Читать книгу Der Sarekmann - Lennart Hagerfors - Страница 15

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Eines abends, es war noch immer tiefster Winter, saß ich zu Hause vor dem Fernseher und sah, wie die Challenger-Raumfähre explodierte. Instinktiv schaltete ich den Videorecorder ein und nahm die Katastrophe auf. Nach den Meldungen und all den Kommentaren zu dem Unglück beschäftigte ich mich nur noch mit dem Unglück selbst und mit seinen unmittelbaren Folgen. Zuerst der Start, dann die Explosion, dann alles noch einmal in Zeitlupe. Als die ersten Flammen herausschlugen, hielt man das Bild an, deutete und erklärte. Dann waren die Angehörigen an der Reihe. Zuerst fröhliche Gesichter, dann erwartungsvoll, nervös. Schließlich ein Maskenwechsel, schneller, als er jedem Schauspieler gelungen wäre: Enttäuschung, Bestürzung, Verzweiflung, Trauer. Das alles im Laufe weniger Sekunden. Die Gefühlsschwankungen waren ebensoschwer einzufangen wie die Explosion selbst. Nicht einmal die Langsamkeit der Zeitlupe war imstande, derartig aus sich selbst herausgeworfene Menschen im Bild zu bannen.

Das Telefon klingelte. Es war Usk. Wir hatten seit mehreren Wochen keinen Kontakt gehabt. «Hast du die Explosion gesehen? Phantastisch, wie?» Er war aufgekratzt, lachte und hustete. «So etwas bekommt Symbolwert! Übrigens, Kelly hat nach dir gefragt…» Ich legte den Hörer auf und zog den Stekker heraus.

Trotzdem klingelte es weiter. Ich erinnere mich, daß ich dasaß und das Telefon anstarrte, als sei auch dieses der menschlichen Kontrolle entzogen, bis ich entdeckte, daß es diesmal die Türklingel war. Das Gefühl, auch mein Privatleben sei in überraschende Bahnen geraten, verstärkte sich dadurch, daß ich das junge Mädchen zunächst nicht erkannte, das im Treppenhaus stand und nervös an den langen blonden Haaren zupfte. Sie war zweckmäßig und einfallslos gekleidet, hatte aber ein hübsches, offenes Gesicht. Sie entschuldigte sich und fragte, ob sie kurz hereinkommen dürfe, um mit mir über den Kurs zu sprechen.

Da erkannte ich sie. Sie gehörte zu den Teilnehmern von Usks Kurs.

Während ich in die Küche ging und Tee aufbrühte, schaute sie sich das Challenger-Unglück an. «Es ist furchtbar, aber in den USA kommen an einem gewöhnlichen Tag bestimmt mehr Leute bei Verkehrsunfällen um», sagte sie.

Wir tranken Tee und aßen Kekse. «Wenn man Verkehrsunfälle filmen könnte, würde man sie wohl auch im Fernsehen zeigen. Da würden sie sich bestimmt gut machen», fuhr sie fort. Wir lachten, und ich räumte ein, daß ich noch nie einen Film von einem richtigen Verkehrsunfall gesehen hatte, obwohl so viele passierten. Sie fanden im verborgenen statt, dem Blick der Massenmedien entzogen. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Unfälle bei Autorennen, Schiffe, die untergehen, Menschen, die von brennenden Hochhäusern springen, Erschießungen – das alles hatte ich im Fernsehen gesehen, aber nie einen ganz gewöhnlichen Verkehrsunfall.

Sobald die Bilder von dem Unglück zu Ende waren, ließ ich sie wieder durchlaufen, Mal für Mal. Ich bildete mir ein, sie wolle es sehen. Den Blick unablässig auf den Bildschirm gerichtet, begann sie mich aufzufordern, ich solle den Kurs bei Usk abbrechen. Ich erwiderte, das hätte ich bereits getan. Sie schien mir nicht zuzuhören. Sie meinte, mit Usk stimme etwas nicht. Wenn man die Weltreligionen studieren wolle, gäbe es seriösere Alternativen, beispielsweise an der Universität. Sein Engagement für Umweltprobleme sei ebensowenig seriös. Sie selbst sei Mitglied bei den Grünen, erzählte sie.

