Читать книгу Die Methode Cortés - Klaus M. G. Giehl - Страница 14

13 Versuchungen

Оглавление

Erst ging es Richtung Nîmes. Die Fahrt gefiel mir, ich genoss die mediterrane Landschaft, die selbst im Winter Wärme ausstrahlte. Auf der Höhe von Aix–en–Provence erinnerte ich mich an Grau–du–Roi, eine nahe Hafenstadt, in der ich im Februar 1983 mein erstes Segelboot kennengelernt hatte:

Damals war ich mit meinem Onkel Richard unterwegs gewesen. Er hatte sich eine neue Segelyacht gekauft, die er mit mir von La Grande Motte nach Cap d’Agde hatte überführen wollen. Zu Beginn unserer Reise hatten wir in Grau–du–Roi vorbeigeschaut, wo er ein anderes Boot liegen gehabt hatte. Er hatte es abstoßen wollen, weil es seiner Frau zu eng gewesen sei.

Auf Anhieb war ich von dem Boot begeistert gewesen. Es war ein zweiunddreißig Fuß Langkieler gewesen, Holz, Baujahr 1962, elegant geschnitten. Richard hatte mir erzählt, er wolle es für achtzehntausend verkaufen. Scherzhaft hatte er angefügt, es mir gern für zehntausend abzutreten. Ich hatte spontan gelacht. Richard auch.

Wieder zuhause, hatte ich meiner damaligen Freundin Hexi von der Begebenheit berichtet. Sie hatte die Brauen gehoben und gefragt:

„Und?“

„Wie ‚und‘?“, hatte ich erstaunt gemeint.

„Na, hast du nicht zugegriffen? Das ist doch ein guter Preis!“

Ich war überrascht gewesen. Daran hatte ich nicht gedacht gehabt! Und ich hatte geantwortet:

„Klar, das ist ein guter Preis. Aber so viel hab ich nicht. Und die Unterhaltung des Bootes wäre teuer. Zu dumm, würde mir gefallen. Wäre keine schlechte Idee. Im Grunde eine tolle Sache!“

Nach dieser Unterhaltung hatte ich angefangen, mir diese „Sache“ genauer zu überlegen, und noch vor dem nächsten Hahnenschrei waren mir die Schuppen von den Augen gefallen: Zöge ich die Sache als Eignergemeinschaft durch, würde ich mir sowohl den Kauf als auch den Unterhalt des Bootes leisten können! Mein Entschluss war gefasst.

Sofort nach dem Frühstück hatte ich meinen Onkel besucht, ihn zu fragen, ob er zu seinem Angebot stehe. Er hatte abgewehrt, sich gewunden wie ein gestrandeter Aal, gesagt, zehntausend seien viel zu wenig für das Boot. Doch ich hatte ihn beim Wort genommen, hinter den Kiemen gepackt, sozusagen, und ihn mit mahnend wedelndem Zeigefinger daran erinnert, dass zehntausend innerhalb der Familie lediglich ein fairer Preis seien. Abgesehen davon stehe man besser zu seinen Zusagen.

„Okay“, hatte er, seinen Hals frei windend, nachgegeben, „Wenn du mir die Zehntausend in einer Woche auf den Tisch legst, gehört der Kahn dir.“

Ich hatte eingeschlagen und wie ein Derwisch zu rotieren begonnen. Und in Wochenfrist hatte ich eine Eignergemeinschaft aus vier Freunden und das Geld zusammenbekommen. Und in den folgenden Jahren waren wir in den Semesterferien mit dem Schiff unterwegs gewesen. Wir hatten damals das gesamte Mittelmeer durchkreuzt. Eine richtig tolle Zeit hatten wir gehabt!

Vermutlich aus der Nostalgie heraus, die die Erinnerung an jene unbeschwerten Tage in mir bewirkt hatte, entschied ich mich, noch einmal in Grau–du–Roi vorbeizuschauen. Ich änderte meinen Kurs.

Grau–du–Roi erkannte ich kaum wieder, aber den Hafen fand ich. Dort wollte ich in einer Bar endlich einen Pastis zu einer „Gitanes“ trinken. Da ich nicht sofort einen Parkplatz fand, stellte ich den Wagen ein wenig abseits neben einer Werft ab.

Für einen alten Segler wie mich ist es natürlich unmöglich, an einer Werft vorbei zu gehen, ohne einen Blick auf die Schiffe zu werfen, die da herumstanden. Dieser grundlegenden Regel, ach, diesem Axiom folgend, schlenderte ich über die Werft, inspizierte hier den Bug eines Schiffes, da ein Ruder, und an einem anderen Boot den Kiel, der offenbar auf ein Riff aufgelaufen war. (Konnte man aber noch mal flicken.)

