Читать книгу Geschichten vom Pferdehof - Lise Gast - Страница 4
Penny und der Zirkus
ОглавлениеTante Trullala! Tante Trullala! Musch ist gekommen!“ schrie Penny. Tante Trullala, die in der Küche stand, trocknete sich die Hände an der Schürze ab.
„Das kann doch nicht wahr sein! Die Ferien fangen doch erst übermorgen an!“
„Ja, bei uns, aber bei Musch vielleicht eher!“ Sie raste hinaus, drehte sich aber noch einmal um.
„Und weißt du, mit wem sie kommt? Mit Rupert!“ Ja, ich kam mit Rupert. Rupert, unser großer Freund, hatte mich zu Hause abgeholt.
„Musch fährt doch sicherlich in den Herbstferien nach Hohenstaufen, da kann ich sie hinbringen und dort absetzen“, hatte er gesagt, als er Mutter begrüßte. Und als Mutter einwandte, ich hätte noch zwei Tage Schule, bat er sofort: „Bitte, bitte, die darf sie doch blaumachen! Es wäre zu schön, wenn ich sie hinfahren könnte!“
Wer kann Rupert widerstehen?! Ich glaube, niemand. Selbst Vater wickelte er ein, als wir mit unserer Bitte kamen, mich doch bei meiner Klassenlehrerin zu entschuldigen.
Bei der haben wir Englisch, und weil ich in Englisch so miserabel stand, hatte Mutter vor einem Jahr eine wundervolle Idee: Sie nahm sich ein englisches Au-pair-Mädchen, das heißt eine junge Engländerin, die gern Deutsch lernen wollte. Die sollte ihr im Haushalt und bei den jüngeren von uns Geschwistern helfen. Seit einem Jahr ist sie nun bei uns, und ich darf nur englisch mit ihr reden, und sie mit uns nur deutsch. Anfangs ging das überhaupt nicht, aber wir haben uns daran gewöhnt, und dann haben Helen und ich noch etwas erfunden, damit ich nicht nur Englisch sprechen, sondern auch schreiben lernte: Sie diktierte mir die Briefe an ihre Eltern deutsch, und ich schrieb sie englisch. Für jeden Fehler mußte ich ihr fünf Pfennig von meinem Taschengeld zahlen. Da hab’ ich es gelernt. Und nun bin ich in Englisch wirklich gut, hatte einen Zweier im Zeugnis, der nach oben zeigt – einen Einser hat keine von uns –, und bin natürlich bei unserer Lehrerin dicke da. So sagte sie nur: Ja, ja, ob denn die Halsschmerzen schlimm wären, und Vater sagte, man steckte da ja nicht drin, aber sprechen könnte Ursula fast gar nicht und schlucken auch nur schlecht ...
Es hatte an dem Tag dicke weiße Bohnen gegeben, die rutschen bei mir überhaupt nicht, auch wenn ich putzgesund bin. Also! Ich bekam die zwei Tage frei und durfte mit Rupert nach Hohenstaufen fahren, wo ich jede Ferien bin. Diese Freude!
Rupert ist unser Freund, Pennys und meiner. Er hat uns Reitstunden gegeben und ist mit uns kutschiert, und ein geborgtes Lama, das wir damals hatten, hat ihn einmal furchtbar vollgespuckt; und ein anderes Mal hat er uns gerettet, als wir uns Silvester im Schneesturm verlaufen hatten. Er ist schon alt, bestimmt über zwanzig, aber er kann wunderbar lustig sein und Dummheiten machen und vor allem den Mund halten, wenn was los ist, was die Erwachsenen nicht gerade hören müssen.
Insofern ist er wirklich prima, denn die älteren Leute petzen doch früher oder später – na, er also nicht. Diesmal kam er überraschend zu uns, als er mich abholen wollte, und ich erkannte ihn erst gar nicht, das wird mir Penny niemals glauben. Er trug eine sehr schöne Jeansjacke mit silbernen Nieten und dazu verblichene Hosen, beides wunderbar, aber ...
Ja, er hatte lange Locken. Dunkle Locken, die ihm bis auf die Schultern fielen und das Gesicht einrahmten, und eine riesengroße schwarze Brille. Wie er so dastand und ich ihm die Etagentür aufmachte, wußte ich wahrhaftig nicht, wer es war.
„Was möchten Sie?“ fragte ich deshalb, und er sagte mit verstellter Stimme: „Sie abholen, gnädiges Fräulein.“
Ich hätte ihm beinahe einen Vogel gezeigt. Aber ich dachte eben, es wäre ein Fremder, und so sagte ich nur: „Verzeihung, ich hole meine Mutter.“
Wir waren gerade beim Essen, und Mutter kam sowieso über den Flur, um was zu holen, Salz oder was weiß ich, und sie fragte genau wie ich, was er wolle. Da nahm er die schwarze Brille ab und rief: „April April!“, obwohl doch Ende September war, aber da erkannten wir ihn im selben Augenblick.
„Rupert, nein, wie schön, kommen Sie herein!“ rief Mutter, und er kam herein und nahm Mutter in den Arm und drückte sie – das hatte er sonst nie getan.
„Nanu?“ staunte die Mutter, aber er sagte: „Bitte, draußen steht es ja“, und wir wußten zunächst beide nicht, was er meinte. Er zeigte es uns.
Die Klingel an unserer Flurtür geht manchmal nicht, und da hatte Til, mein ältester Bruder – er ist aber jünger als ich –, einen Zettel angemacht: „Kräftig drücken!“
„Bitte, das hab’ ich also getan. Und nun kommst du dran, Musch“, sagte Rupert und wollte mich mit seinen langen Armen umschlingen, aber ich riß aus.
„Nein!“ schrie ich und flüchtete in die Ecke des Flures. Rupert tat, als wäre er sehr traurig darüber.
„Liebst du mich nicht mehr? Dabei bin ich doch dein Blutsbruder!“
„Ja, das schon. Aber ...“
„Na, was denn?“ fragte er. Es war nicht sehr hell im Flur, sonst hätte ich an seinen Augen schon gesehen, daß er Spaß machte. „Was stört dich denn?“
„Stören – es ist mir nur so fremd. Damals hattest du noch keine ...“ Ich verstummte. Sicherlich fand er seine Locken sehr schön. Das finden alle, die sich welche wachsen lassen, ob es nun Mode ist oder nicht. Man muß sich ja nicht immer nach der Mode richten ...
„Ach so. Ich verstehe. Du liebst mich nur als kurzgeschorenen Schafbock nach der Schur“, sagte er und stellte sich betrübt. „Da muß ich also unters Messer.“
„Aber ...“, stotterte ich. Ich fand es wirklich scheußlich, aber das konnte ich doch nicht sagen. In diesem Augenblick machte Vater die Wohnzimmertür auf, und die schräge Herbstsonne fiel direkt auf Rupert.
„Für dich tu’ ich alles“, sagte er, griff nach seinem Kopf und nahm – ich dachte, ich seh’ nicht recht – die ganze Lockenpracht herunter wie eine Mütze. Darunter kamen seine richtigen Haare zutage – er hat gar nicht schwarze, sondern rotbraune, eine sehr hübsche Farbe –, und die dunkle Lockenpracht war nur eine Perücke gewesen.
Wir lachten alle, Vater und Mutter und ich und Til und die Zwillinge, die jetzt aus dem Wohnzimmer kamen; und der Kleine, der im hohen Stühlchen am Tisch saß, krähte auch, als ob er es verstünde, vergnügt und übermütig, und haute mit seinem Löffel ins Apfelmus, daß es spritzte. So führte sich Rupert diesmal bei uns ein, und das fand ich wieder herrlich und ganz so, wie er immer ist. Es wurde sofort ein Stuhl für ihn geholt und zwischen unsere an den Tisch geschoben, und Rupert mußte mitessen, was er mit Vergnügen tat.
