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Liber diurnus, Liber pontificalis, päpstliche Ämter und Verwaltung
ОглавлениеAbgesehen vom Glücksfall der Registerüberlieferung im Falle Gregors I. sind zwei „Bücher“ wichtige Quellencorpora zur frühen römischen Papstgeschichte. Beide dokumentieren hier im Vergleich zu vielen Gebieten Westeuropas eine starke Fortdauer von antiken Verwaltungsformen und einen hohen Grad der Schriftlichkeit. Lässt der als „offiziös“ zu bezeichnende Liber pontificalis – nicht nur bei Gregor dem Großen, sondern auch bei anderen Protagonisten – in einzelnen Lebens- oder besser: Tatenbeschreibungen erkennen, woher ein Papst stammte, welche Institutionen er besonders förderte, welche „politischen“ Ereignisse in seiner Umgebung für aufzeichnenswert angesehen wurden, so macht der Liber diurnus deutlich, welche Formen und Formeln notwendig waren, um beispielsweise die eigene Wahl beim Kaiser anzuzeigen, um bestimmte Urkunden auszustellen, oder um zu klären, wie das nach Rom zu entsendende Glaubensbekenntnis eines Bischofs verfasst sein sollte. Damit rücken beide Dokumente in die Nähe päpstlicher Verwaltung, auch wenn bis heute darüber gestritten wird, ob beide Quellencorpora in den Zusammenhang einer wie auch immer gearteten Kanzlei oder teilweise auch – gerade bezüglich der Geschenkauflistungen und Stiftungsnotizen im Liber pontificalis – in den Zusammenhang der Finanzverwaltung entstanden und genutzt wurden.
Schon in die Zeit vor dem Pontifikat Gregors I. gehört die in der päpstlichen Umgebung entstehende Hofh istoriographie, die man seit 1724 mit dem Kunstbegriff Liber pontificalis (Papstbuch) bezeichnet hat.17 Dieses Buch geht zurück auf frühe Papstlisten im Catalogus Liberianus und im römischen Chronographen von 354, jedoch wurden diese Listen nach und nach ausgeschmückt, bis sie im 6. Jahrhundert kontinuierlich, zeitgleich und mehr oder weniger nach einem bestimmten Schema verfasst wurden. Damit entwickelten sich die kurzen Skizzen der einzelnen Pontifikate zu wichtigen zeitgenössischen Quellen, die dann besonders aussagekräftig werden, wenn ihre Form oder ihre Bemerkungen von den üblichen Aufzeichnungsschemata abweichen. Ab dem 8. Jahrhundert finden sich immer regelmäßiger Eintragungen von Schreibern, meist aus der unmittelbaren Umgebung des Papstes, welche die jeweiligen Protagonisten positiv kennzeichneten. Der Liber pontificalis älterer Ausprägung bricht nach 870 (bzw. nach 886) ab; verschiedene Fortsetzungen und Ergänzungen gibt es seit dem 12. Jahrhundert (vgl. Kapitel VII, S. 154). Für die Interpretation der Papstgeschichte vom 6. bis zum 9. Jahrhundert erschließt der Liber pontificalis somit Sichtweisen aus der unmittelbaren päpstlichen Umgebung. Freilich muss man umgekehrt diese Tendenz berücksichtigen, um die jeweiligen Bemerkungen richtig einzuordnen.