Ich kam an einer erlesenen, fünfzig Fuß Segelyacht vorbei, an deren Rumpf ein alter Mann werkelte. Fasziniert blieb ich stehen und schaute dem Mann zu. Er nahm keine Notiz von mir. Ich näherte mich dem Bug, ließ das Ganze auf mich wirken:

Schon klasse! Diese Linienführung war schlicht vollendet: Die in majestätischer Rundung ausladenden Seiten. (Ich reckte meinen Hals.) Das kräftige, doch nicht zu aufdringliche Hinterteil. Schnuckelig! (Ich bückte mich.) Der tief gezogene, elegant geschnittene Rumpf. Satt! (Und streckte mich wieder.) Und dieser kühn den Wogen entgegenragende Bug! (Ich stemmte die Hände in die Hüften, schnaufte.) Na ja, momentan ragte er eher der Leiter entgegen, die an ihm lehnte. Aber auf See musste er die Wellen, durch die er sich seinen Weg bahnte, gnadenlos zerschneiden!

Ich geriet ins Zweifeln, rieb mir das Kinn und dachte:

Wäre das nichts, wenn dieser Bug sich meinen Weg durch die Wellen bahnte, zu einem Leben, das sich weniger ermüdend, weniger auszehrend gestalten würde als das mir bald bevorstehende Theater? War doch klar, wie dieses aussehen würde: Madame hatte mich nonchalant abserviert, ich Idiot hatte noch nicht mal was davon gemerkt, und die Reste des Menüs würde sie sich in ein bedarfs– und häppchenweise zu genießendes Doggybag schnüren beziehungsweise schnüren lassen. So viel war von den jüngeren Ereignissen her klar: Eiskalt filetiert hatte sie mich! Und ich reise ihr hinterher und winsele nach einem letzten Versuch. Der Familie zuliebe! Schwachkopf! Diese Blöße hättest du dir ersparen können!

Warum also legte ich mir nicht dieses Bötchen zu und ließe diesen Mist einfach hinter mir? Aber nein. Damit ließe ich auch alles mir am Herzen liegende zurück. Die Kinder – und meinen Beruf, den ich gerade so noch mal hatte retten können. Im letzten Moment! Nein, ich musste mich ihr stellen, dieser Gülle. Außerdem hatte ich eine Verantwortung, der ich nachzukommen gedachte! Also würde ich mich jetzt wieder in diese blöde Kiste hocken – ich hätte mir doch den „Alfa“ mieten sollen (hatte ich mich doch vor keinem notorischen Spartierchen mehr zu rechtfertigen!) –, noch ein bisschen Urlaub in der Gegend machen, und danach wieder zu Mama fahren, die sich bestimmt freuen würde, mich noch ein paar Tage vor meinem Rückflug „genießen“ zu dürfen.

Ich schnaufte genervt und wandte mich ab, die Werft zu verlassen.

„Bonne chance!“, unterbrach eine raue Stimme mein Grübeln.

Der alte Mann hatte sich von mir verabschiedet. Er sah mich forschend an. Ich lächelte ertappt und sagte:

„Bonne chance – et au revoir!“

Der Mann grinste und wandte sich seiner Arbeit zu. Die Lust auf einen Pastis war mir vergangen. Ich kehrte daher sofort zu meinem Wagen zurück und fuhr weiter.

Am Ortsausgang von Grau–du–Roi sah ich ein Hinweisschild nach Aigues Mortes. Dort hatte ich 1989 einige fidele Tage verbracht, mit meiner damaligen Freundin Lucy. Vielleicht sei ja etwas übriggeblieben von diesem Flair, das uns seinerzeit umzittert hatte! Ich entschloss mich, dort hinzufahren.

In Aigues Mortes stellte ich den Wagen vor den Stadtmauern ab und ging in die Altstadt. Ich liebte die engen Straßen und alten Häuschen dieses Ortes, hatte derweil jetzt nicht den Nerv, das Ambiente auf mich wirken zu lassen, aber Hunger, und die Idee, die Pizzeria zu suchen, in der ich so gut mit Lucy gegessen hatte. Ich fand das Lokal. Es war geschlossen.