„Denn ich komme weit, weit her“, sagte er und nannte die nächste Stadt, die ungefähr fünfunddreißig Kilometer von uns entfernt ist, aber er tat, als sei es Südafrika gewesen, „und ich will noch weit, noch weiter sogar, bis Hohenstaufen, und dort eine alte Freundin von mir besuchen, die heißt Penny ...“
Na, da wußte ich, was er vorhatte, und die Eltern merkten es natürlich auch. Aber, wie gesagt, Rupert widersteht niemand, und so durfte ich mit. Und jetzt waren wir in Hohenstaufen angekommen, bei Tante Trullala und Onkel Albrecht, dem Töpfermeister und Ofenbauer, und wundervolle Ferien lagen vor uns beiden, vor Penny, meiner allerallerbesten Freundin, und mir. Auch Bella, meine Hündin, war mitgekommen, das ging im Auto besser als mit der Bahn, und hatte Boss begrüßt, Pennys Hund; sie sind aus demselben Zwinger und kennen sich natürlich, denn Bella verlebt alle Ferien mit mir in Hohenstaufen. Sie sind Eskimohunde, schwarz mit einem weißen Streifen ums Maul, groß und zottig. Tante und Onkel haben noch einen anderen Hund, einen Schäferhund. Der ist schon älter. Und dann haben sie noch Katzen und Schafe und Streifenhörnchen – ach, jedes Jahr noch etwas anderes dazu, sie können nicht genug Tiere halten. Deshalb bin ich eben auch so sehr gern dort, aber auch wegen Penny und natürlich wegen Tante Trullala, die ich sehr liebe. Hohenstaufen ist sozusagen meine zweite Heimat.
Erst einmal ging es, wie immer, wenn ich angekommen war, durch das ganze Haus, um alles zu begrüßen und wiederzusehen. Alle Zimmer, die gemütliche Küche, die Veranda und die Schafe, der Hund, die Streifenhörnchen. Die sind in der Werkstatt. Dort bin ich immer gern gewesen, und hier wartete dieses Jahr eine Überraschung auf mich. Onkels Haus liegt am Hang, es hat also auf der Rückseite ein Stockwerk mehr als oben an der Straße. Und dort ist die Werkstatt. Bisher war sie gleichzeitig eine Art Abstellraum gewesen, wo sich alles sammelte, was man noch braucht, aber im Augenblick wegstellen will: Säge und Hämmer und Bohrmaschine und Töpfe, halb voll mit Farbe, Pinsel, Eimer. „Kruscht“ nennt man das hier im schönen Schwabenland. An der Wand hing der Käfig mit den Streifenhörnchen, wegen denen kam ich hauptsächlich herunter. Und da staunte ich sehr!
Die beiden ineinandergehenden Räume waren wundervoll aufgeräumt, sie sind niedrig und die Fenster überwuchert von wildem Wein, so daß sie bisher immer etwas dunkel wirkten. Jetzt aber war der Wein zurückgeschnitten, die Fenster geputzt, und darin ...
Ja, darin befand sich eine wunderschöne kleine Wohnung. Die Wände nicht mit Tapeten zugeklebt, sondern mit Holz getäfelt; das hatte Penny gemacht, wie sie mir sofort erzählte, es ginge ganz leicht, man stecke ein Holz ins andere und nagele es an die Wand, von unten angefangen bis an die Decke hinauf. Nut und Feder heiße das, und es gäbe es in verschiedenen Holzarten. Dies hier war Fichte, und es hatte eine herrliche Maserung und lauter Aststellen, das sah so richtig natürlich aus. Und eingerichtet waren die Stübchen! Einfach entzückend. In einem standen zwei Betten übereinander, sie gingen gerade hinein, und Penny sagte, wenn man im oberen läge, könnte man sich eben umdrehen, ohne mit der Hüfte oben anzustoßen. Dafür konnte man von unten her mit den Füßen die obere Matratze hochstemmen, um den, der oben liegt, zu ärgern.
Die Betten waren rotkariert überzogen, und an jedem Kopfende war eine Lampe aus Sperrholz befestigt.
„Damit wir vor dem Einschlafen lesen können“, erklärte Penny atemlos, „und hier ...“
Ja hier! Das zweite Zimmer war auch goldig eingerichtet, mit einer zweigeteilten Bank in der einen Ecke unter dem Fenster und einem Tisch davor. Gerade schien die Sonne herein, und auf dem Tisch stand ein wunderschöner Strauß von Georginen, rot und orange. An den Wänden waren Bücherregale.
„Hier können wir wohnen. Das ist unsere Wohnung, deine und meine, weil doch mein Vater auch ein Zimmer braucht, wenn er da ist.“
Pennys Vater, ihre Mutter lebt nicht mehr, ist Künstler, ein Zauberkünstler, und meistens auf Reisen, deshalb hat Tante Trullala ihm ein Zimmer eingeräumt, in dem er wohnen kann, wenn er von seinen Tourneen, wie es heißt, zurückkommt.
„Und wir dürfen immer hier wohnen, wenn du da bist, und wenn du nicht da bist, wohne ich auch hier, und wir räumen alles selber auf, und duschen können wir nebenan in der Waschküche ...“
„Hach! Weißt du noch? Wo Rupert sich abschwemmte, als die Lydia ihn angespuckt hatte?“ Wir lachten. Im selben Moment kam Rupert herein.
„Ich hab’ euch im ganzen Haus gesucht. Tante hat Kaffee gekocht. Hier wohnt ihr jetzt? Nein, ist das wunderbar!“
Er stieß sofort mit dem Schädel an die Lampe, die natürlich sehr tief hängt, weil die Decke so niedrig ist.
„Autsch, na, wachst nur nicht so schnell, sonst müßt ihr in eurer neuen Wohnung auf allen vieren aus und ein gehen!“
Das hätte uns nicht gestört. Wir fanden beide, daß es keine schönere Wohnung geben könnte als unsere. Zu den zwei Zimmerchen kam nämlich noch was dazu: Hinter dem Haus, also mit dem Blick ins Tal hinunter, war ein überdachter Raum, weil das Haus dort etwas eingerückt ist, und da hatte Onkel Albrecht eine Bank hingestellt, aus einem halben Baumstamm geschnitten, und einen Tisch davor mit einer sehr dicken Platte. Dort konnte man auch sitzen und hinübersehen über das Tal, bis zu der Stelle, wo die Straße von Göppingen her aus dem Wald herauskommt. Dort hält Onkel Albrecht immer an, wenn er Besuch vom Bahnhof holt, und winkt zum Haus hinauf, und wer daheim ist, winkt vom Balkon zurück, am liebsten mit einer Tischdecke oder einem großen Bettuch. Das konnte man auch von hier aus.
„Hier hab’ ich Schularbeiten gemacht, den ganzen Sommer durch“, erklärte Penny voller Eifer – sie ist immer voller Eifer und atemlos, ein Mensch mit Tempo, und ich mußte lachen.
„Den ganzen Sommer durch ...“ Der halbe Sommer besteht ja aus Ferien, und da war ich hier, und die Werkstatt war noch der alte Abstellraum von früher.
