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Im Sportunterricht ist Volleyball dran.

Wenn man Volleyball spielt, muss man viel springen.

Wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, springe ich eigentlich nicht.

Die meisten Mädchen ziehen sich ganz fix und ungeniert in der Umkleide um – Pullis aus und T-Shirts über ihre süßen kleinen BHs. Es ist nur Sport. Ich dagegen verschwinde in einer Klokabine, hole zum letzten Mal für die nächste Stunde richtig Luft und kämpfe mich in einen schwarzen Sport-BH, den man nur über den Kopf ziehen kann und der mindestens eine Größe zu klein ist. Ich ziehe ihn trotzdem über meinen normalen BH. Der Sport-BH quetscht alles zu einer einzigen Masse zusammen – sozusagen zu einem Uni-Busen. Oder einem Super-Busen. Darüber kommt das alte Shirt von Dad – sein Renn-für-den-Zoo-5-Kilometer-Lauf-Shirt von 2008. Er hat eine ordentliche Sammlung von T-Shirts aus den letzten zwei Jahrzehnten. Als ich kleiner war, habe ich sie als Nachthemd benutzt, weil sie eingetragen und weich und aus atmungsaktiven Funktionstextilien waren. Jetzt passt mir nur noch dieses eine. Aus dem Jahr, als Dad zu spät zum Lauf kam und nur noch XXL übrig war. Ich trage es eigentlich immer, wenn ich weiß, dass die Besessenheit des Bildungsministeriums von Illinois für tägliche Sportstunden mich ins Schwitzen bringen wird.

Ich verlasse die Toilette und stelle mich vor den Spiegel. Das Shirt hüllt den eingequetschten Super-Busen ein, meine Schultern hängen nach unten, meine Arme sind vor dem Bauch verschränkt. Ich ziehe an dem Shirt und wünschte, es würde einfach von allen Seiten um mich herumschweben, anstatt – welche Gesetze der Physik oder Bekleidung auch immer dafür verantwortlich sind – an mir zu kleben. Ich sehe aus wie ein riesiger, formloser Flatschen, aus dem unten dünne Beinchen rausgucken. Ich sehe aus wie eine von diesen absurd unproportionierten Zeichentrickfiguren.

Was ich ganz offensichtlich bin.

»Walsh! Auf geht’s!«, sagt Ms Reinhold und fegt durch die Umkleide, ohne meinen Zeichentrickkörper eines Blickes zu würdigen. Ich schleppe mich in die Sporthalle und höre, wie sie hinter mir weitere Nachzügler zusammentreibt. »Woster, nein, nein. Jeggings sind keine Sportkleidung. Du bekommst eine Jogginghose.«

Eine Minute später erscheinen Nella Woster und Ms Reinhold in der Sporthalle, Nella in ein paar ausgeleierten dunkelroten Jogginghosen, eng um ihre Taille gezogen. »Schöne Jogginghose, Nella!«, ruft Griffin Townsend. Nella streckt ihm die Zunge raus, während sie durch die Halle geht, als wäre sie auf dem Laufsteg.

Sie macht das nicht mal extra – wer auch immer definiert, was Vollkommenheit ist, Nella entspricht dieser Definition. Sie kann nichts dafür. Sie könnte eine Clownperücke aufhaben und würde heiß aussehen. Wenn ich eine Clownperücke aufhätte, wäre das nicht mal das Komischste an mir.

Nach dem Aufwärmen werden wir in zwei Reihen aufgestellt, um den Aufschlag von unten zu lernen. Abgesehen von Jessa Timms Aufschlag, die in der Volleyballmannschaft ist, schießen die meisten anderen Bälle wild in alle Richtungen, fallen auf den Boden oder fliegen so hoch, dass sie wie ein langsam schwebendes Blatt auf der anderen Seite des Netzes runterkommen. Und zwar so langsam, dass die andere Mannschaft genug Zeit hätte, sich mit einem Notizbuch hinzusetzen, die Flugbahn auszurechnen, zu diskutieren, wer den Ball abwehren soll, aufs Klo zu gehen und den Ball dann volle Kanne abzuschmettern.

Meine Aufschläge fliegen genau übers Netz, einer nach dem anderen. Ms Reinhold nickt anerkennend.

»Jetzt versuchen wir mal den Aufschlag von oben.«

Wieder schaffen es ein paar, die meisten aber nicht. Nach einigen Versuchen kapiere ich, wo der Ball sein muss, damit ich ihn zum richtigen Zeitpunkt mit meiner Hand treffe. Die meisten werfen ihn zu hoch oder zu nah vor sich. Obwohl ich noch nie gespielt habe, fühlen sich Größe, Gewicht und die Rundung des Balls in meinen Händen genau richtig an. Tatsächlich gehen fast alle meine Versuche übers Netz. Jessa Timms springt pausenlos in die Luft, um jeden Ball zu treffen, und ballert ihn dann wie ein Maschinengewehr durch die Halle.

Ms Reinhold beobachtet mich ganz genau und etwas unbehaglich trete ich von einem Fuß auf den anderen. Ich weiß, dass sie der Volleyball-Coach ist und dass der Mädchenmannschaft in dieser Saison ein paar Spielerinnen fehlen. Ein Teil von mir will sich jetzt dumm anstellen, damit sie aufhört zu denken, ich sei gut. Ich möchte nicht erklären müssen, warum ich keinen Sport treiben will.

Aber ein anderer Teil von mir haut die Bälle weiter übers Netz, schlägt immer härter zu, weil es sich wirklich super anfühlt, etwas gut zu können, das nicht Mathe ist.

