Höhepunkt einer jahrtausendealten kulturellen Entwicklung, in deren Verlauf die Völker der Arktis gelernt hatten, die dort herrschenden Bedingungen zu meistern.« Angeblich hätten all diese Schwierigkeiten vermieden werden können, hätten die nordischen Grönländer nur ihren »europäischen Fokus« aufgegeben und ihr starrsinniges Beharren auf einer Subsistenz-Weidewirtschaft mit »kostbaren Kühen« und »verachteten Ziegen«, erweitert durch die Jagd auf Wildtiere, einer kritischen Prüfung unterzogen. Noch schlimmer sei es gewesen, so argumentiert Jared, dass die Kühe den als Winterfutter gesammelten, getrockneten Seetang nicht mochten und deshalb Knechte im Mist der Ställe leben und die Tiere im Winter zwangsernähren mussten.15

Weil keine einzige dieser Behauptungen durch Beweise belegt ist und weil dieses Kapitel sich damit befasst, wie die nordischen Grönländer lebten, nicht damit, wie sie starben, sind hier einige Anmerkungen nötig. Auf den grönländischen Gehöften des Mittelalters war es nicht ungewöhnlich, dass Knechte und Tiere in einem Gebäude lebten, doch die Vorstellung, dass sie im Mist der Kuhställe wohnen und die Kühe stopfen mussten, um sie über den Winter zu bringen, läuft allem zuwider, was man nicht nur über die nordischen Gesellschaften allgemein, sondern auch über das Verhalten hungriger Kühe weiß. Während der deutschen Besatzung Norwegens im Zweiten Weltkrieg mussten die Bauern ihren Kühen Zellulose, Kohlstrünke und alles mögliche andere füttern, um sie – mehr schlecht als recht – am Leben zu erhalten. Die Milch schmeckte auffällig schlecht, doch die Tiere fraßen, was man ihnen gab, und überlebten. Ein Bauer wird alles tun, um sein Vieh zu retten, und keiner, der einigermaßen bei Verstand ist, »verachtet« Tiere, denen er und sein Haushalt seine Nahrung, seine Kleidung und womöglich noch Überschüsse für den Handel verdanken. Auch die Grönländer werden die robusten Schafe und Ziegen, die ihnen für so wenig Pflege so viel zurückgaben, hoch geschätzt haben.

Es lässt den Alltag der nordischen Grönländer in einem anderen Licht erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ihr Leben tatsächlich nicht härter war als das ihrer Zeitgenossen in weiten Teilen Norwegens und, wenn wir realistisch sind, das der meisten Europäer im Mittelalter. Bauern, Fischer, Knechte und Sklaven hatten einen unglaublich schweren Alltag zu meistern, nicht nur im widrigen Klima des hohen Nordens. Selbst die privilegiertesten Landbesitzer und Städter hatten mit Krankheiten zu kämpfen, gegen die es oft keine Heilmittel gab, und alle litten unter der Winterkälte, der sie mit dem Tragen von Pelzen und Fellen entgegenwirkten. Pelze waren vor allem als Kleiderfutter, auch für Nachtkleider, heiß begehrt und wurden im Frühling mit Kreide oder anderen fettabsorbierenden Substanzen gereinigt.16

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