„Jetzt heißt er Pennyheim, sagt Onkel Albrecht, aber das gefällt mir nicht“, erklärte sie. „Wir müssen uns einen neuen Namen ausdenken, denn dir gehört ja die Wohnung auch. Und die Hunde ...“
„Die Pennymuschbellaboßgesellschaftsiedlung“, schlug Rupert vor, „das ist kurz und genau und spricht sich ...“
„Wunderbar“, sagte Onkel Albrecht, der jetzt hereinkam, um zu sehen, wie es mir gefiele. „Vor allem ist es kurz. Es klingt aber eigentlich mehr wie ein Fluch, finde ich. So wie Himmelkreuzdonnerwetterkannillekasten noch mal, also ...
„Dann kürzen wir es eben ab. Von jedem von euch darf eine Silbe drin vorkommen“, sagte Rupert. Er hatte sich auf die Eckbank gesetzt und rauchte eine Zigarette. „‚Pemubelbo‘, ist das nichts? Sagt es mal nach!“
Und damit hatte er wieder mal ins Schwarze getroffen. Penny hatte sogleich ein Stück Pappe in der Hand und fing an, sie zu bemalen. Oben kam Pemubelbo hin, in großen Blockbuchstaben, und darunter zeichnete sie zwei Mädchen, eins mit schwarzem Strubbelhaar, das war sie selbst, und eines blond, das sollte ich sein. Die beiden Hunde kamen in die Mitte. Es wurde sehr schön, und als wir es später wiedersahen – Penny hatte es über die Tür genagelt –, da war noch eine dritte Person dazugemalt, mit Perücke und schwarzer Brille: Rupert.
„Ich gehöre doch auch dazu“, sagte er, als wir ihn zur Rede stellten, „ich will auch mit drauf sein. Bin ich euer Blutsbruder oder nicht?“
„Dann mußt du auch hier schlafen. Auf der Eckbank“, bestimmte Penny, und er probierte es gleich aus, legte sich mit dem Oberkörper auf die eine Bankhälfte und installierte seine langen Beine auf der anderen. „Es geht wunderbar, ich muß aussehen wie eine geknickte Lilie“, sagte er und kämpfte sich ächzend wieder hoch. „So ein Bett habe ich mir immer schon gewünscht.“
Er blieb noch, hatte es also überhaupt nicht so eilig gehabt herzukommen.
„Aber ich wollte dir doch zwei zusätzliche Ferientage herausschinden“, erklärte er, „und außerdem möchte ich auch mal Hohenstaufen-Ferien machen.“
Tante Trullala und Onkel Albrecht waren gleich einverstanden, sie kennen Rupert ja schon von früher, auch seinen Vater, mit dem meine Mutter einmal zur Kur gewesen war. Rupert hat sie und Tante Trullala damals hergefahren, und daraus entstand eine richtige Freundschaft und unsere Blutsbrüderschaft.
Am nächsten Morgen weckte er uns mit Getöse. Immer denkt er sich was anderes aus, um uns zu wecken. Früher einmal hat er eine Trompete genommen und uns damit in die Ohren geblasen. Diesmal haute er mit dem Spaten an die Tür, daß wir dachten, das Haus fiele ein.
„Wir sollen Kartoffeln rausmachen, los, aufstehen!“ rief er. „Und Tante bäckt Pflaumenkuchen dazu! Raus aus den Federn, ihr faules Volk!“
Die beiden Hunde fingen an zu bellen, es war ohrenzerreißend. Aber wir wurden wenigstens munter.
Erst gab es Kaffee in der gemütlichen Wohnstube oben, wo schon ein bißchen geheizt war; das tat richtig wohl nach der kalten Dusche in der Waschküche. Das Tal lag noch im Dunst der Frühe, der langsam in sich zusammensank und einen blaßblauen Himmel freigab.
„Wenn der Nebel hochgeht, kommt er als Regen wieder herunter, wenn er absinkt, wird es schön“, sagte Rupert und stopfte ein Riesenstück Hefezopf mit Butter und Marmelade beklebt in den Mund. „Ihr müßt tüchtig essen, ein zweites Frühstück gibt es nicht. Höchstens eine Zigarette für den Chef.“
„Bist du etwa der Chef?“ fragte Penny frech.
„Wer denn sonst? Natürlich. Tante hat mir den Kartoffelbuddelorden verliehen.“
Das Feld liegt ein Stück vom Haus entfernt, ich wußte, wo. Man geht den Weg, der vom Ort kommt, weiter, nicht zum Freibad hinunter, sondern auf halber Höhe entlang. Und dann ist es gleich links, nicht sehr groß – wenn wir fleißig waren, konnten wir es an einem Vormittag schaffen. Rupert schob die Karre, auf der die Säcke, der Gribbel und die Hacke lagen, und wir hatten jede einen Henkelkorb am Arm.
„Wir machen Kartoffelfeuer!“ sagte Penny, kaum daß wir losgegangen waren. „Das gehört dazu. Hast du Streichhölzer mit, Rupert?“
„Selbstverständlich!“
Es war noch kalt, der Atem rauchte uns vor den Mündern. Hohenstaufen liegt ja hoch.
„Guckt mal, die Spinnweben in den Ecken von den Koppelzäunen, wie die blitzen“, sagte Rupert, und Penny fragte: „Wieso gibt es die nur im September? Immer nur im September!“
Ja, das konnte Rupert uns auch nicht erklären.
Dann ging die Arbeit los. Rupert hob mit dem Gribbel – das ist ein Zwischending zwischen Spaten und Gabel – jede Kartoffelstaude an, schüttelte sie aus, und wir sammelten die heruntergefallenen Kartoffeln in unsere Körbe. Wenn der Korb voll war, schütteten wir ihn aus in die Säcke, die am Rand des Feldes lagen. Natürlich sammelten wir um die Wette, jede wollte mehr haben als die andere. Es waren schöne, helle, gleichmäßige Kartoffeln, man bekam richtig Appetit darauf.
Als der Tau von der Sonne aufgeleckt und es schon etwas warm war, machten wir das Feuer an. Dürres Kartoffelkraut, darunter Papier, das angezündet wurde, und nun mußte eine von uns immer wieder neues Kraut auflegen, damit es nicht ausging und eine Glut entstand. Wir wechselten uns ab.
Unsere Anoraks hatten wir längst ausgezogen und an den Rand des Feldes geworfen, so konnte man sich besser bewegen. Und die Säcke fingen an zu wachsen, sie richteten sich auf, je öfter man einen Korb hineingeleert hatte. Wir wetteten miteinander, ob wir sie alle voll bekämen. Gegen zehn sagte Rupert: „Wir wollen eine kleine Pause machen“, und setzte sich an den Rand der angrenzenden Wiese, um eine Zigarette zu rauchen. Wir rannten natürlich zum Feuer und guckten nach, ob die Kartoffeln schon gar wären.
Ja, sie waren fertig. Kohlschwarz sahen sie aus, aber man konnte sie auseinanderbrechen, und da kam das helle Fleisch zutage. Nur das Salz hatten wir vergessen, das war schade.
„Einer von uns muß es holen, sonst schmecken die Kartoffeln nur halb so gut“, sagte Rupert, und wir zählten ab, „Ich und du, Müllers Kuh, Müllers Esel, der bist du!“ Es traf mich. So eine Gemeinheit!
„Ich bin aber gleich wieder da, und da machen wir noch weiter Pause, verstanden? Und daß ihr mir nichts wegfreßt!“ sagte ich. Und dann rannte ich, so schnell ich konnte, den Weg entlang.