Enttäuscht steckte ich die Hände in die Hosentaschen und stapfte weiter, kreuz und quer durch die Stadt. Mir fiel ein Café mit blumig verschnörkelten Fenstern auf. Dort wollte ich einen Pastis trinken, denn darauf hatte ich wieder Lust. Ich trat ein, aber da waren mir zu viele Menschen, weshalb ich auf dem Absatz kehrtmachte.

Gereizt durch die Straßen irrend kam ich an einem Kindergarten vorbei. Im Vorübergehen blieb mein Blick an den mit Fingerfarben bemalten Scheiben hängen. Das erinnerte mich an meine Kinder, ihre Kindergärten in Austin und unser gemeinsames Malen. Es schnürte mir die Kehle zu.

Mir stiegen Tränen in die Augen, sodass ich verschwommen sah. Ich schluckte, aber es wurde schlimmer. Und je wässriger ich meine Umgebung wahrnahm, desto besser sah ich meine Kinder. Ich sah, wie sie bei den Eltern meiner Frau malten. Wie sie mit den Wasserfarben panschten. Wie sie herumalberten und einander neckend die Pinsel auf den Kopf tickten. Wie Max versehentlich ein Glas umstieß und meine Schwiegermutter ihn mit ihrer hässlichen Härte ausschimpfte. (Sie hatte Max und Moritz immer ungleich behandelt, was mich gestört hatte, von jeher, aber nicht gewundert, denn Max war ich in klein und mich hasste sie!) Max‘ Gesicht versteinerte traurig. Ich konnte seine Zunge sehen, die er sich in solchen Momenten zwischen die Lippen zu schieben pflegte. Meine Trauer steigerte sich zur Verzweiflung (jetzt war Max diesen Geiern schutzlos ausgeliefert!). Ich war meines Lebens überdrüssig, wünschte mir zu sterben. Als säße mir der Leibhaftige im Nacken, suchte ich den Wagen, fand ihn, stieg ein, und fuhr zitternd los.

Schauer durchzuckten mich wie Fieberschübe. Ich war von dem Gedanken beherrscht, nicht mehr leben zu wollen. Derartige Gedanken hatte ich bisher nicht gekannt. Sie fielen wie Sturmböen in mein Bewusstsein ein, mächtig, kraftvoll, schüttelnd, befreiend. Schaudernd verließ ich den Ort und fuhr besoffen von dem Wunsch, zu sterben, eine Landstraße entlang.

An einer Straßenkreuzung sah ich einen Anhalter, kurze schwarze Haare, ein junger Kerl, zwanzig Jahre. – Sollte ich anhalten? – Zuerst wollte ich weiterfahren. Ich hatte auf nichts mehr Lust. Aber dann hielt ich an und öffnete die Beifahrertür.

Durch mein Zögern war ich hundert Meter an dem Burschen vorbeigefahren. Kraftvoll stampfend näherte er sich im Laufschritt. Ich hatte den Eindruck, seine Augen glühten rot. Er sprang in den Wagen, schlug die Beifahrertür zu, und redete hektisch auf mich ein, als wollte er mir etwas verkaufen, als hätte ich mich nicht an mein Angebot gehalten. Ich verstand ihn nicht, doch spürte Aggression. Seine Zähne blitzen wie die Canini eines Raubtiers. Ich fixierte die großen Eckzähne. Mein Blick glitt in die nun schwarzen Augen, tief wie ein Abgrund. Sie hielten mich fest. Hatte ich Angst?

Auf einmal kochte eine fletschende Wut in mir hoch: Was wollte dieser Arsch überhaupt? Ich halte für ihn – und er macht mich an?

Gepresst bat ich ihn, er möge den Wagen verlassen. Zwar hatte ich das Gefühl, er habe verstanden. Aber er wollte nicht gehen. Ich beugte mich über ihn, stieß die Beifahrertür auf, und spürte seinen heißen Atem an meinem Ohr. Angeekelt richtete ich mich wieder in meinem Sitz auf. Wir sahen uns an. Er machte keine Anstalten, auszusteigen. Spannung baute sich in mir auf, bis ich fauchte:

„Get out!“

Er starrte mich verwundert an, lächelte freundlich und verließ den Wagen. Erleichtert fuhr ich weiter, und froh, den Typen los zu sein. Nach ein paar Kilometern sinnierte ich über die Szene. Mir wurde klar, dass ich in dem Moment, in dem ich in die schwarzen Augen dieses Kerls geschaut hatte, Angst gehabt hatte.

Furchtbare Angst! Aber wovor? Zu sterben? Zu leben? Oder gar vor beidem? Doch das war egal. Denn ich wollte mich dieser Angst nicht unterwerfen.

Die Methode Cortés

Подняться наверх