Читать книгу Der Sarekmann - Lennart Hagerfors - Страница 16

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Die meisten menschen leiden anscheinend an einem inneren Überdruck. Der Schwede, dieser schlaksige, bleiche Typ mit einem scharfen Zug um den Mund, ist eine wandelnde Bombe, schwer entzündlich, aber voll von explosivem Material. Ein sprachloser Mensch, gehemmt, die Hände in der Tasche geballt, die Kiefer zusammengepreßt: Max von Sydow in einem Bergmanfilm.

Klischees treffen ja meistens zu. Wenn wir uns angeekelt von ihnen abwenden, tun wir das, weil uns die Wahrheit zu grell beleuchtet erscheint: Schatten und Nuancen verschwinden. Wird eine Ansicht – wie plausibel sie auch sein mag – zu oft formuliert, muß sie den schäbigen Weg von Erkenntnis zu Klischee, von Wahrheit zu Binsenweisheit gehen. Die Wahrheitssuche ist zu einem verzweifelten Lauf durch Sumpfgebiete geworden: solange wir von Grasbüschel zu Grasbüschel springen, tragen sie uns, sobald wir stehenbleiben, verwandelt sich unsere Unbeweglichkeit in tödliche Bedrohung. Wir versinken.

In diesem Jahr, 1986, merkte ich, wie effektiv die schwedische Sprache Geheimnisse bewahren konnte. Hier gibt es höchstens drei Wörter pro Quadratkilometer. In Norrland werden die Wörter stumm vor Verwunderung, nur weil sie sich begegnen. In den Großstädten ist die Dichte etwas größer. Die trockenen und kantigen Stockholmwörter können sich in sentimentalen Momenten gegenseitig kleine Kratzer beibringen, und die schwereren, schwammigeren Malmöwörter können aufgequollen relativ dicht nebeneinander hertreiben. In Göteborg haben die Wörter durch Seemannsnostalgie und programmatische Sorglosigkeit eine sanguinische Leichtigkeit erhalten. Man kann sogar an Bushaltestellen Zeuge von Gesprächen werden.

Die schwedische Sprache besitzt eine zentrifugale Kraft. Die Wörter stoßen einander ab. Es erfordert Mut und Kraft, sie zusammenzubringen. Ist es einem gelungen, eine Handvoll davon in eine annähernd gerade Reihe zu bringen, gibt es immer eins, das sich zu weit vorn oder zu weit hinten aufgestellt hat. Versucht man mit Gewalt die Reihenfolge zu ändern, entsteht eine so große Verwirrung, daß die Wörter beschließen, nach Hause zu flüchten, das heißt, in ihre richtige Position zurückzukehren, wie kleine Inseln im ausgedehnten Archipel des Schwedischen, gebildet aus schlummernden Erzählungen und aus Schweigen.

Hingegen ist das Schwedische eine Sprache, in der man mit Erfolg eine Aussage vorbereitet. Deshalb ist sie imstande, Geheimnisse zu bewahren. Jemand beugt sich über das klebrige Wachstuch des Küchentisches, leckt sich die Lippen, räuspert sich und umfaßt mit seiner Rechten das Kinn – zieht es aber schließlich vor zu schweigen. Die Nachbarn kehren heim mit dem Gefühl, kurz vor einem Wunder gestanden zu haben, vor einem Augenblick der Offenbarung.

Es gibt jedoch Gelegenheiten, da lassen sich die Wörter etwas widerwillig – wie Menschen, die sich verlegen lächelnd für ein Gruppenfoto zusammendrängen vereinen und befruchten einander in einer treulosen Begegnung, eine Sekunde bevor die Gemeinschaft zum Zwang geworden ist. Dann – kurz bevor sie wieder in die Vereinzelung hinausgleiten, gibt es einen Augenblick der Aufmerksamkeit.

Ich bin nicht eins mit dieser Sprache. Ihre Schwere, ihre Lustlosigkeit und ihr Widerwille sind mir fremd. Ich bin undicht, durchscheinend, vom Wind durchweht. Es zischt, pfeift und seufzt. Ich bin so porös, daß ich fürchte, ein Arm könnte sich plötzlich vom übrigen Körper lösen und selbständig davontreiben. Ein Gefühl oder ein Gedanke kann nur selten in mir Fuß fassen. Ich verstehe mich nicht aufs Kompakte. Die Seltsamkeiten, die sich hinter dem Panzer des Schwedischen verbergen, erschrecken und – faszinieren mich. 1986 ist dies offenbar geworden. Einiges lerne ich jedoch mit der Zeit. Bett, Tisch, Stuhl.

Dies ist nicht der Bericht von meinem Leben im Frühjahr 1986. Das ist eine ganz andere Geschichte. Sie handelt von Wechselgeld und der Sitzhöhe im Bus, von Leffe, dem Mitschüler aus dem Gymnasium, der gerade sein zweites Kind bekommen hatte, von Micke, dem Kumpel vom Militärdienst, der das Kneipenleben liebt und Fotograf ist, von Ann, die 79 meine Freundin war und mit der ich hin und wieder schlafe, von Ulla, die ich 73 in Griechenland kennengelernt habe und mit der ich nicht schlafe, weil sie Familie und Kinder hat. Dieses, «das Leben», wie Micke es in dem Versuch nannte, dem Schlendrian einen Sinn zu geben, spulte sich ab, als gehöre es zu einer von politischen, sozialen und biologischen Veränderungen unabhängigen Sphäre. Die Trivialitäten der Gemütlichkeit: ein geborgtes Sommerhäuschen, ein paar Freunde, gutes Essen, Wein, Sauna, kalte Bäder, Kartenspiele, alles glitt in mich hinein und wieder heraus wie ein Beischlaf in einem Militärpuff. Kino, Oper, Musik, Theater, Bücher, Friedenszeiten. Es gab so viel, für das man dankbar sein konnte. Hätte nur die Idylle nicht die niederschmetternde Eigenschaft, sich «nebenbei» abzuspielen. Trauer und Demütigung zeigen stets ihr Gesicht, das Glück wendet seines ab. Und die Klischees recken ihre grinsenden Gesichter vor, wenn man glaubt, etwas Authentisches gefunden zu haben. Ihre Hartnäckigkeit muß einen Sinn haben. Vielleicht wollen sie uns daran erinnern, wie schwierig es ist, die Schablonen des Lebens anzunehmen, solange wir manisch damit beschäftigt sind, die Schablonen der Sprache zu bekämpfen.

Der Sarekmann

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