Aber schon auf halber Strecke sah ich jemanden mir entgegenkommen – Tante Trullala. Sie trug eine Thermosflasche mit Kaffee und einen Stapel Pflaumenkuchen, und als ich sie erkannte, lachte sie und sagte: „Ihr habt natürlich wieder das Salz vergessen, stimmt’s?“
Da mußte ich lachen. Wir hatten es nämlich schon zurechtgestellt gehabt, und das hatte sie gesehen. Ich nahm ihr die Hälfte ihrer Last ab, und miteinander wanderten wir dem Felde zu. Dort setzte sie sich zu uns, und wir schmausten. Dabei erzählte sie.
Tante Trullala weiß immer etwas Neues: Wo in Hohenstaufen ein Kind geboren ist oder Zwillingskälber oder wo jemand krank ist oder Besuch hat oder verreist. Diesmal wußte sie etwas ganz Tolles.
„Stellt euch vor, ein Zirkus kommt! Ein kleiner Wanderzirkus, der aus einer einzigen Familie besteht. Da ist der Vater ...“
„... der Elefant“, fiel Rupert im gleichen Tonfall ein. Er muß immer solche Späße machen.
„Quatsch, einen Elefanten haben sie natürlich nicht. Aber Pferde – oder doch wenigstens Ponys. Und eine Tochter ist ein Schlangenmensch, und eine tanzt auf dem Seil, und ein Bruder ist der Clown, und sogar die Kleinsten, die noch nicht in die Schule gehen, treten mit auf.“
Wir fragten und fragten, während wir erst Kartoffeln mit Salz aßen, bis die alle waren, und dann Pflaumenkuchen, der noch warm war, direkt aus dem Rohr. Wir betropften uns mit Saft und leckten ihn weg, und der Kaffee aus der Thermosflasche schmeckte süß und gut.
Als Tante Trullala dann ging, machten wir uns erneut an die Arbeit. Dabei sprachen wir natürlich vom Zirkus.
„Das muß doch herrlich sein, so herumzuziehen, überall für ein paar Tage das Zelt aufzustellen und dann wieder weiterzuwandern“, sagte Rupert.
„Und nie in die Schule zu müssen“, sagte ich.
„Die Zirkuskinder müssen aber auch in die Schule“, sagte Rupert. „Dort, wo sie ein paar Tage lang sind, gehen sie in die Klassen, in die sie altersmäßig gerade hineinpassen. Vielleicht kommen welche zu Penny. Da kannst du sie kennenlernen.“
Pennys Ferien hatten nämlich schon eher angefangen als meine, und sie würde die letzte Woche, die ich hier war, wieder zur Schule gehen müssen. Wenn sie da also die Zirkuskinder kennenlernte, war das doch ein Trost, fand ich.
„Du mußt sie dann aber auch mal mitbringen, damit ich sie auch kennenlerne“, sagte ich, und Penny versprach es. Gleich darauf schrie sie laut.
„Was ist denn?“ fragte Rupert, warf den Gribbel weg und sprang mit ein paar langen Sätzen zu ihr.
„Eine Schlange, eine Schlange! Huh, ob das eine giftige ist?“
Ich rannte auch hin. Nein, das war bestimmt keine Kreuzotter. Silberweiß und glatt, ohne einen Zickzackstreifen auf dem Rücken – wahrscheinlich eine Ringelnatter. Rupert nahm sie in die Hand. Sie wand und drehte sich. Wir gruselten uns und quiekten, wenn er uns damit nahe kam.
„Sie tut euch doch nichts! Sie ist harmlos und bestimmt nicht giftig“, sagte er und hielt sie dann so, daß sie nicht wegkonnte, aber daß es ihr auch nicht weh tat, behutsam, aber fest. „Seht doch, wie schön silbern sie glänzt! Wollt ihr sie nicht mal anfassen?“
Wir tupften mit Überwindung dran. Kühl und glatt, merkwürdig fremd. Andere Tiere sind einem gleich viel vertrauter.
„Wahrscheinlich, weil sie Fell haben“, sagte Rupert und ließ die Schlange wieder ins Gras hinunter. Sie ringelte sich und schlängelte sich um die Halme und Grasbuckel und war im Nu verschwunden. Rupert lachte vor sich hin.
„An was dachtest du gerade?“ fragte Penny verschmitzt. „Du hast ein Gesicht gemacht ...“
„An eine schöne Schlangengeschichte, jawohl“, sagte er und lachte nun richtig. „Wenn ihr fleißig seid und nicht aufhört zu sammeln, erzähl’ ich sie euch.“
Wir versprachen das Beste. Das Feld war jetzt soweit abgeerntet, aber wir mußten es noch einmal Schritt für Schritt abgehen. Rupert hatte die Hacke, mit der er von rechts und links noch mal jede Stelle durchhackte, wo eine Staude gestanden hatte, und wir lasen die Kartoffeln auf, die noch zum Vorschein kamen. Das war nicht so mühsam wie das eigentliche Sammeln, wo die Kartoffeln nur so purzelten, aber das Feld mußte ja sauber abgeerntet sein.
Dabei konnte Rupert jedoch schön erzählen.
„Wir waren auf einer Hütte“, sagte er, „im Sommer, nicht zum Schilaufen. Eine ganz lustige Bande, Männlein und Weiblein. Diese Hütte liegt nicht allzu hoch, und wir haben dort oben schon viel gefeiert, gesungen, auch getanzt. Wer hinaufkam, war meistens nett und vergnügt, andere Leute hab’ ich dort eigentlich nicht erlebt. Nur einmal kam eine Dame mit, die war etwas ‚foin‘“, Rupert machte einen ganz kleinen Mund, einen runden, drolligen, als er dieses Wort aussprach, das sah sehr komisch aus, „die fand an allem etwas auszusetzen. Die Tassen waren ihr zu dick, und der Kaffee zu dünn, und frische Brötchen bekam sie nicht zum Frühstück – woher sollte man denn, bitte sehr, auf einer Hütte frische Brötchen nehmen! – Vor allem aber regte sie sich furchtbar über das Klo auf, das diese Hütte hatte.
Wir fanden gerade das sehr schön. Es lag vielleicht fünfzig Schritte hinter der Hütte im Wald ziemlich versteckt in dichtem Gebüsch, und es hatte keine Tür. Ob es nie eine gehabt hatte oder ob sie irgendwann jemand stahl, weiß ich nicht. Jedenfalls gab es eine Vorrichtung, die bewirkte, daß keiner kam, wenn man gerade auf dem Thron hockte, denn das hat niemand gern, auch wenn man im ganzen Leben nicht so ‚foin‘ ist wie diese Dame. Man mußte an einer seitlich angebrachten Schnur ziehen, und da stieg über dem Gebüsch ein Wimpel auf, der bedeutete: besetzt. War man dann fertig und ging, so machte man die Schnur wieder los, und der Wimpel verschwand. Dann konnte der nächste kommen.
Wir hatten das immer sehr lustig gefunden, aber die Dame mokierte sich darüber und fand, es müßte auch im Haus ein Klo geben. Ich studierte um diese Zeit gerade in München, und dort gibt es, gleich hinter dem Deutschen Museum, einen Laden, darin kann man lauter komische und verrückte Dinge kaufen: Tinte, die erst riesengroße Flecke macht, so daß die Hausfrau erschrickt, und dann wieder ganz verschwindet. Nasen und Ohren aus Plastik. Weingläser, in denen eine rote Flüssigkeit ist, aber wenn man trinken will, kommt nichts, weil das Glas doppelt ist, ohne daß man es sieht. Und Zuckerstückchen, aus denen, wenn sie sich im Kaffee auflösen, Maden herauskommen oder Spinnen oder Fliegen, die dann in der Kaffeetasse schwimmen. Na, lauter solches Zeug. Dort hatte ich mir eine Schlangenfamilie aus Gummi gekauft.
