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6 War ich nicht mehr ganz dicht?

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Mein Flugzeug landete am Nachmittag des 20. Dezembers 2003 in Frankfurt. Eigentlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, mich von meiner Mutter am Flughafen abholen zu lassen, doch sie hatte darauf bestanden. Sie wohnte in Höningen, einem Dorf im Pfälzerwald, von dem aus es eine Stunde Fahrt zum Flughafen war. Eine Stunde sei zwar eine Stunde, nichtsdestoweniger sollte diese Strecke keine große Belastung für meine Mutter darstellen, hatte ich mich beruhigt.

Zu Beginn des Jahres war sie an einem Gallengangskarzinom erkrankt, das allem Anschein nach erfolgreich behandelt worden war. Bei unserem letzten Treffen hatte Mutter noch schwach gewirkt. Wie ich sie jetzt auf mich zulaufen sah, war ich überrascht. Deutlich zu Kräften gekommen erschien sie mir fast wie vor ihrer Krankheit: schlank, aber nicht zu schlank, und energiegeladen wie ehedem. Als ich ihr lockiges Haar im Licht der Ankunftshalle glitzern sah, lächelte ich, denn ich erinnerte mich, sie seinerzeit ob ihres matten, spröden „Fells“ mit einer kranken Katze verglichen zu haben (gedanklich, natürlich!). Jetzt hatte Mutter wieder etwas von einer gesunden Katze, da ihr „Fell“ voller geworden war und in kräftigem Kastanienbraun glänzte. Der Eindruck bestätigte sich, als sie mich mit ihren dunkelbraunen Augen anfunkelte und zur Begrüßung wie eine just geschnappte Maus in ihre Arme zerrte.

Während der Fahrt erzählte Mutter, wie sie sich wieder fit gemacht habe in der Reha. Anfangs sei ihr Laufen schwergefallen, aber sie sei das Problem systematisch angegangen: Zuerst habe sie gezählt, wie oft sie von ihrem Zimmer bis in den Speisesaal habe anhalten müssen, um zu verschnaufen. Und dann habe sie sich vorgenommen, jeden Tag einmal weniger anzuhalten, was funktioniert habe, bis sie gar nicht mehr habe anhalten müssen. Danach habe sie ihr Fitnessprogramm erweitert und nochmals mit Gymnastik und Schwimmen angefangen. Als dies auch geklappt habe, habe sie ihre Wanderschuhe ausgepackt und ...

Ich hörte nur halb zu, war froh, dass wir nicht über die Trennung sprachen, und betrachtete die vorbeirauschende Landschaft. Alles kam mir grau und hässlich vor.

Wie schön hatte ich es dagegen in der fast ewigen Sonne und transparenten Klarheit von Texas!

Ich verspürte eine Art Heimweh und schmunzelte, was mir schnell verging, denn ich wurde von „texanischen“ Bildern eingeholt: Wie ich meine Frau, sie sich ihre Haare in den Nacken nickend, in dieser Sonne gesehen hatte. Wie wir am Gartenteich gegrillt hatten. Wie die Kinder in ihrer Holzburg gespielt hatten. Wie sie mit dreckverschmierten Backen gefragt hatten, ob sie eine Wurst haben könnten, für ihre Schildkröte. Wenige Tage zuvor hatten wir eine verletzte Schnappschildkröte auf der Straße gefunden und in unserem Garten in ein Freigehege unter der Holzburg zur Pflege aufgenommen. Kurz vor unserer geplanten Abreise hatten wir das mittlerweile genesene Tier in einem Sumpf in der Nähe ausgesetzt. Dort hatte es vermutlich hingehört. Das war vor oder nach einer der vielen Trennungen im Dezember gewesen. Ich wusste es nicht mehr. Aber an diesem Tag waren meine Frau und ich zusammen gewesen und ich hatte mir gewünscht, dass es so bleibe.

Unverhofft dachte ich an das Fußfesseltattoo von Linda, meiner ehemaligen technischen Mitarbeiterin. Sie sah blendend aus, die Inkarnation einer Barbypuppe, und ich bereute einen Augenblick, mich meinen Begierden ihr gegenüber nicht hingegeben zu haben.

Aber das wär doch gar nicht drin gewesen!, rief ich mir ins Gedächtnis. Schließlich war ich ihr Boss gewesen! Ich wunderte mich: Warum dachte ich über einen solchen Blödsinn nach? War ich nicht mehr ganz dicht?

Wir waren in Höningen angekommen. Meine Mutter bog in die Einfahrt ein und der Wagen näherte sich der Garage. Durch die von Wildwuchs umwucherte Einfahrt zu gleiten erfüllte mich mit einem gemütlichen Gefühl, das mir guttat. Ausnahmsweise sah ich deshalb davon ab, meine Mutter darauf hinzuweisen, dass sie die Tannen und den Kirschlorbeer ruhig ein wenig stutzen könne, damit man auch einmal das Haus sehe. (Für meine Mutter war es wichtig, ihr Heim in ein „natürliches“ Biotop zu betten, und da sie seit zwanzig Jahren in diesem Hexenhäusle lebte, kann man sich vorstellen, wie es da aussah!) Ich schaute zu ihr hinüber. Sie zog den Zündschlüssel ab, blies sich ins wuselige Haar, und lächelte mich an.

Die Methode Cortés

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