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MANGEL IN ZEITEN DER ÜBERFÜLLE
ОглавлениеNatürlich ist das Problem längst bekannt. Nie war das Angebot an Ernährungsempfehlungen und Diäten größer und vielfältiger als heute. Während die Forschung der vergangenen Jahrzehnte das Wissen um die organischen Zusammenhänge fortwährend ausdifferenziert hat, ist auch das Bewusstsein der Konsumenten für die Tragweite des täglichen Essverhaltens gewachsen. Entsprechend tief ist die allgemeine Verunsicherung darüber, welche Ernährungsweise langfristig nun wirklich gesundheitsfördernd sein mag. Die Furcht, etwas »Ungesundes« zu sich zu nehmen, treibt viele Verbraucher in den schmerzhaften Verzicht. Ohne medizinische Indikation werden ganze Gruppen von Stoffen tabuisiert: Gluten, Laktose, Fett, Kohlenhydrate oder auch tierische Produkte können auf den Index geraten. Was für Menschen mit nachweisbaren Lebensmittelunverträglichkeiten in Absprache mit einem Arzt sinnvoll sein mag oder sich aus ethischen oder ökologischen Motiven aufdrängen kann, ergibt unspezifisch angewendet ernährungsphysiologisch weit weniger Sinn. Der langfristige Schaden überwiegt häufig den Nutzen. Ein kompletter Ausschluss bestimmter Lebensmittel oder sogar ganzer Nährstoffgruppen trägt genau wie einseitige Ernährung zu einer grundsätzlichen »Mangelernährung« bei. Das Weggelassene, gerade wenn es sich dabei um essenzielle Bestandteile der Ernährung handelt, »fehlt« tatsächlich. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass Millionen von Menschen an regelrechten Fehlernährungen mit allen möglichen gesundheitlichen Folgen leiden – trotz der grundsätzlichen Verfügbarkeit von großen Mengen an Nahrung. Viele dieser Diätmaßnahmen versuchen sich an notdürftigen Reparaturen, wo im Grunde tiefere Einsichten, Transformationen auf breiter Fläche und fundamentale Änderungen vonnöten wären. Sie gehen von der Annahme aus, die Korrektur einzelner Ernährungsaspekte bewirke die erhoffte Wende des Selbstgefühls. Sinnvoller als derart einseitige Eingriffe auf der Basis von isolierten Erkenntnissen wäre die sehr viel umfassendere Aufmerksamkeit für den Wert gesundheitsfördernder Lebensmittel und ihrer unterschiedlich wirkenden Eigenschaften. »Die heilende Kraft der Nahrung«, die enge Wechselwirkung zwischen den positiven Effekten guter Produkte und dem gesamten Wohlergehen, ist ein Phänomen, das nicht nur einzelne Gruppen von Nahrungsmitteln betrifft, sondern die täglichen Essgewohnheiten im Ganzen. C. J. Murray, einer der Co-Autoren der erwähnten »Global Burden of Disease Study«, beobachtet hier eine grundsätzliche Schieflage in der öffentlichen Diskussion: »Im Mittelpunkt der politischen Debatten standen in den vergangenen Jahrzehnten Fett, Zucker, Salz. Dagegen zeigt unsere Erhebung, dass der Mangel an gesunden Nahrungsmitteln ein größerer Risikofaktor ist.«
In Zeiten des Überflusses ist es schwierig, den Versuchungen zu widerstehen, die an jeder Ecke auf uns warten. Doch die Leckereien liefern unserem Körper nicht immer das, was er wirklich braucht.