Sie sahen natürlich aus wie Kreuzottern, grau, mit Streifen auf dem Rükken, wie Musch sie beschrieben hat. Zwei größere und ein paar kleine. Man konnte sie verbiegen, sie um sich selbst ringeln, und wenn man sie dann hinlegte, bogen sie sich mehr oder weniger langsam zurück, und das sah aus, als wären sie lebendig und bewegten sich. Die hatte ich mit auf der Hütte, und als die Dame wieder über das Klo schimpfte, kam mir eine Idee. Ich verbündete mich mit dem Hüttenwirt, der sofort einverstanden war.
Aus irgendwelchen Beständen brachte er ein Brett zum Vorschein, das so ein großes Loch hatte, wie man es bei Plumpsklos gewöhnt ist. Das montierte er in einer sehr schmalen Kammer an der hinteren Wand so an, daß man glauben konnte, es wäre ein richtiger Klositz. Dann hängten wir noch eine Papierrolle an die Seite, und die Tür bekam von innen einen Riegel, so daß man sie versperren konnte. Jetzt aber kam die Hauptsache: Unter das ausgesägte Loch stellten wir einen runden Korb, in den kam Torfmull. Und dort hinein legte ich meine Schlangen, den runden Deckel drüber.
Nun bewegten die sich ja nur, wenn man sie kurz vorher verdrehte. Ich lauerte also am anderen Morgen, bis die Dame erschien. Der Hüttenwirt trat zu ihr und sagte ihr halblaut und mit geheimnisvoll freundlicher Miene, sie brauchte nun nicht mehr in das Naturklo zu wandern, sondern für sie gäbe es ein besonderes, gerade erst gebaut. Sie dürfte es aber niemandem verraten, alle anderen Gäste müßten weiterhin wandern. Sie war sehr gerührt und bedankte sich, und ich lauerte nun mit meiner Schlangenfamilie. Nach dem Frühstück, ehe der große Wanderaufbruch kam, würde sie höchstwahrscheinlich ihre Pilgerfahrt antreten, so kombinierte ich, rollte meine Schlangen ein und legte sie in den Torfmullkorb, rannte hinaus und harrte der Dinge, die da kommen würden.
Und sie kamen. Das heißt, sie, die Dame, kam. Ich sah sie, hinter einem Schrank hervorlugend, herankommen, die Tür öffnen, den Riegel besichtigen und dann in die Kammer hineingehen. Und dann holte ich schnell meine Freunde, damit sie auch etwas Lustiges erleben konnten.
Es klappte wundervoll.
Kaum waren wir alle im Flur versammelt, da ertönte ein fürchterlicher Schrei, das heißt nicht einer, sondern einer nach dem anderen. Man hörte den hölzernen Deckel poltern, und dann riß jemand an der Tür, als wollte er sie aus dem Rahmen wuchten. Die Dame hatte vergessen, daß sie mit dem stabilen Riegel, über den sie sich erst gefreut hatte, selbst zugesperrt hatte, und riß und riß und schrie dabei ... es war zum Schreien.
‚Was ist denn los? Was ist Ihnen denn passiert?‘ rief schließlich einer von uns. ‚Wieso können Sie denn nicht raus?‘
Doch dann besann sie sich schließlich und machte den Haken auf, und dann rannte und rannte sie, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her.
Später hat sie sich dann dem Hüttenwirt anvertraut, was für eine schaurige Geschichte sie erlebt und in welcher Lebensgefahr sie geschwebt habe, und er hatte die größten Schwierigkeiten, nicht herauszuplatzen. Schlangen, ja, die bevorzugten geschützte Stellen, wo sie mit ihrer Brut hausten, und es wäre schon mehrfach vorgekommen, daß man sie im Heu oder Torfmull fände.
Das WC draußen – er sagte WC auf die ‚foinste‘ Weise – wäre hingegen von Schlangen noch nie als Nest gebraucht worden. Dies sei unter anderm der Grund, daß er dieses Häuschen im Gebüsch gebaut habe.“
„Und die Dame?“ fragte ich.
„Die ist bald abgereist und nie wieder erschienen, sie geht jetzt wohl in teurere Hotels“, sagte Rupert, „da paßt sie auch besser hin. Und ...“
„Hast du die Schlangen noch?“ fragte Penny mit funkelnden Augen. „Da könnten wir doch ...“
„... sie Onkel Albrecht oder Tante Trullala unterjubeln? Du bist ein Gemütsmensch, ein Goldherzchen. Nein, ich habe sie nicht mehr“, sagte Rupert, „ich habe sie dem Hüttenwirt geschenkt, falls er wieder jemanden da hat, der nicht gern ins Gebüsch geht. Aber wenn ich wieder in München bin, bring’ ich euch aus diesem Geschäft was mit. Einverstanden?“
„O ja! Aber noch besser wäre, du nähmst uns mit nach München in das Geschäft, denn sicherlich gibt es dort noch viel mehr Lustiges, was du noch gar nicht gesehen hast, und jeder Mensch hat doch einen anderen Geschmack“, meinte ich.
„Ich mit euch in München, das wäre was“, sagte Rupert, „und dann auf die Wies’n. Die Oktoberwiese, die bekanntlich im September stattfindet. Backhendln essen und Geisterbahn fahren. Und dann gibt es dort einen Turm, da muß man sich oben auf einen Fußabtreter setzen und fährt dann wie in einem hohlen Korkenzieher runter, immer rundum, und schnell! Das macht Spaß! Manche Leute können hinterher überhaupt nicht mehr gehen, sie schwanken und wackeln wie Betrunkene – es gibt übrigens auch richtige Betrunkene dort, die sind weniger schön, aber auch oft sehr komisch –, und Kettenkarussells gibt es und die Raketenreise auf den Mond.“
„Ach was, jetzt haben wir einen Zirkus hier, da brauchen wir gar nicht nach München“, erinnerte sich Penny wieder. „Kommt schnell, wir müssen hin, vielleicht können wir helfen und kriegen dafür Freikarten!“
Wir waren fertig und warfen Gribbel und Hacke und Körbe auf die Karre; die Kartoffeln würde Onkel Albrecht später mit einem Gespann holen. Nur für eine Mahlzeit nahmen wir neue Kartoffeln mit, einen Henkelkorb voll, denn heute sollte es frische Pellkartoffeln mit Butter geben, das allerschönste Essen, das der Herbst einem schenken kann.
Wir zogen los, die Hunde sprangen in langen Sätzen voran. Sie sind immer froh, wenn sie wieder beisammen sind, genau wie Penny und ich. Ich habe zu Hause vier Brüder, Til und die Zwillinge Ralf und Roland und dann noch den Kleinsten, aber so gut wie mit Penny versteh’ ich mich mit keinem. Penny ist meine Beinaheschwester und meine allerbeste Freundin.
„Wir sind fertig – wo ist der Zirkus?“ fragte Penny sofort, als wir heimkamen. Tante Trullala hatte sich bereits erkundigt, denn sie kennt ihre liebe kleine Pflegetochter.
„Er ist da. Aber aufgebaut hat er noch nicht. Er hat noch keine Erlaubnis für einen bestimmten Platz. Der Bürgermeister muß erst mit den Leuten beraten, denn der Platz muß ja eben sein, und hier geht es überall bergauf und bergab ...“
Das war insofern ein Glück, als wir dann zu einem Mittagessen kamen. Penny will immer sofort los, wenn sie etwas vorhat, und allein hätte ich sie nicht laufen lassen, das ganz bestimmt nicht. So aber konnten wir sowieso noch nicht hin, und Tante Trullala war es recht; sie denkt immer, wir werden ganz dünn oder verhungern, wenn wir einmal eine Mahlzeit überspringen.
