Читать книгу Der Sarekmann - Lennart Hagerfors - Страница 6

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Natürlich hat alles früher angefangen. Aber wann? Ich weiß es nicht. Aufs Geratewohl setze ich dort an, wo in meinem Gedächtnis so etwas wie eine Grenze, ein Anfang erscheint. Bestimmte Szenen sind deutlich, andere diffus, «im Verschwinden begriffen». Jede Episode steht hilflos für sich allein.

Die Ereignisse vor der Bahnfahrt ins Fjäll sind von der Zeitachse abgetrennt, durcheinandergeschüttelt und zu einem schwer deutbaren Muster verstreut. Die Erinnerung ist wie in trübes Badewasser versenkt.

Ich wähle die Kreuzung von Birger Jarlsgatan und Kungstensgatan in Stockholm um sieben Uhr abends am 7. Januar 1986. Die Temperatur um null Grad, Schneematsch. Die Stadt schwarzweiß, nein, braungrau. Sie wirkte wie geräumt, als hätte man die Menschen evakuiert. An der Kreuzung steht ein älteres Wohnhaus mit ein paar Läden im Erdgeschoß, hier gibt es eine Tankstelle, eine Kirche und einen kleinen Park. Eine Miniaturstadt. Zeichen einer Vergangenheit. Irgend etwas war geschehen, doch der Sinn, mit dem die Vergangenheit lockte, war verlorengegangen.

Ich zögerte. Ein paar Autos fuhren vorbei. Wie aus Versehen bog ein Volvo in die Kungstensgatan ein und parkte. Ein Paar stieg aus, der Mann vergewisserte sich, daß die Türen verriegelt waren, während die Frau ihren Mantel zuknöpfte. Dann verschwanden sie in einem Hauseingang, als würden sie sich schämen, daß sie sich zeigen mußten.

Ich ging weiter durch die Kungstensgatan, bis zur Sankt-Eriks-Volkshochschule. Ich war indifferent, oder vielleicht unbewohnt, unmöbliert, eine wandernde Montage. Vom Eingang der Schule aus gelangte man in einen großen, blaßgelben Korridor. Verschiedene Plakate erzählten von griechischen Felseninseln und tiefblauen Meeren. An einem schwarzen Brett hingen eine Menge Kommunikationsversuche: verlorene Handschuhe, geänderte Unterrichtsstunden, Fußball und Chorgesang.

Im ersten Stock fand ich den Unterrichtsraum. Rings um einen großen Tisch saßen mehrere Frauen und Männer, die mich erstaunt musterten und zögernd nickten. Der Kurs lief bereits seit einigen Wochen. Ich war «ein Neuer». Da waren sie und hier war ich. Jede Geste, jedes Räuspern, jedes Wort von mir war etwas, woraus sie ihre Schlüsse zogen. Mein eigener Körper wurde mir zum Feind, zum Verräter, dem man nicht freie Hand lassen durfte.

Dann trat der Lehrer ein. Zunächst bemerkte ich ihn nicht. Ich war so überrascht, weil die übrigen Schüler plötzlich aufstanden und sich verbeugten, daß ich ihn erst sah, als er fast an dem kleinen Tisch angekommen war, der als Katheder diente. Zu meiner Verwunderung merkte ich, daß ich selbst eine Verbeugung andeutete und meinen Hintern ein paar Millimeter vom Stuhl lüpfte.

Der Lehrer hieß Georg Usk. Er war sehnig und hager, und die dünnen Haare hingen ihm über Kragen und Ohren. Er schielte ein wenig. Er schob die Ärmel des Pullovers hoch und entblößte seine glatten, haarlosen, goldbraunen Arme, über die sich ein Muster aus schwellenden Adern und straff gespannten Sehnen spannte. Er trug ein kariertes Hemd, einen dicken Pullover, Jeans und derbe Stiefel. Direkt unter dem linken Auge zuckte ein Muskel. Er sah aus, als habe er seit mehreren Tagen nichts gegessen. Als er auf dem Weg zu seinem Platz hinter mir vorbeiging, streifte mich ein trockener, muffiger Geruch nach Pfeifentabak und lange getragenen Wollsachen.