Als ich sie fragte, was denn mit Usk nicht stimme, konnte sie nicht antworten. Irgend etwas Verzweifeltes ging von ihr aus. Sie schneuzte sich ständig in Papiertaschentücher. Ich wußte nicht, wie ich sie loswerden sollte. Sie schleppte etwas Unausgesprochenes mit sich herum, etwas, das ihre Anwesenheit in meiner Wohnung forciert erscheinen ließ.

«Ich werde gleich gehen», sagte sie, den Blick noch immer an die Bilder von dem Unglück geheftet. «Es ist ziemlich albern, daß ich gekommen bin, um dich zu warnen.» Sie wirkte, als brauche sie Trost. Ich unterdrückte den Impuls, ihr eine Hand auf die Schulter zu legen. Da war irgend etwas – womöglich wußte sie selbst nicht, was –, womit sie nicht fertig wurde. Ein Gefühl oder ein Gedanke irrte in ihr herum, ohne zur Ruhe zu kommen oder hinauszugelangen.

Dann wandte sie mir das Gesicht zu, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Züge verzerrten sich zu einer grotesken Fratze, und der Körper begann zu zucken. Zuerst dachte ich, die Fratze sei ein Scherz, und das Zucken käme vom Lachen. Ich lachte selbst auf, bevor ich meinen Irrtum erkannte. Im nächsten Moment hob sie den schweren Aschenbecher, der auf dem Tisch stand, und warf ihn mit aller Kraft nach dem Fernseher. Das Glas zersplitterte mit einem gewaltigen Lärm, Scherben klirrten auf den Boden, und vor uns klaffte ein häßliches schwarzes Loch.

Da lachte sie auf und schlug die Hände vor den Mund, als habe sie etwas Unpassendes gesagt. Dann ließ sie sich aufs Sofa sinken und weinte. Wieder war ich drauf und dran, mich neben sie zu setzen und ihr einen Arm um die Schultern zu legen. Doch daraus wurde nichts. «Das macht nichts. Ich sehe ganz selten fern. Ich wollte nur das mit der Challenger sehen.» Es war ein Versuch, sie zu trösten.

Nach einer Weile fing sie sich wieder, etwas floß in die Schale ab, in die es gehörte, etwas fand seinen Platz. «Was soll man machen? Das wirkt alles so überspannt», sagte sie und schneuzte sich. Das Zimmer füllte sich mit Ruhe und Frieden. «Ich kenne dich nicht, komme ungebeten herein, schlage deinen Fernseher kaputt, weine. Ich bin nicht ganz bei Trost.»

Als sie in der Diele ihren Mantel anzog, waren wir beide guter Laune. Sie bot an, mir ihren Fernseher zu schenken. Sie würde ihn in einigen Tagen vorbeibringen. Ich lehnte das Angebot ab. Sie bestand darauf.

Als sie gegangen war, trat ich ans Fenster und beobachtete, wie sie die Straße überquerte. Sie drehte sich um und winkte. Sonderbarerweise war mir, als hätte ich etwas erlebt, was man Gemeinschaft nennen könnte.

Ein paar Tage darauf kam sie mit einem alten Schwarzweißfernseher, den wir an den Platz des zerschlagenen Gerätes stellten. Ich sagte, ich hätte nicht gewußt, daß solche überhaupt noch in Gebrauch wären. Sie erwiderte lachend: «Es ist so idyllisch mit Farben, irgendwie gekünstelt. Schwarzweiß ist mehr wie Kindheitserinnerungen.»

Als wir danach unterwegs ins Kino waren, sagte sie mir, sie heiße Eva und würde nie wieder ihren Fuß in Usks Kurs setzen.

Der Sarekmann

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