„Das macht nichts, Tante Trullala“, sagen wir dann immer, aber sie bleibt dabei, Essen und Trinken hielte Leib und Seele zusammen, und weil wir nie anders als im Galopp rannten, ginge sowieso alles wieder runter.
So blieben wir also erst mal zu Tisch da. Die Kartoffeln schmeckten wunderbar, man brauchte sie nicht mal zu schälen, so dünn war die Schale, und Tante hatte sie mit Kümmel und Salz gekocht. Hinterher gab es Apfelmus, das nirgends so gut schmeckt wie hier; sie tut nämlich immer eine Quitte mit hinein. Und dann endlich konnten wir losrennen. Onkel Albrecht hatte beim Bürgermeister angerufen, und der gab Bescheid: „Auf dem Platz vor der Spielburg.“ Hurra, das war nicht weit von hier, wir kannten den Platz – wahrhaftig! Dort haben wir mal was erlebt ...
Als wir hinkamen, standen schon ein paar Wagen da, die so ähnlich aussahen wie Möbelwagen, ein Traktor und ein Wagen, der aussah wie ein Campingbus. Ein paar Kinder aus dem Dorf waren auch schon da, und wir standen und guckten. Wir waren wieder mal gerannt, so schnell wir konnten, und stoppten nun ab.
Zwei Männer bauten das Zelt auf. Sie rammten ringsherum Pfosten ein; dabei konnten wir nicht helfen, so wenigstens dachte ich. Penny war sofort bei dem einen und hielt den Pfosten, während der junge Mann mit dem Vorschlaghammer darauf haute, und so wagte ich es bei dem anderen. Es ging schnell und glatt, natürlich, die Leute haben ja Übung darin.
Als später die Mittelmasten aufgerichtet wurden, halfen auch die Frauen mit, eine ältere und eine jüngere. Wir pirschten uns an den Campingbus heran. Eine Treppe mit drei Stufen war heruntergeklappt, dort hinauf wagten wir uns aber nicht. Wir wollten die Leute um Himmels willen nicht verärgern, aber neugierig waren wir schon.
Die Tür zum Wohnwagen war offen, und man konnte manches erkennen: In einer Ecke einen Tisch und Betten übereinander, alles furchtbar praktisch und auf den kleinsten Raum beschränkt. Ein Mädchen, vielleicht siebzehn Jahre alt, hantierte an einem puppenkleinen Herd. Sie hieß Laila, wie wir später erfuhren, und war die älteste Tochter. Dann gab es noch eine Zahl jüngerer Geschwister, von denen wir die Namen erst später erfuhren.
Hinter dem Wagen waren die Tiere angebunden. Die interessierten uns natürlich am meisten. Wir hatten unsere Hunde vorsorglich zu Hause gelassen, weil wir dachten, sie gingen vielleicht auf die Zirkustiere los. Das war gut. Es gab einen weißen Spitz, der furchtbar kläffte und an seiner Kette zerrte, und dann gab es Pferde. Das heißt, ein Pferd, einen großen, breiten Schimmel, das andere waren Ponys. Der Schimmel kam uns beinahe so groß vor wie ein Elefant. Wir standen neben ihm und begriffen nicht, wie man da hinaufkommt.
Gerade kam Laila, das größere Mädchen, und hörte, daß wir sagten, dazu brauchte man ja direkt eine Leiter, und sie lachte. Sie ist nicht viel größer als wir, aber daß sie älter ist, das merkt man natürlich. Sie trug an diesem Tag die Haare, die ganz wuschelig sind, hinten zusammengebunden, und rechts und links neben dem Mund hatte sie je eine Falte, wie ich sie bei einer Siebzehnjährigen bis dahin noch nie gesehen hatte. Vielleicht hatte sie gerade eine unglückliche Liebe hinter sich oder andere Sorgen ...
Aber uns sprach sie freundlich an.
„Vielleicht mit einer Leiter raufsteigen? Was meint ihr wohl“, sagte sie und lachte ein bißchen, mit einem halb zusammengekniffenen Auge und einem breiten Mund, „geht ganz leicht ohne.“ Und damit trat sie dicht an den Schimmel heran, hob das rechte Bein und stieß sich mit dem linken, auf dem sie jetzt stand, ab – und wahrhaftig, oben war sie! Es sah kinderleicht aus. Uns blieb der Mund offenstehen.
„Darf ich mal probieren?“ fragte Penny sofort, begierig und mit weit aufgerissenen Augen. Ihr widersteht so leicht keiner, wenn sie um etwas bittet, aber Laila lachte.
„Mal, wenn es keiner sieht. Wenn ich euch jetzt probieren lasse, wollen es alle“, sie wies mit der Schulter nach hinten, wo die Dorfkinder sich heranschoben. Das sahen wir selbstverständlich ein.
Wir guckten uns dann noch die Ponys an. Sie standen nebeneinander angebunden, größere und kleinere, die meisten schwarz, ein paar Schwarzschecken dabei, zwei Fohlen – sehr niedlich! – und ein winziger Schimmel. Noch trugen sie das kurze Sommerfell, waren gut gehalten und auch nicht mager. Neben dem letzten stand ein Zwergesel, der ganz besonders süß war! Und dann kam ein Käfig mit einem Bären. Vor dem standen wir lange.
Wo mochte er herstammen? Aus der Wildnis? Wo gab es noch Bären? Sein Fell sah mottenzerfressen aus und abgeschabt, vor allem am Hals, wo er ein Halsband mit einer Kette trug, und seine Äuglein guckten traurig. Oder bildeten wir uns das ein?
„Was frißt der Bär?“ fragte Penny, die ihn gleich trösten wollte.
„Bären sind Allesfresser“, sagte Laila, „Honigbrot, Reis, Kartoffeln, rohe Eier, auch Fleisch.“
„Wir bringen ihm was!“ versprachen wir wie aus einem Munde, „ihm und den Ponys. Was sollen wir denen bringen? Zucker?“
„Himmel, nein, nur nicht zuviel Zucker! Natürlich mögen sie, wie alle Pferde, Zucker furchtbar gern, aber sie dürfen nicht zuviel davon bekommen. Zucker übersäuert den Magen, so komisch das klingt. Könnt ihr ihnen nicht Mohrrüben bringen? Davon bekommen sie nie zuviel, und sie geben ein schönes glattes Fell.“
„Wir holen welche“, versprach Penny sofort. „Komm, Musch, los! Ich weiß was!“
Ich hätte gern noch mal richtig in den Wohnwagen hineingeguckt, aber Penny riß mich mit sich fort. Und der Zirkus würde ja wohl eine Weile bleiben, da konnte ich mir das noch aufsparen. Wir rannten über die Höhe, die zwischen dem Dorf und der Spielburg liegt, und quer über das Stoppelfeld hinunter. Das kann man im Herbst, sonst muß man auf den Wegen bleiben. Penny erzählte während des Rennens, ich verstand nur die Hälfte.
„Nachbarin ... drei Beete voller Mohrrüben ... vorige Woche gesagt ... wohin damit ... kein Mensch mag mehr Mohrrüben ... Karnickel abgeschafft ...“
Als wir schließlich unten ankamen, fragte ich sie noch mal aus. Und dann gingen wir zu der Nachbarin, der der Manderl, das Pferd, das wir einmal in Pension hatten, ein Mohrrübenbeet abgefressen hatte. Penny läutete, und nach einer Weile erschien die Dame auch, in bunter Wickelschürze wie damals; sie sah auch sonst noch genauso aus.