Hier werde ich unsicher. Wie begann er seine Unterrichtsstunde? Nach meiner Erinnerung sagte er mit tiefer, warmer Stimme einige Worte in einer mir gänzlich unbekannten Sprache. Aber das kann völlig falsch sein. Vielleicht war es ein Traum – ich habe nach der ersten Stunde viel von Usk geträumt und bin oft verschwitzt und beklommen aufgewacht –, in dem er eine Sprache benutzte, die ich zuerst für Holländisch, dann für Isländisch hielt, um schließlich einzusehen, daß es etwas anderes war. Sämtliche Schüler meldeten sich auf altmodische Art mit erhobener Hand, eifrig wie Erstkläßler. Usk ließ sie warten. Er lächelte, und die schielenden Augen suchten die Schüler ab wie zwei voneinander unabhängige Scheinwerfer. Dann wurde er ernst, wandte sich einer Frau zu und nickte. Sie erhob sich und stieß einen räuspernden Laut aus, «hrsch» oder so ähnlich. Dann mußte jeder der Reihe nach dieses Geräusch hervorbringen. Auch ich wurde dazu aufgefordert. Trotz meines wachsenden Unmuts tat ich wie geheißen. «Hier pflegen wir aufzustehen, wenn wir sprechen», wies er mich zurecht. Ich erhob mich übertrieben langsam, sagte das Wort und setzte mich mit einem Ruck wieder hin. Vielleicht war es in diesem Moment, als ich den räuspernden Laut aus meiner Kehle fahrenließ, daß etwas in mir aufriß. Irgend etwas veränderte sich. Ich weiß bloß nicht, ob es in der Sankt-Eriks-Volkshochschule passierte oder im Traum.

Jedenfalls weiß ich, daß er in dieser Stunde den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten im Islam erläuterte. Er sprach über die Sehnsucht der arabischen Völker sowie der ihnen nahestehenden Kulturen nach einer Richtschnur, einem Weg fort von der egozentrischen Oberflächlichkeit des Abendlandes mit seiner Todesangst, die Atomwaffen entstehen ließ und für alle Zukunft Erde, Luft und Wasser zerstörte.

Er sprach mit monotoner, rhythmischer Stimme, weit entfernt vom Alltagston des privaten Gesprächs. Er hielt eine Rede, er predigte. Das wichtige war nicht, was er sagte, nicht das Wissen, das er uns vermitteln wollte, sondern Klang und Rhythmus der Sprache, der feste, materielle Charakter der Schlüsselworte: Gesetz, Schrift, Volk, Mann, Frau, Muttersprache, Vaterland. Es war schwierig, im Kopf zu behalten, daß er vom Islam sprach. Der Unterricht erzeugte das geradezu körperliche Gefühl einer Schwere in der Brust, einen Geschmack von Süße, ein Gefühl von Schuld.

Später im Traum – es ist indessen nicht ausgeschlossen, daß es wirklich in der Stunde geschah – wurde der Unterricht mit einem spielerischen Exerzitium in der rätselhaften Sprache beendet. Ich weiß noch, daß wir alle aufstehen mußten, um Worte zu skandieren wie «Sang», «Ham», «Mapa», «Blut», «Ort». Der Kopf wurde schwer, die Kiefer unbeholfen und träge.

Unversehens befiel mich Müdigkeit. Ich verspürte Langeweile, Ekel. Die Hosen klemmten im Schritt, die Achselhöhlen wurden feucht, und es war, als sei jede Hautfalte mit einem Streifen Schmutz bedeckt. Ich flüchtete hinaus auf die Straße. Dort fand ich mich von einer übersprudelnden Munterkeit überrascht, Beschwingt ging ich mit schnellen Schritten auf die nächstgelegene U-Bahn-Station zu.

Der Sarekmann

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