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Maggie ist außer sich. Wie immer.

Wir sollten eine Seite zu einem Gedicht von Dylan Thomas schreiben, in dem es um das Sterben und das Aufbegehren dagegen geht. Das Ganze ist etwas komplizierter, aber das Wesentliche findet sich in den berühmten Zeilen »Geh nicht gelassen in die gute Nacht«.

Maggie hat fünf Seiten darüber geschrieben, dass leidende Menschen, die dem Tode nahe sind, das Recht auf ärztlich begleitete Sterbehilfe haben sollten.

»Maggie, das hier ist ein Literaturkurs. Deine Aufgabe war es, das Gedicht zu analysieren, und nicht, mit ihm zu streiten.«

»Wie soll ich es analysieren, wenn ich ihm widerspreche?«

»Wie widerspricht man einem Gedicht?«

Die anderen Schüler sind schon gegangen, also bleiben nur Maggie, Ms Mulder und ich im Kursraum zurück. Die Hälfte der Zeit, die ich mit Maggie verbringe, höre ich ihr dabei zu, wie sie mit einem Lehrer diskutiert. Oder einem Schüler. Oder einem Elternteil. Oder einem achtjährigen Kind im Halloweenkostüm, das behauptet, Hermine sei nicht so cool wie Harry oder Ron, weil sie kein Quidditch spielt.

Deswegen habe ich ihr nicht erzählt, dass ich dieses Wochenende Jackson kennengelernt habe – obwohl er jetzt gerade irgendwo in diesem Gebäude ist. Weil sie zu sehr damit beschäftigt ist, zu streiten. Oder vielleicht, weil sie dann vorschlägt, dass ich ihn frage, ob er mit mir ausgeht. Und dann werde ich sagen: »Nein, ich ziehe es vor, meine Gefühle tief in diesem überdimensionierten Sweatshirt zu vergraben, um mir die Demütigung zu ersparen, wegen eines normal gebauten Mädchens abgelehnt zu werden.« Dann wird Maggie mit mir streiten wollen. In der Regel vermeide ich es, mit Maggie zu streiten.

»Wenn ich also ein Gedicht analysieren muss, das Folter propagiert, dann soll ich einfach das Reimschema untersuchen und mich über den Sprachstil auslassen? Dann soll ich nicht gegen Folter Stellung beziehen?«

»Ich habe euch kein Gedicht über Folter aufgegeben, sondern einen Klassiker von Dylan Thomas, der von einer allgemein menschlichen Erfahrung handelt.«

Maggie schaut Ms Mulder an, als hätte sie uns aufgetragen, ein Massengrab zu schaufeln und es mit Welpen zu füllen. Ms Mulder wirft einen Blick auf das Lunch-Paket auf ihrem Schreibtisch. Sie wird nie zum Essen kommen, wenn sie nicht nachgibt.

»Also dann. Du hast nicht das analysiert, worum ich dich gebeten habe. Aber dein Text ist ganz gut geschrieben und du hast dich eindeutig ausführlich mit dem Gedicht beschäftigt. Ich gebe dir eine Zwei plus, aber ich erwarte, dass deine nächste Hausaufgabe formvollendet ist. Wenn du Hilfe brauchst, dann wende dich an Greer.«

Genau deswegen will ich nicht mit Maggie über Jackson reden. Maggie bekommt Leute dazu, das zu tun, was sie will. Wie eine Drei minus in eine Zwei plus zu verwandeln oder zuzugeben, dass man sich total in den Sohn der Kundin seiner Mutter verknallt hat.

»Das klingt wie ein guter Kompromiss«, sage ich, bevor Maggie wieder das Wort ergreifen kann. Ich hake meinen Finger durch die lockeren Schlaufen ihres Schals und ziehe. Ich möchte zwar nicht mit ihr streiten, aber ich werde ihren gestrickten Schal auftrennen, wenn sie jetzt nicht voranmacht. »Bis morgen«, sage ich zu Ms Mulder und führe uns nach draußen.

»Geh nicht gelassen in die vierte Stunde«, sagt Maggie, als wir im Gang stehen, »glüh, rase, verfluche, wüte …«

»Gegen alles?«

»Wenigstens gegen irgendwas, Greer. Man muss wenigstens gegen irgendetwas wüten.«

Meine Augen sind hier oben

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