Penny legte gleich los: daß der Zirkus da wäre und die Ponys so gern Mohrrüben fräßen und ob wir nicht – wir würden die Beete hinterher auch wunderschön fertigmachen, umgraben, damit man sie im nächsten Frühjahr wieder bepflanzen könnte ...
„Aber nicht wieder mit Möhren“, sagte die Nachbarin. Das war uns egal, Hauptsache, wir durften jetzt ernten!
Penny sauste auf unser Grundstück und holte die Karre, die wir zum Kartoffelernten benutzt hatten, und setzte den Gribbel an, und ich sammelte die Möhren, die großen und die kleinen, in den Korb. Das ging viel leichter als bei den Kartoffeln, weil die Möhren ja herausgucken, und wir hatten im Handumdrehen ein Beet leer und eine Karre voll. Mit der zogen wir zum Zirkus.
Dort war das Zelt schon aufgebaut. Groß war es nicht, aber drin gab es einen richtigen Manegenrand, der bei allen Zirkussen dasein muß, und in seine Rundung waren Sägespäne gestreut. Wir suchten Laila, fanden sie aber nicht. Da gingen wir zu den Ponys und fütterten erst mal jedem eine Rübe, die wir vorher sorgfältig an der Hose abgewischt hatten. Irene, der der Manderl gehört, hat uns mal erzählt, daß ein Pferd, das immer unabgeputzte Mohrrüben bekam, dreißig Pfund Sand im Magen hatte. Das werde ich nie vergessen. Deshalb putzten wir die Möhren wirklich sehr schön ab und fanden es eigentlich ungerecht, als plötzlich ein kleines Mädchen geschossen kam, etwas älter als wir, und uns anfauchte: „Was macht ihr mit unsern Ponys?“
Ich wollte alles erklären, aber sie schubste uns weg und schrie dabei richtig giftig, und wir konnten gar nichts sagen, bis, gottlob, Laila zufällig dazukam.
„Aber Marfa, das sind zwei nette Mädchen, die haben uns Mohrrüben gebracht!“
„Sie sollen aber nicht füttern – füttern ist verboten!“ keifte die Jüngere. Penny packte mich am Handgelenk.
„Komm, wir gehen. Bis heute abend“, sie blinzelte Laila zu.
Natürlich würden wir heute abend kommen, das ließen wir uns nicht nehmen. Zur Eröffnungsvorstellung!
Wir hätten doch auch jetzt noch bleiben können, maulte ich und ließ mich widerwillig mitziehen. Aber Penny hatte sich bereits einen Plan ausgedacht.
„Sei ruhig, morgen kommen wir sowieso wieder und übermorgen auch. Aber heute ...“
„Wohin willst du denn?“
„Zur Irene. Zum Manderl. Paß auf!“ Ich schob die Karre, und sie trug den Korb. Dabei entwickelte sie ihren Plan.
„Wir gehen zu Irene und üben dort am Manderl so raufzukommen wie Laila auf den Schimmel“, sagte sie.
„Und wenn wir es auf dem Manderl können, dann versuchen wir es am Schimmel und ...“
Ja, das fand ich gut. Wir stellten unser Zeug im Vorgarten ab und trabten durchs Dorf, dem Hof zu, in dem Irene wohnte. Sie war zu Hause, welches Glück! Wir erzählten ihr sofort vom Zirkus und vom Zirkusschimmel und was wir vorhätten.
Sie lachte.
Irene ist schon erwachsen, aber furchtbar nett. So ähnlich wie Rupert, der kann auch noch soviel Quatsch machen. Ich kann Erwachsene gut leiden, die so sind.
Irene ging in den Schuppen und holte das Halfter für den Manderl. Auch einen Gurt trug sie in der Hand, als sie wieder herauskam. Penny rannte voran an den Koppelzaun. Der Manderl stand unter einem Apfelbaum und sah uns entgegen. Er graste nicht, denn viel war nicht mehr auf der Weide – hier und da ein Hälmchen, es war ja Herbst.
„So komm her, alter Schlawiner“, sagte Irene, „hier wollen zwei was lernen. Wenn jemand was lernen will, soll man ihn nicht daran hindern. Paßt auf!“
Sie hatte ihm das Kopfstück angelegt, Gebiß ins Maul, Zügel über den Hals, und schnallte ihm nun den Gurt um, der oben zwei Griffe hatte. Wir sahen gespannt zu.
„Los! Terrab!“ kommandierte sie, und er setzte sich gehorsam in Trab. Irene lief neben ihm her, sagte: „Galopp!“ und wupp war sie oben.
„Wunderbar!“ rief Penny und stieß die Luft aus. „Das möchte ich auch können! Aber Irene hat halt längere Beine als wir und Laila auch ...“
„Denkste! Daran liegt es nicht“, erklärte Irene, die mit dem Manderl angetrabt gekommen war und absprang, „sondern ...“
Und jetzt bekamen wir richtigen Unterricht.
„Ich lass’ den Manderl im Galopp im Kreis laufen,“ sagte sie „und ihr rennt mit, faßt die Griffe und springt auf, genau wie ich.“
Penny und ich sahen einander an. Im Galopp?
„Könnten wir es nicht erst mal im Stehen versuchen oder im Schritt?“ fragte ich schüchtern. Auch Penny war, so mutig wie sie sonst ist, erst mal für Schritt oder Trab. Irene lachte.
„Versucht es doch!“ sagte sie und stellte sich vor den Manderl, ihn rechts und links am Backenstück haltend. Los, hopp!
Erst versuchte ich es so, wie Laila es gemacht hatte. Rechter Fuß hoch, linker stößt ab – nicht die Hälfte kam ich hinauf. Penny ebenso. Sie ist ja etwas kleiner als ich. Irene lachte und lachte.
„Übrigens, so wie ihr denken die meisten“, gestand sie uns schließlich. „Und so richtig erklären, warum es im Galopp leichter ist als im Trab, kann ich auch nicht. Irgendwie zieht einen das Pferd eben nicht nur vorwärts, sondern auch hinauf. Nun paßt auf, jetzt üben wir. Ich lass’ den Manderl rundum im Kreis laufen, und ihr lauft mit. Erst mal Musch, du bist die Größere. Kommt mal beide mit in den Kreis, ich ruf’ dann: ‚Los, hopp!“‘
Wir gehorchten. Sie ließ den Manderl laufen, erst im Trab, dann sagte sie: „Ga-lopp!“, und ruhig wie ein Schaukelpferd begann er zu galoppieren. Man denkt immer, Galopp müßte ganz schnell gehen, aber das stimmt nicht. Der Manderl schaukelte so gleichmäßig rundum, gar nicht schnell, und als Irene rief: „Los, hopp, Musch!“, rannte ich ihm nach. Das war schon der erste Fehler.
„Halt, Musch. Nicht hinterherrennen! Damit machst du dich schon vorher kaputt. Du mußt an der Longe entlanglaufen.“ Sie deutete auf die Leine, die sie in der Hand hielt. „Damit du vorn am Pferdekopf ankommst. Noch mal hierher. Also ...“
Ich ging zu ihr in den Kreis, sie ließ den Manderl wieder galoppieren, und zu mir sagte sie noch schnell: „Du mußt eine Weile neben ihm her im gleichen Takt laufen, richtig mitgaloppieren ...“
Ich rannte. Langte beim Manderl an, versuchte, meine Beine in den gleichen Takt zu bekommen, Ga-lopp – Ga-lopp – und faßte dann, wie ich es bei Irene beobachtet hatte, den Griff oben am Gurt. „Und – hopp!“ hörte ich Irene rufen, und da sprang ich. Wirklich, es riß mich hoch, zu meinem grenzenlosen Erstaunen saß ich plötzlich tatsächlich auf dem Pferd.
