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»Eine meiner Kundinnen kommt gleich vorbei. Räum mal dein Zeug vom Tisch.«

Tyler wirft einen Blick auf den Esszimmertisch. Darauf stehen eine skandinavische Holzschale und etwa zwölf Kubikmeter von seinem Zeug: Bücher, Hausaufgaben, Elektrokram, Papierfußbälle, leere Verpackungen, Socken und halb leere Wasserflaschen. Er geht in die Küche.

Er öffnet den Kühlschrank, holt eine weitere Wasserflasche raus, bleibt davor stehen und starrt hinein, als würde er darauf warten, dass ein Paket im Gemüsefach auftaucht. Ich sitze an der Kücheninsel, beobachte das Ganze und sage mir, dass ich hier nicht zuständig bin. Es ist Moms Problem, dass Tyler ein Trottel ist, nicht meins. Ich habe versucht, ihr das zu sagen, als sie ihn vor dreizehn Jahren aus dem Krankenhaus mit nach Hause gebracht hat.

Okay, ich halte es nicht aus: »Mom hat gesagt, du sollst dein Zeug wegräumen.«

Tyler wirft einen Blick über seine Schulter auf den Esstisch.

»Das ist nicht alles meins.«

»Doch, ist es.«

»Nein, ist es nicht.«

Ich schiebe meinen Hocker zurück und gehe zum Esstisch. Tyler schlendert herbei und stellt sich neben mich.

»Was davon gehört nicht dir?«

Er wirft einen kritischen Blick auf alles, was über den Tisch verteilt ist. »Das da gehört nicht mir.«

Ja. Stimmt. Die Kjerstønagsrud-Holzschale, die Mom für 175 Dollar im Museumsshop gekauft hat, gehört nicht Tyler.

»Ich glaube, das da gehört dir«, versucht er es und winkt mit einer Hand Richtung Tisch, während er mit der anderen durch die Stories seiner Freunde scrollt.

»Das soll meins sein?« Ich will das Ding noch nicht einmal anfassen. Ich lasse meine Finger nur darüber schweben.

»Nicht?« Er guckt noch immer auf sein Handy.

»Du meinst wirklich, das ist meins?«

»Äh, ja, dachte ich?«

»Tyler, das ist ein Eierbecher. Eine Plastikschale, die man sich in die Sporthose steckt, um die Hoden zu schützen.«

Er schaut endlich hoch und kräuselt die Nase: »Mmh, und?«

»Und du glaubst noch immer, der gehört mir? Wenn man bedenkt, dass ich keinen Hodenschutz trage, weil ich keinen Hoden habe? Und wenn man bedenkt, dass ich, selbst wenn ich einen hätte, sowieso keinen Sport treibe? Und wenn man bedenkt, dass ich kein Schwein bin, das verschwitzte Plastiksachen, die in meiner Unterhose waren, auf einem Tisch liegen lasse, an dem Menschen essen?«

Meine Stimme wird höher und schärfer und Tyler und ich hören beide, dass ich wie Mom klinge.

»Oder vielleicht denkst du auch, ich könnte einen Hodenschutz gebrauchen, wenn ich Hausaufgaben mache, falls mir das Mathebuch in den Schoß fällt und meinen imaginären Hoden zerquetscht. Es ist ein sehr schweres Buch. Es könnte einigen Schaden anrichten. Bietest du mir das deswegen an? Wirklich sehr süß von dir, Tyler.«

Und dann steht Jackson Oates im Durchgang zum Esszimmer und winkt verlegen. Er begrüßt mich mit einem zweisilbigen »Hi-hey« und bestätigt damit, dass er ein sehr seltsames Gespräch unterbrochen hat. Na toll. Er wird denken, dass Ty und ich den ganzen Tag lang unsere Hoden vergleichen. Genau der Eindruck, den ich vermitteln will.

»Oh! Hallo! Meine Mom hat gesagt, dass deine Mom vorbeischauen will – ich wusste nicht, dass du auch mitkommst.«

»Wir holen meinen Dad vom Flughafen ab. Tut mir leid, dass ich hier so hereinplatze.« Jackson schiebt seine Hände so tief in die Hosentaschen, dass seine Schultern noch breiter aussehen als sowieso schon. Ich frage mich, ob er Schwimmer ist oder Baseballspieler oder so.

»Alles gut. Tyler und ich überlegen gerade, wo wir seinen Eierbecher am besten aufbewahren: mitten auf dem Esstisch oder gleich im Kühlschrank.« Tyler stößt mich mit dem Ellbogen in die Seite. Es ist ihm nicht peinlich, seinen Penisschutz einfach so rumliegen zu lassen, aber er möchte nicht, dass ich mich vor anderen über ihn lustig mache. Wenigstens hat er einen Funken Anstand.

»Vielleicht wäre eine Kristallvase das Richtige?«, sagt Jackson mit überschwänglicher Geste.

»Wie soll das denn bitte funktionieren?«, fragt Tyler. Er nimmt immer alles so wörtlich.