Später zu datieren ist die Zusammenstellung des Liber diurnus (übersetzt: tägliches Buch, also ein Buch für den täglichen Gebrauch). Die Bezeichnung findet sich zuerst im 11. Jahrhundert in Schriften des Kardinals Deusdedit.18 Da der Liber diurnus etwa um 680 zusammengestellt wurde, darf man ihn mit Vorsicht auch für die Praxis des Schriftverkehrs ab dem 7. Jahrhundert heranziehen. Verwendet wurde das Buch als Kanzleihilfe wohl bis ins 11. Jahrhundert. Es bietet eine Sammlung von Formularen insbesondere für die päpstliche Korrespondenz. Offensichtlich wurden standardisierte Vorlagen für die verschiedensten Rechtsgeschäfte als hilfreich angesehen. So enthält der Liber diurnus Vorlagen für Privilegierungen eines Klosters, für die Verleihung des Palliums (ein Ehrenzeichen für den Papst und für Erzbischöfe). Außerdem bieten einige Formeln (60–63) Hinweise über die Papstwahlen dieser Zeit. In der Forschung ist umstritten, ob mit dem Liber diurnus ein Schulbuch zur Ausbildung päpstlicher Notare vorliegt19 oder ob es tatsächlich ein ständig in Gebrauch stehendes Buch gewesen ist.20
Nicht nur diese beiden wichtigen Quellencorpora, sondern auch weitere Schriften lassen erkennen, wie das Personal und die Aufgaben in der Umgebung des Papstes im 6./7. Jahrhundert organisiert waren. Neben den Diakonen finden sich seit dem späten 6. Jahrhundert die Presbyter unter dem Vorsitz eines Archipresbyters (Erzpriester) in einem Kolleg zusammengefasst. Der Archipresbyter oder entsprechend der Archidiakon repräsentierten das jeweilige Gremium gegenüber dem Papst. Als weiterer wichtiger Amtsträger gilt der schon eingeführte primicerius der Notare. Alle drei Personen waren in der Regel an der Leitung der anstehenden Papstwahlen beteiligt. Notare sorgten sich um den Briefwechsel und um dessen Archivierung. Insgesamt klerikalisierten sich die verschiedenen römischen Ämter, und soweit diese attraktiv waren, interessierte dies verschiedene römische Familien, die meist durch diese oder ähnliche Funktionen Einfluss auf die päpstlich-römische Verwaltung gewannen.
Weil die Weitergabe solcher Ämter in den großen römischen Familien jedoch auch Gefahren für den jeweils amtierenden römischen Bischof mit sich brachte, versuchte Gregor I. verstärkt Mönche als consiliarii (Ratgeber) zu bestellen, die anders als niedere Kleriker zölibatär leben mussten. Vielleicht erweckte Gregor damit den Unwillen der Diakone und Presbyter, die in der Folgezeit die Wahl eines Mönches zum Bischof von Rom tunlichst verhinderten (bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts). Dabei ist zu unterstreichen, dass während des gesamten Mittelalters die Zugehörigkeit zum Mönchsstand fast nie bei einer Wahl ausschlaggebend gewesen zu sein scheint, sondern Mönche wie andere Kandidaten auch in der Regel erst länger in der Umgebung des Papstes lebten, bevor sie selbst für das Papstamt in Betracht gezogen wurden.21
Zunehmende Verwaltung und die Übernahme staatlicher Ordnungsfunktionen deuten weitere Ämter in der päpstlichen Umgebung an. Es gab Spezialisten für die verschiedensten Aufgaben, so einen vestiarius für die Gewänder, einen arcarius und sacellarius für die Einnahmen bzw. Ausgaben. Außerdem wurde oft ein nomenculator bestellt, der Bittschriften annahm und weiterbearbeitete.
Wie erreichte man aber diese teilweise sehr attraktiven Positionen? Schon vor Gregor I. gab es das cubiculum (Wohngemach). Im weiteren Sinne wurde damit auch der Kreis derjenigen bezeichnet, die dem Papst ohne größere Kontrolle von außen dienten. Diese vertrauten Personen hießen Kubiculare und stammten meist aus angesehenen Familien. Offensichtlich war ein Dienst im cubiculum eine der wichtigsten Verbindungspositionen zwischen den römischen Oberschichten und einem herausgehobenen Dienst in der Kirche. Gelangte man gar in die schola cantorum, die Sängergruppe in der Umgebung des Papstes, so konnte man als Kleriker weiter aufsteigen. Cubiculum und schola cantorum wurden wichtige Karrieresprungbretter. Allerdings stammten bis ins frühe 8. Jahrhundert selten Päpste aus einer dieser beiden Gruppen. Sie kamen häufiger aus griechischen Familien, die aus dem Ostreich gekommen waren und nach der Eliminierung der meisten senatorischen Familien eine neue „Oberschicht“ bildeten. Ihr Einfluss lässt sich gut an den jeweiligen Personennamen im Liber pontificalis, aber auch in anderen Quellen ablesen.