»Dann wollen wir doch mal ein richtiges Spiel versuchen, Leute«, sagt Ms Reinhold. Sie lässt die eine Hälfte der Klasse auf die eine, die andere Hälfte auf die andere Seite des Netzes gehen und erklärt uns die Rotationsfolge. »Seht mal, wie lange ihr den Ball oben halten könnt.« Ich habe mich dazugesellt, aber Ms Reinhold sagt: »Nicht du, Walsh. Timms, komm auch mal her.«

Sie zieht uns in eine Ecke der Halle. Hinter uns hört man Klatschen, Schmerzenslaute und Gelächter, es klingt, als hätte niemand Verständnis für die Spieltechnik. Irgendjemand ruft: »Verdammte Scheiße«, und Ms Reinhold ruft zurück: »Nicht mit offener Hand zuspielen. Und etwas weniger Kraftausdrücke!«

»Hast du schon mal gespielt?«, fragt sie mich.

Ich schüttele den Kopf.

»Ich möchte, dass du siehst, wo die Kraft beim Aufschlag herkommt.« Sie wirft Jessa den Ball zu und sagt: »Zeig ihr den Anlauf, aber schlag den Ball nicht.«

Jessa wirft den Ball in die Luft und stürzt sich dann irgendwie drauf. Ich zucke instinktiv zusammen, als würde sie ihn mir ins Gesicht schmettern, aber sie fängt ihn einfach und grinst.

Ms Reinhold lässt sie das noch ein paar Mal wiederholen und dann versuche ich es auch. Als ich das erste Mal hochspringe, hebt und senkt sich der Uni-Busen und es fühlt sich an, als würde sich die Schwerkraft verdoppeln. Der Sport-BH ist halb nach oben gerutscht und steckt jetzt so fest, dass mir im Prinzip ein enges Gummiband quer über die Brust schneidet. Ich ziehe es wieder nach unten und werfe schnell einen Blick auf die anderen, aber die versuchen immer noch ein Spiel in Gang zu bringen oder machen sich über Nellas Jogginghose lustig.

Coach Reinhold und Jessa Timms beobachten meine Füße, bitten mich wieder und wieder, nach oben zu springen, und korrigieren meine Fußstellung. Ich bin ganz schön verschwitzt und nach jedem Sprung muss ich meinen BH wieder zurechtrücken. Jedes Mal, wenn ich auf dem Boden aufkomme, tut mir die Brust weh und der BH zieht an meinen Schultern, als würde ich einen Rucksack voller Ziegelsteine falsch herum tragen. Aber ich merke, dass ich das mit dem Anlauf allmählich begreife. Sie beschließen, dass ich jetzt einen richtigen Aufschlag versuchen soll.

Bei meinem ersten Versuch treffe ich noch nicht einmal den Ball.

Beim nächsten klemme ich mir den gekrümmten kleinen Finger ein und der Ball schlingert nach rechts.

Beim dritten Mal prallt er von meiner Hand ab und knallt mit solcher Kraft nach unten, dass er fast einen Krater in den Boden der Sporthalle schlägt. (Okay, natürlich nicht, aber er schlägt wirklich hart auf.) Der Ball wäre nur übers Netz gekommen, wenn es direkt vor mir und dreißig Zentimeter hoch wäre, aber trotzdem lässt das Geräusch des Aufschlags meinen ganzen Körper kribbeln.

Ms Reinhold lacht. »Jetzt hast du es kapiert. Es geht nicht nur um deinen Arm. Die Kraft kommt von deinem ganzen Körper.« Ich ziehe meinen BH an beiden Seiten zurecht, während sie der Klasse zuruft: »Das war’s – ab in die Umkleide.« Die anderen lassen die Bälle einfach über das Spielfeld kullern und marschieren aus der Halle.

»Das war ganz schön cool, oder?« Jessa stößt mit ihrer Faust gegen meine und verzieht sich auch in die Umkleide.

»Walsh«, ruft Ms Reinhold. Ich strahle sie aufgeregt an. Jetzt fragt sie mich bestimmt, ob ich mich in der Volleyballmannschaft versuchen will. Aber mein Glücksgefühl hält nicht lange, denn mein Hals und meine Schultern tun schon nach dieser einen Stunde weh und dann fällt mir auch noch ein, wie die Volleyballtrikots aussehen.

Sie sagt aber gar nichts über die Mannschaft. Sie sagt noch nicht einmal, dass ich das gut gemacht habe. Sie hat ihr Handy in der Hand und fragt mich nach meiner E-Mail-Adresse. »Ich schicke dir einen Link.« Sie drückt mit ihrem Daumen ein paarmal aufs Display und steckt ihr Handy wieder zurück in die Tasche. »Genau genommen ist das keine Schulangelegenheit, also verpetz mich nicht«, sagt sie und zwinkert mir zu.

Ich drehe mich um und sehe, dass Nella noch mit einigen Jungs unterm Basketballkorb steht. Ms Reinhold ruft rüber: »Der Letzte in der Halle nimmt die Netze ab und räumt die Bälle weg, und nein, ich entschuldige euch nicht, wenn ihr zu spät zur nächsten Stunde kommt.«

Alle Jungs bis auf Griffin gehen zum Ausgang. Nella hält ihn am Arm fest, hindert ihn daran, die Sporthalle vor mir zu verlassen. »Lauf, Greer. Ich halte ihn fest«, ruft sie und lacht. »Lauf!«

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