Читать книгу Die Methode Cortés - Klaus M. G. Giehl - Страница 13
12 Höllenfahrt
ОглавлениеIch schlug die Tür zu, steckte den Zündschlüssel ins Zündschloss, startete den Motor, und fuhr los. Nachdem ich auf die Autobahn eingebogen war, schob ich die CD in den CD–Spieler und lauschte. Die meisten Lieder fand ich öde, weshalb ich sie nur kurz an–hörte und mich zum nächsten Lied weiterklickte. Bis ich auf „Des milliers de baisers“ stieß.
Dieses sprach mich an und ich hörte es ganz. Da es zu meiner traurigen Stimmung passte, stellte ich die Wiederholfunktion des Players ein. War doch schön, sich ein bisschen zu quälen, und das umso mehr, als ich versuchte, den Text zu übersetzen. (Mein Französisch war damals nicht besonders!) Nach und nach schaffte ich es aber. Es ging um tausende Küsse, Zärtlichkeiten, Worte und Gedanken, die vergessen im Mülleimer landeten, Altvertrautes also, seit Äonen Poesiertes auch, doch wieder und wieder wie neu erfunden. Ich schloss mich dem Ritual an (Vertrautes verleitet!), hörte das Lied immer und immer wieder, und – als wäre die Trauer neu empfunden – weinte.
Ich erreichte die Alpen. Dort lag mehr Schnee als auf meiner vorherigen Strecke. Mir fiel auf, dass ich nicht wusste, wohin ich wollte. Machte nichts, ich hatte mein Lied. So fuhr ich weiter, über Turin in Richtung Genua und über die Mittelmeerautobahn in Richtung Nîmes.
Die Fahrt wuchs sich zu einem Bad in Verzweiflung aus, was mich im Nachhinein überrascht und beschämt. Aber egal, was man hatte, das hatte man: Ich entwickelte die wirrsten Phantasien, wie ich meine Frau zur Rückkehr bewegen könnte. Ein Szenario der Unterwerfung jagte das andere. Ich überantwortete mich einer unbeschreiblichen gedanklichen Erniedrigung, gab mich in meiner Vorstellung schmachtend als Sklave hin, der alles über sich ergehen ließ, sah mich in absurdesten Situationen wie eine surreale Zofe mit Schürze und Küchenhäubchen dekoriert Haus– und Gartenarbeiten verrichten und lustvoll wie ein Don Juan im schwarzen Lederrock Bosheiten und Misshandlungen ertragen. Nur, damit ich in der Nähe meiner Frau sein konnte. Ich sah, wie meine Kinder mit leeren Augen die unaufhaltsame Zersetzung ihres Vaters beobachteten. Ich ließ alles über mich ergehen. Erduldete alles. Genoss die Wonne des Gequältseins und meine Dankbarkeit, dass ich in ihrer Nähe sein durfte. Ich versank in diesen Bildern und fuhr wie ein Automat, ohne zu wissen, wohin. Ich wollte nur fahren und dieses letzte Zusammensein mit meiner Frau und meiner Familie genießen. Es war grausam. Ach, „grausam“! Die Hölle war es, denn der Wunsch, der niemals enden will, ist Hölle!
Zwischendurch tankte ich und ging aufs Klo. In einem uringelb gefliesten Toilettenvorraum sah ich ein Telefon an der Wand hängen. Ich hatte den Einfall, meine Frau anzurufen.
Vielleicht hatte sie es sich ja anders überlegt! Vielleicht war ja alles bloß ein Traum! Es war neun Uhr am Morgen. Sie musste gerade mit ihren Eltern und den Kids frühstücken.
Ich rief an. Während ich wartete, dass jemand abhob, fühlte ich mich merkwürdig berührt durch die Menschen, die in die Pinkelstube hinein– oder aus dieser heraus– und an mir vorbeihuschten. Es war, als wäre mir die Hose heruntergerutscht und jeder glotzte auf das Loch in meinem Slip. Auf meinen linken Hoden. Endlich klickte es – mein Blick wischte schuldbewusst über die mich umzitternden Rücken – und meine Schwiegermutter meldete sich.
Ich begrüßte sie. Sie sagte nichts, noch nicht mal ein Schnaufen. Lediglich hohle Kühle am anderen Ende. Als stünde da der Tod. Ich fragte, ob ich meine Frau sprechen könne. Sie krächzte ein Ja. Ich wartete.
„Was ist?“, meldete sich meine Frau.
Ich war zusammengezuckt, überrascht, und stammelte:
„Ich wollte nur fragen, ob mit den Kindern alles in Ordnung ist und wie bei euch die Sachen so laufen.“
„Alles in Ordnung. Gibt’s sonst noch was?“
„Nein“, schüttelte ich den Kopf mit großen Augen, und meinem Mund enthetzte: „Also, dann mach’s gut. Und schöne Feiertage.“
„Tschüs.“
Sie legte auf. Ich atmete aus.
War ich noch bei Sinnen? Ich schämte mich, überprüfte mein Hosentürchen – zu! – und eilte hinaus aus diesem Ort – nur weg, nur weg! – meinem Wagen entgegen, stieg ein und fuhr schleunig weiter.
Hinter Nizza wurde ich müde. Ich suchte eine Autobahnraststätte zum Schlafen. Der Schnee war verschwunden. Die Sonne schien.
Zwei Stunden später wachte ich auf. Ich streckte mich, stieg aus, und schlenderte in die Raststätte, die aussah wie ein Westernhaus am falschen Platz.
Ich hatte mich an einen Fenstertisch gehockt und trank Café au Lait. Matt schaute ich nach draußen. Der Rastplatz war nicht hübsch, doch das Ambiente von Farbe und Licht her mediterran, was mir gefiel. Plötzlich bekam ich Lust auf eine Gitanes. Ich stand auf, mir ein Päckchen zu kaufen. Gitanes rauchen mochte ich. Das erinnerte mich an meine Studienzeit, während der ich mich zum Segeln oft in dieser Gegend aufgehalten hatte. Ich bestellte mir noch einen Café au Lait und ein Croissant.
Nach meinem Frühstück fühlte ich mich bei Kräften und rauchte meine erste Gitanes seit langer Zeit. Ich genoss sie. Sie hatte einen rauen, metallischen Geschmack. Mir fiel ein, dass ich früher gerne Gitanes zu einem Pastis geraucht hatte. Für mich passten diese Dinge geschmacklich ideal zusammen. Besonders gerne hatte ich meine Gitanes–Pastis–Zeremonie zelebriert, wenn ich mit meinen Freunden Paul und Gabriel über die nächste Segelroute palavert hatte. Oder wir nach einem Sturm in einer Hafenkneipe gesessen hatten und froh gewesen waren, dass mal wieder nichts schiefgegangen war. In diesen Konstellationen hatte ich die mir liebsten Gefühle. – Meine Gitanes war aufgeraucht. Ich empfand Unruhe, musste weiter.