»Jackson, das ist mein Bruder Tyler. Ty, das ist Jackson Oates.« Ich hoffe, man merkt nicht, dass ich die Wendung »Jackson Oates« hundertmal am Tag im Kopf wiederhole, seit ich ihn kennengelernt habe.

»Du spielst Lacrosse?«, fragt Jackson mit Blick auf den Ball in Neonrosa. Im Ernst, Tyler? Es ist noch nicht einmal die richtige Jahreszeit, um einen Lacrosseball auf dem Tisch liegen zu lassen.

Dass er beachtet wird, muntert den schmollenden Tyler wieder auf. »Ja, du auch?«

Jackson schüttelt den Kopf. »Als wir in Virginia gelebt haben, wollte ich, aber wir sind umgezogen, bevor die Saison anfing. Ich habe Baseball und Fußball gespielt und war mal im Schwimmteam. In den letzten Jahren habe ich hauptsächlich Tennis gespielt. Hängt immer davon ab, wo wir gerade leben. Und was ist mit dir, Greer? Was ist dein Sport?«

Auch mich muntert es auf, dass ich beachtet werde. »Oh. Sport ist nicht so mein Ding.«

Ich erkläre nicht, dass Sport, anders als die anderen Schulfächer, voraussetzt, dass dein Körper und du zusammenarbeiten, anstatt zu wabbeln und zu schwabbeln und im Weg zu sein. Erst gestern Abend hat Tyler mein Handy geklaut und ich musste ihm im Schlafanzug und ohne BH hinterherlaufen. Doria ist hochgehüpft und hat mir fast ein blaues Auge verpasst.

»Wie sind denn die ersten Tage so gelaufen?« Ich habe ihn ein paarmal von Weitem gesehen, zuerst, als er von den Fachbereichsleitern rumgeführt wurde, dann von ein paar wohlmeinenden Schülern aus der Schülervertretung. Heute beim Mittagessen war er dann Teil einer Gruppe von Jungs, die jeden Tag dem Taco-Foodtruck einen Besuch abstatten. Ich bin nicht überrascht, dass er so schnell Freunde gefunden hat. Aber ein bisschen enttäuscht schon, weil wir jetzt die Jahre unserer Jugend nicht mehr gemeinsam verbringen werden.

»Ganz gut. Ich habe mich weder verlaufen, noch bin ich verprügelt worden. Und niemand hat mein Taschengeld geklaut.«

»Wie gut. Der Taco-Foodtruck akzeptiert nämlich die Mensakarten nicht.« Er legt den Kopf schief und ich merke, dass ich rot werde. Er soll nicht denken, ich hätte ihn beobachtet. »Ich habe gesehen, wie du mit Max und den anderen gegangen bist. Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht an der Gedichte-voller-Wehmut-Theke festsitzt.«

»Du hättest mit uns mitkommen sollen. Das Barbacoa war göttlich.«

Den Riss im Universum möchte ich sehen, wenn ich einfach mit Maggies älterem Bruder und seinen Kumpels, die Jackson adoptiert haben, zum Taco-Foodtruck gehen würde. »Ich musste ein paar Gedichte zu Ende schreiben«, sage ich so wehmütig, wie ich kann.

»Von wegen. Max sagt, du isst immer mit seiner Schwester.«

Jackson hat mit Max über mich geredet? Jetzt lege ich den Kopf schief, aber er wird nicht rot. Er lächelt einfach. Na, wahrscheinlich war das so: »Ich hoffe, diese komische Tante mit dem Riesenbusen folgt mir nicht auch noch zum Essen, die läuft mir schon die ganze Zeit hinterher.« »Keine Sorge, die isst immer mit meiner Schwester und sie verlassen nie das Schulgelände, weil Maggie zu faul ist, irgendwo hinzulaufen.« Aber wenigstens hat er da an mich gedacht.

»Na ja, falls Max oder jemand anders versucht, dein Taschengeld zu klauen, weißt du ja, wo du mich finden kannst. Erste Stunde, Raum eins-eins-drei«, bekomme ich heraus.

Eine blonde Elfe versetzt Jackson einen üblen Schlag in den Rücken. Er langt nach hinten und greift nach ihren Armen, bevor sie es noch einmal machen kann.

»AUAAAA!«, knurrt sie.

»Hör auf damit, Q.«

»Ich. Hab. Nix. Gemacht.« Meine Mom hat mir erzählt, dass Jacksons Schwester in der dritten Klasse ist. Sie ist groß für ihr Alter und dünn, eine richtige Bohnenstange. Wenn ihr Outfit sie nicht verraten würde, könnte man denken, sie geht in die Mittelschule: rosa Ugg-Boots – im Haus von Kathryn Walsh! Auf dem Teppich von Kathryn Walsh! –, zu kurze Leggings und ein T-Shirt, auf dem in Glitzerschrift steht: Das Problem gefällt mir nicht! Das nächste bitte! Sie entreißt Jackson ihren Arm und wirft ihm einen wütenden Blick zu.

