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Im Sommer nach der zweiten Klasse habe ich ein Video von Emma Watson gesehen, als sie richtig kurze Haare hatte, und habe meiner Mutter gesagt, dass ich mir die Haare schneiden lassen will. Kurz bevor die Schule wieder anfing, brachte sie mich zum Friseur und der verpasste mir einen Kurzhaarschnitt. Am Hinterkopf und über meinem rechten Ohr scherte er mir die Haare auf nur wenige Millimeter zurück und ließ auf der linken Seite eine lange Strähne stehen, so eine, die mir immer ins Gesicht fiel. Ich weiß noch, wie leicht sich mein Kopf danach anfühlte und wie schnell die Haare nach dem Baden trockneten. Wenn ich jetzt Fotos von damals sehe, gefällt mir die Frisur ausgesprochen gut. Ich sah aus wie ein süßer kleiner Junge.

Nella, die damals vor den Sommerferien ganz lange Haare gehabt hatte, kam zufällig auch mit einem Kurzhaarschnitt wieder zur Schule. Mit einer langen Strähne auf einer Seite. Es war nicht exakt die gleiche Frisur, weil ihre Haare dunkler sind als meine und ihre Strähne ihr rechts und meine mir links ins Gesicht fiel. Außerdem hielt sie niemand für einen Jungen, da sie schon Ohrlöcher hatte.

Die Frisuren waren sich aber doch so ähnlich, dass uns andere Eltern und Vertretungslehrer für das restliche Schuljahr ständig verwechselten. Sie nannten mich Nella und sie Greer (oder mich Ella und sie Gwen, weil sich die Leute unsere Namen nicht merken konnten). Schüler aus anderen Klassen sagten häufig: »Du siehst genauso aus wie dieses andere Mädchen.« Und manchmal wurden wir gefragt: »Habt ihr das so geplant?«

Bei manchen Kindern hätte das zu einem Konkurrenzkampf geführt. Das coolere oder süßere oder gemeinere Kind würde sich gegen den Vergleich wehren, versuchen, sich abzuheben, oder behaupten, es wurde nachgeahmt. So etwas passiert, wenn Leute, die sich ähnlich sind, in einen Topf geworfen werden. Die zwei kleinsten Jungen in der Klasse hassen sich immer. Die drei Kinder mit der Erdnussallergie können sich gegenseitig nicht ausstehen.

Aber Nella hat diesen Zufall gefeiert. Gleich am ersten Tag, als wir uns gesehen haben, kam sie zu mir und rief: »Greer! Wir sind Frisur-Zwillinge! WIR SIND FRISUR-ZWILLINGE!«, nahm mich bei den Händen und hüpfte auf der Stelle, als wäre es das Tollste, was sie je erlebt hatte. Dabei kannten wir uns nicht mal richtig. »UND WIR HABEN FAST DEN GLEICHEN RUCKSACK!« Ihr Fjällräven-Rucksack war hellgrün mit gelben Trägern, meiner hellblau mit gelben Trägern.

So richtig befreundet waren wir dadurch zwar nicht. Aber zumindest für die nächsten Monate waren wir, jedenfalls aus ihrer Sicht und der aller anderen, die Frisur-Zwillinge.

Und deshalb ist es jetzt auch besonders komisch, dass sie der schönste Mensch auf meiner Schule ist und dass ich … ich bin. Die Vorstellung, dass jemand Nella und mich heute noch verwechseln würde, ergibt genauso viel Sinn, wie eine Gazelle mit einem Nashorn zu verwechseln. (Ich bin natürlich das Nashorn. Ein Sumatra-Nashorn, das mit zwei Hörnern.)

Wir ließen unsere Haare aber beide wieder wachsen, denn wenn man ein Kind ist, ist so eine Frisur irgendwie Quatsch. Man kann die Haare nicht zusammenbinden, sodass sie einem ständig im Gesicht hängen, was total nervt. Hätte ich Stirnbänder nicht für mich entdeckt, hätte ich die dritte Klasse nicht überlebt. Nellas Haare wuchsen schneller, und als wir in die vierte Klasse kamen, konnte sie sich winzige französische Zöpfe flechten. Nella wuchs in jeder Hinsicht schneller, aber bei ihr hörte es da auf, wo es aufhören sollte.

Wir haben nie darüber geredet, aber ich glaube, sie fühlt sich durch die Sache mit mir verbunden. Wir haben eine gemeinsame Geschichte. Wir hängen deswegen nicht zusammen rum oder sind über die sozialen Medien hinaus befreundet. Aber irgendwas sind wir. So ist das mit Nella und allen anderen. Sie hat so eine Art, anderen Menschen zu begegnen, dass die gerne in ihrer Nähe sind. Sie wollen nicht nur mit ihr ausgehen, sie wollen auch einfach an ihrer Seite sein, um mit ihr rumzuflachsen oder ihr Frisur-Zwilling zu sein. Alle sind willkommen in ihrem Universum, in dessen Zentrum sie sich sehr wohlfühlt.

Vielleicht ist es das, worum ich sie noch viel mehr beneide als um ihren vollkommenen Busen.

Sollte ich eines Morgens in Nellas Körper aufwachen, wäre ich vielleicht noch immer ein einziges Durcheinander. Aber bei Gott, ich würde es gerne ausprobieren.

Meine Augen sind hier oben

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