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Gregor und „gregorianisch“ – Nachwirkung und Mythos

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War Gregor I. für die Langzeitwirkungen der Mission auf den Britischen Inseln nur teilweise verantwortlich, so fragt sich allgemein, ob diesem Papst nicht auch viele andere Leistungen unbegründet zugewiesen wurden. War er wirklich der „Vater Europas“, wie Walter Ullmann ihn bezeichnet hat?33 Seine Aktivitäten, die neben Italien vor allem Gallien, Spanien und England betrafen, deuten zwar Neuorientierungen an, ihre Folgen sind jedoch kaum allein aus dem Wirken und den Werken Gregors I. abzuleiten.

Eine Würdigung der literarischen Schriften macht insgesamt deutlich, dass Gregor ein in Grammatik, Rhetorik und Dialektik sehr vereinfachtes Latein benutzte, antike Zitate sich nur selten in seinen Werken aufspüren lassen. Dass seine lateinische Prosa bewusst einfach und allgemeinverständlich formuliert ist war angesichts der sprachlichen Voraussetzungen der inzwischen neu christianisierten Gebiete ein notwendiger und wohl auch erfolgversprechender Schritt. Die breite Überlieferung seiner Schriften dürfte außerdem dazu beigetragen haben, dass ihm vieles erst nachträglich zugeschrieben wurde. Ein gutes Beispiel ist der „Gregorianische Gesang“. Die Eigenart römischmelodischer Formen konnte man sich bereits im 9. Jahrhundert nicht mehr anders erklären, als dass man sie auf einen der „wichtigsten Päpste“ des 6./7. Jahrhunderts zurückführte. So findet sich in süddeutschen Quellen des 9. Jahrhunderts eine Geschichte dieses angeblich von Gregor I. erfundenen Gesanges, und zahlreiche Vorworte verschiedener Antiphonare schreiben Gregor die Autorschaft zu, obwohl erst Papst Vitalian (657–672) hierzu Wesentliches beitrug.34

Dass seine Gestalt langfristig immer wieder neue Orientierungen legitimierte und damit zugleich mythisch überhöht wurde, zeigen auch die drei verschiedenen Fassungen seiner Lebensbeschreibung.35 Hatten die ältesten noch die Formen klassischer Heiligenviten, so wurde im 9. Jahrhundert eine dritte Vita angefertigt, die nun die Qualitäten Gregors I. auf einer vergleichsweise „intellektuellen Ebene“ herausstrich und damit für spätere Päpste Orientierung bot. Eindrücklich ist das Vorwort dieser dritten Gregorvita, die der Diakon Johannes Hymmonides im Auftrag Papst Johannes’ VIII. verfasste. Das Widmungsschreiben verweist zunächst auf liturgische Bedürfnisse, denn zur Feier der Vigil des hl. Gregor (am 11. März 873) habe keine ausführliche Vita vorgelegen. Die vorhandenen (beiden früheren) Viten des Mönches von Whitby und des Paulus Diaconus seien zu kurz gewesen. Weiter heißt es, Papst Johannes VIII. (872–882) habe den römischen Autor beauftragt, entsprechende Materialien des römischen Archivs zu benutzen; gemeint sind die Jahresbände des Briefregisters, die der Verfasser wohl konsultierte. Johannes Hymmonides unterstreicht weiterhin, er habe die Lebensbeschreibung des Papstes nicht chronologisch, sondern systematisch aufgebaut und außerdem durch bis heute erfahrbare Wunder vermehrt.36 Hier schließt sich ein Kreis: Römische Liturgie und die Benutzung der Registerabschrift führten zu einer neuen Lebensbeschreibung. Und noch etwas Besonderes bietet die dritte Vita: Auf Grundlage von Fresken im römischen Hauskloster Gregors liefert sie eine Beschreibung seines Aussehens sowie das seiner Eltern; hier liegt eines der frühesten Zeugnisse für eine Charakterisierung von Personen vor, die im Ansatz sogar individuelle Züge erkennen lässt:

Es wird dann auch in einer kleinen Apsis hinter dem Vorratsraum der Brüder der von der Meisterhand desselben Künstlers auf eine runde Gipsscheibe gemalte Gregor gezeigt. Er hat eine rechte und wohlgebildete Gestalt, ein Antlitz, das zwischen der Länge des väterlichen und der Rundheit des mütterlichen so die Mitte hält, daß es zugleich mit einer gewissen Rundung auf das angenehmste gelängt erscheint. Der Bart ist nach väterlicher Art rötlich und mäßig stark. Das Vorhaupt ist dermaßen kahl, daß er nur in der Mitte der Stirn zwei spärliche, nach rechts zurückgestrichene Löckchen hat. Er trägt eine runde, große Tonsur, schwärzliches, geziemend gekämmtes, bis zur Mitte des Ohrs herabreichendes Haar, hat eine schöne Stirn, hohe und lange, aber schwache Augenbrauen, zwar nicht große, aber offene Augen mit dunkler Pupille, ausgeprägte Tränensäcke. Die Nase geht von der Wurzel der zusammenneigenden Brauen fein auf, wird zur Mitte zu breiter, ist dann ein wenig gebogen und springt am Ende mit offenen Nüstern vor. Er hat einen roten Mund mit vollen und gegliederten Lippen, wohlgebildete Wangen, ein von der Ecke der Kinnladen schicklich vorspringendes Kinn, dunkle und lebhafte Hautfarbe, noch nicht, wie das später eintrat, die Blässe des Magenkranken. Er hat eine sanfte Miene, schöne Hände und feine, zum Schreiben geschickte Finger […].37

Insgesamt entstand so langfristig ein Bild dieses Papstes, das unter dem Aspekt der Imaginationen und Konstruktionen faszinierend ist, das sich aber oft auch weit von der Wirklichkeit entfernte und durch Erinnerungsvorgänge besonders verformt erscheint. Erst seit einiger Zeit bemüht sich die historische Forschung darum, die Rückführung vieler Neuerungen auf Gregor I. wieder auf ein angemessenes Maß zurückzustutzen, ohne die Wirkmacht der imaginierten Geschichtsbilder zu übergehen.

Geschichte des Papsttums im Mittelalter

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