Jackson macht sich nicht die Mühe, uns Quinlan vorzustellen. »Wo ist Mom?«

»Die ist langweilig.«

»Wir sind auch langweilig. Geh und such Mom.«

Tyler und ich mögen uns nicht, er ist eklig und ich bin es nicht. Aber wir hassen uns nicht. Meistens jedenfalls. Ich ärgere mich, wenn er Dinge auf dem Tisch liegen lässt, die seine Eier berührt haben, und er findet, ich sollte das Abführmittel, das er manchmal nimmt, nicht vor seinen Freunden erwähnen. Aber normalerweise vertragen wir uns ganz gut.

Die Spannung zwischen Jackson und Quinlan ist ganz anders. Jackson ist normalerweise locker und lässig. Würde man zufällig in ihn hineinrennen, dann würde er erst ein bisschen in die eine und dann ein bisschen in die andere Richtung schwanken und dann seine langen Arme um einen legen, damit man nicht umkippt. Sobald Quinlan auf der Bildfläche erschienen ist und ihm eins draufgegeben hat, ist er wie verwandelt. Ein Stahlpfeiler. Angespannt und auf alles gefasst.

»Haben sich alle kennengelernt?«, fragt Mom und schwebt in den Raum. Was sie eigentlich sagt, ist: »Greer Eleanor Walsh, ich habe dich zu einer höflichen Gastgeberin erzogen, auch gegenüber gewalttätigen Elfen-Mädchen, und ich gehe davon aus, dass du den Oates-Kindern eine Erfrischung angeboten hast.« Ihr Blick gleitet zu der Ansammlung auf dem Esstisch und sie zuckt zurück.

»Bitte entschuldige die Unordnung«, seufzt sie Mrs Oates zu. »Jungs!«

Mrs Oates, groß und blond wie Quinlan, aber perfekt angezogen und entspannt wie Jackson, lächelt mitfühlend. Ich wette aber, dass Jackson seine alten Hausaufgaben abheftet und sein Sportzeug in beschrifteten Fächern verstaut, wenn er es gerade nicht braucht. Genauso wie ich.

»Möchte jemand etwas trinken? Wir haben Sirup da – Himbeere und Blaubeere-Vanille, glaube ich«, sage ich, viel zu spät.

»Blaubeere ist alle«, sagt Tyler und rülpst. Seit wir einen SodaStream haben, ist er ständig voller Kohlensäure. Von Mom bekommt er einen Ich-könnte-dich-erwürgen-Blick. So geht es uns mit Tyler meistens.

»Wir müssen los«, sagt Mrs Oates. »Wir holen Ben ab. Er war zwei Wochen in Dubai.«

»In Dubai selbst holen wir ihn aber nicht ab«, sagt Jackson. Doch ich bin zu abgelenkt, um mich darüber zu amüsieren. Quinlan steht mit dem Rücken zu uns vor dem Bücherregal. Sie macht irgendwas, ich kann nicht genau sehen, was.

»Hoffentlich nicht!«, dröhnt Mom, als wäre es der beste Witz aller Zeiten und nicht einfach eine beiläufige Bemerkung gewesen. Sie wirft mir einen Blick zu, wohl um zu sehen, ob ich auch mitbekommen habe, wie charmant Jackson ist.

Als die Oates weg sind, nimmt Mom sich sofort Tyler vor, weil er sein Zeug nicht aufgeräumt hat (und klingt dabei tatsächlich erschreckend wie ich). Ich gehe währenddessen zum Bücherregal.

Vor den Büchern steht eine Reihe von kleinen Glasfiguren: Schneewittchen und die sieben Zwerge. Mom hatte sie schon als kleines Mädchen. Die Figuren sind mundgeblasen und sehr zerbrechlich. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, erlaubte sie mir zum ersten Mal, mit ihnen zu spielen. Aber nur am Tisch und nur mit einem dicken Geschirrhandtuch darunter und bloß nicht zusammen mit anderem Spielzeug oder Lego. Und die Figuren durften sich nicht berühren. Also habe ich nicht wirklich mit ihnen gespielt, sondern sie vielmehr vom Regal auf den Tisch bewegt und sie angeguckt. Und dabei im besten Fall die Luft angehalten.

Ich habe sie geliebt. Ich tue es noch. Ich liebe sie, weil sie so winzig, so vollkommen und so berechenbar sind. Der eine schläft immer ein. Der andere ist zu schüchtern, um etwas zu sagen. Der da am Ende ist immer wütend. Das Leben wäre so viel einfacher, wenn man alles über sich selbst so einfach erfassen könnte. Wenn man einfach nur Schlafmütze oder Brummbär oder Happy wäre. Aber selbst Tyler ist nicht die ganze Zeit ein Seppel. Manchmal ist er einfach nur ein Stinktier.

Mir wird schlecht. Da ist Schneewittchen, da die zwei Häschen, das Nest mit den winzigen Vögeln und da sind sechs Zwerge.

Brummbär ist verschwunden.

Meine Augen sind hier oben

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