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Pölze merkte schon eine Weile, daß sie falsch gefahren sein mußte. Wahrscheinlich hatte sie eine Abzweigung übersehen. Nun, dann nahm sie eben die nächste, so kam sie schon wieder auf den richtigen Weg. Wenn sie Birkelbach erreicht hatte, wollte sie daheim anrufen, dann erfuhr sie vielleicht schon, daß der Gefangene erwischt und sichergestellt war. So jedenfalls redete sie sich ein.

Im September sind die Tage kurz. Sie hatte nicht darauf geachtet und befand sich plötzlich in einer ziemlich schnell herabsinkenden Dämmerung. Nanu? Das Dorf, in dem sie übernachten wollte, ließ auf sich warten. Freilich, vorhin hatte sie eine Pause eingelegt, weil Berti einfach nicht mehr still sitzen konnte. Das war nicht eingerechnet gewesen. Sie versuchte, die Karte zu erkennen, und ihrer Meinung nach mußte Birkelbach unmittelbar kommen. Sie fuhr zur Zeit im Wald, da ist es ja dunkler als auf freiem Feld. Sie spähte nun ziemlich sehnsüchtig nach vorn: Sah man nicht bald Lichter, die menschliche Ansiedlungen ankündigten?

Während sie den Hals reckte, war ihr, als hörte sie hinter sich Hufschlag. Sie horchte – nichts. Die Wege hier waren unterschiedlich in ihrer Beschaffenheit, manchmal weich, so daß sie auch die Hufe ihrer Isländer nicht aufsetzen hörte, manchmal sehr unangenehm, nämlich mit Bauschutt und Ziegelbrocken aufgefüllt, die man hier in die größeren Vertiefungen geworfen hatte, wie das üblich ist. Dort hörte man natürlich jeden Schritt. Pölze, die jetzt ziemlich müde war, glaubte, sich geirrt zu haben, als sie plötzlich ein Wiehern hinter sich vernahm. Und nun wurde sie sehr wach.

Nein, Lichter waren noch nicht zu erspähen. Sie fuhr hier allein im Wald, auf einem Weg, auf dem sicher tagelang kein Mensch ging oder fuhr. Und hinter ihr war jemand, jemand zu Pferde.

Sie fühlte, wie ihre Kopfhaut eiskalt wurde, und sie hatte den Eindruck, als stellten sich ihre Haare einzeln auf. Über ihren Rücken lief es, als streiche jemand mit einer eisigen Hand darüber entlang. Himmel, sie, Pölze Werth, fürchtete sich. Gab es denn das?

Sie faßte die Zügel fester, ließ die Peitsche durch die Luft pfeifen und schnalzte mit der Zunge. Vorwärts – obwohl das ja wenig Sinn hatte. War ein Reiter hinter ihr, der ihr übelwollte – der Reiter, und sie wußte genau, an wen sie dachte, dann half alles schnellere Fahren nichts. Ein Reiter ist immer der Schnellere. Also, auszureißen hatte keinen Sinn. Anhalten? Ihn herankommen lassen? Ihn stellen?

Waffen würde er nicht haben. Woher wohl! Sie überlegte. Der Wachmann, der mit den Strafgefangenen aufs Feld ging, war immer bewaffnet, er hatte stets seine Dienstpistole bei sich, das wußte sie. Wenn er diesen überrannt und niedergeworfen hatte, konnte er ihm auch die Pistole abgenommen haben. (Es stellte sich später heraus, daß es sich wirklich so zugetragen hatte.) Pölze sah das klar vor Augen, sagte sich aber, die Möglichkeit, daß er keine Waffe hatte, sei genauso groß.

Außerdem: gesetzt den Fall, er hatte eine, warum sollte er sie auf sie richten? Um sich noch schuldiger zu machen und dabei keinen Vorteil zu haben? Soviel Überlegung müßte er eigentlich aufbringen, wenn er nicht ausgesprochen dumm war.

Vielleicht, um ihr Geld abzunehmen? Daß sie etwas bei sich trug, konnte er natürlich annehmen. Eins aber würde er bestimmt wollen, an einem lag ihm unter allen Umständen – an Zivilkleidung. In seinem Strafgefangenanzug hatte er keine Chance durchzukommen. Die Absicht, an Zivilkleidung zu gelangen, konnte ihn dazu treiben, handgreiflich zu werden, milde gesprochen. Daran war nicht zu deuteln. Pölze fühlte ihr Herz sich zusammenziehen, und wieder trieb sie unwillkürlich die Pferde an.

Vielleicht irrte sie sich doch. Vielleicht war da kein Reiter hinter ihr, es hatte nur irgendwo ein Echo gegeben, oder sonst ein Spuk narrte sie. Pölze war nicht umsonst auf dem Lande aufgewachsen, sie wußte, wieviel vorkommen kann, was einem als Spuk oder Bedrohung erscheint und nichts ist als eine Sinnestäuschung ist. Deshalb versuchte sie, ruhig zu bleiben und sich nichts einzubilden, sondern sich dies, was sie alles sekundenschnell, aber sehr deutlich gedacht hatte, auszureden. Würde der Strafgefangene ausgerechnet hier hinter ihr herreiten, wo es doch tausend und einen anderen Weg gab? Würde er sie überfallen wollen, sie, eine Frau, von der er höchstwahrscheinlich nicht einmal passende Kleidung zu erwarten hatte?

So sehr wahrscheinlich war das vielleicht nicht. Wenn er überhaupt wußte, daß sie unterwegs war, und das mußte er wissen, wenn er sie verfolgte –, dann war er auch darüber informiert, daß Bertram ursprünglich mitgefahren war und daß er also Gepäck, sprich Anzüge, im Wagen hatte.

Nun, Pölze Werth, was meinst du dazu?

Deubel auch, mußte ihr das passieren! Pölze fühlte, wie die Angst Herr über sie werden wollte. Einen Augenblick lang fand sie, daß das Leben sie schlecht behandelte: Sie war allein unterwegs, hatte ein kleines Kind im Wagen und ein zweites unter dem Herzen, und es wurde dunkel, ohne daß sie wußte, wo sie war. Genügte das nicht? Hätten nicht Frauen in ihrer Lage jetzt absolut den Anspruch darauf, „nicht weiterzuwissen“ und mitleiderregend in Ohnmacht zu fallen? Vor allem Frauen von früher, die, je zarter und anfälliger sie waren, desto höher im Preise standen?

Pölze fühlte sich versucht, diese Frauen zu beneiden. Aber schon im nächsten Augenblick aber erhob sich ein tapferer Wille in ihr. Sie hatte Zeit ihres Lebens mit einem etwas verächtlichen Mitleid auf solche Frauen herabgesehen und sie nicht für voll genommen. Sich ausreden, ich erwarte ein Kind, ich bin schwach, habt Mitleid mit mir?

Oh, danke. Ich erwarte ein Kind, nun muß ich Mut und Kraft für zwei haben, das klang schon anders! Pölze setzte sich aufrecht hin, drehte die Peitsche in der Hand um, so daß der dickere Kolben, an dem man sie sonst zu halten pflegt, nach oben zeigte und das dünne, schwippende Ende nach unten. Komm nur ran, mein Junge, dann sollst du was erleben! Ohne Gegenwehr bekommst du auch nicht einen Fetzen von Bertrams gutem Anzug, den er tatsächlich eingepackt und mitgenommen hatte, um damit auf Sveas Fest zu prunken.

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