Der Manderl galoppierte weiter, auf, ab, wie ein Schaukelstuhl, also wunderbar.
„Bravo!“ rief Irene und lachte, und Penny hopste und tanzte und schrie: „Jetzt ich! Jetzt ich!“
„Erst muß Musch runter. Achtung, Musch, schlag das rechte Bein vorn über den Pferdehals nach links, so hoch, daß du nicht hängenbleibst, so hoch du kannst, und gestreckt – damit kommst du in den Damensattel ...“
Ich gehorchte platzend vor Eifer, und bums, saß ich auf der Wiese, innerhalb des Kreises, den der Manderl beschrieb. Ich muß ein entsetzlich dummes Gesicht gemacht haben, denn die beiden anderen bogen sich vor Lachen.
„So hoch brauchtest du das Bein ja nun auch nicht zu schmeißen“, sagte Irene und wischte sich die Lachtränen aus den Augen, „nur nicht hängenbleiben am Hals. Viele Leute steigen auch nach dem Reiten so ab, zum Beispiel ich. Man soll es aber eigentlich nicht. Denn irgendwann trägt man doch vielleicht Sporen – bei manchen Pferden ist das nötig und in keinster Weise Tierquälerei, wie viele denken –, und das Pferd hebt gerade den Kopf, und man bleibt hängen. Besten Dank, das kann häßlich enden, das Pferd kann auch scheuen, weil man ihm weh tat, und durchgehen. Aber beim Voltigieren springt man so ab, und beim Voltigieren tut man sich auch überhaupt nicht weh, wenn man runterfällt. Das ist ebenso merkwürdig und nicht zu erklären. Nicht wahr, Musch, du hast dir überhaupt nicht weh getan?“
„Überhaupt nicht“, sagte ich, und nun war Penny dran. Sie rannte an der Longe lang auf den Manderl zu, angelte nach den Griffen, stieß sich ab, fiel wieder zurück, hing an einer Hand, wollte wieder in den gleichen Galopp kommen ...
„Kopf runter, Hinterteil hoch!“ rief Irene. Penny mühte und mühte sich, sie war schon ganz außer Atem und japste, und ihre schwarzen Haare flogen. Immer wieder – immer im Kreis.
„Und hopp! Hoch jetzt!“ feuerte Irene an. Penny versuchte es, schaffte es aber nicht.
„Haaaalt!“ kommandierte Irene, und der Manderl fiel in Schritt.
„Jetzt komm erst mal wieder zum Schnaufen“, sagte sie zu Penny, „es ist im Grunde nur ein Trick. Bei Musch war es Zufall, daß es gleich klappte, beim zweitenmal würde es sicher auch danebengehen. Nun paßt mal gut auf, ich werde es euch vormachen. Musch, du nimmst die Longe und läßt den Manderl laufen, und ich mach’ es euch vor.“
Sie gab mir die Leine in die Hand, die beim Manderl am Kopfstück endete. „So, ganz ruhig halten und mit dem Pferd sprechen. Es kennt die Kommandos genau. Erst: ‚Marsch‘, dann geht er im Schritt los. Und dann: ‚Im Arbeitstempo – terrab‘ – dann trabt er, und schließlich: „‚Ga-lopp marsch!‘“
Ich versuchte, es genau in ihrem Tonfall zu sagen. Der Manderl gehorchte, er ist ja die Gutmütigkeit selber. Und als er dann galoppierte, lief Irene an der Longe entlang zu ihm hin, mit ihm mit, rief uns zu: „Guckt, so! Hintern hoch und Kopf runter!“, und oben war sie. Sie machte dann noch ein paar Übungen auf dem Pferderücken, ritt im Damensattel, indem sie das rechte Bein überschlug und eine Runde so sitzen blieb, hob dann das linke Bein rückwärts über die Kruppe und saß verkehrt herum, holte das zweite Bein nach, so daß sie wieder im Damensattel saß – nur daß ihre Beine jetzt außen im Kreis hingen – und schwang zuletzt das linke Bein wieder nach links. Dann ließ sie sich im Galopp immer weiter nach hinten rutschen und glitt zuletzt über Manderls Schweif auf die Erde, ohne hinzufallen. Wir fanden es großartig.
„So, nun kann er eine Weile ausruhen“, bestimmte Irene, machte dem Manderl das Kopfstück ab und ließ ihn laufen, und wir drei warfen uns auf die Erde in die milde Herbstsonne unter einen Apfelbaum und verschnauften auch. Penny hatte zwar keine Ruhe, sie war nicht hinaufgekommen und bettelte und bat, daß sie es nachher noch mal versuchen dürfte. Irene versprach es ihr. Gleich darauf fiel ein Schatten auf uns, und als wir aufblickten, stand Rupert da.
„Na, hier seid ihr Bande! Ich suche euch wie eine Stecknadel“, sagte er und setzte sich auch. „Ich habe mir schon fast die Augen ausgeweint.“ Dabei strahlte er Irene an, als wäre sie es gewesen, die er suchte, und dabei hatte er sie vorher noch gar nicht gekannt.
„Wir waren erst beim Zirkus, und da kamen wir nicht aufs Pferd, deshalb haben wir hier geübt“, erklärte Penny in rasender Eile. Sie spricht ja immer so, daß man denkt, ihre Worte überkugeln sich. „Aber jetzt muß Rupert es auch versuchen, paßt auf, er schafft es nicht!“
„Ich? Ich schaff’ alles!“ sagte Rupert großspurig und lehnte sich behaglich an den Stamm des Baumes, unter dem wir saßen. „Aber jetzt will ich erst mal der Paris sein, der zwischen drei schönen Frauen wählen darf.“
Ich habe zu Hause ein Buch, das „Die Sagen des klassischen Altertums“ heißt, und da wußte ich gleich, was er meinte. Da streiten sich Hera, Aphrodite und Athene darum, wer die Schönste wäre, und Paris, ein Schafhirt, soll es entscheiden und der Schönsten einen Apfel reichen. Dafür sollte er die schönste Frau der Welt bekommen, das war die schöne Helena, und daraus wurde dann der Trojanische Krieg.
„Ein Schafhirt bin ich heute sowieso, ich hab’ nämlich die Schafe einfangen müssen, die waren wieder mal sonstwo, und wer nicht da war und mir suchen half, das waren Musch und Penny“, sagte er strafend. Ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen, aber Penny schrie: „Alles Lüge! Ist nicht wahr! Die Schafe sind heute im Stall, Onkel hat mir extra aufgetragen, daß ich sie heute früh nicht herauslassen sollte. Sie bekommen eine Spritze vom Tierarzt, hat er gesagt, gegen Würmer oder so, aber drin bleiben sollten sie.“
Rupert machte ein dummes Gesicht, und wir anderen lachten schadenfroh. Aber den Paris wollte er trotzdem spielen, er guckte zu dem Apfelbaum hinauf und suchte den schönsten Apfel aus, den er erspähen konnte, und fing an mit Stöckchen und Steinen danach zu werfen. Es ist ziemlich schwer, einen Apfel am Baum zu treffen, und unsere Hunde Bella und Boss, die mit ihm gekommen waren, mißverstanden es, wenn er warf, und dachten, sie sollten die Stöcke oder Steine apportieren. Schließlich gab es Rupert auf und begann, am Baum hochzuklettern. Die unterste Strecke war schwer, nur der dicke, rissige Stamm, aber als er die erste Astgabel erreicht hatte, hatte er gewonnen. Und nun kletterte er immer höher, bis er den schönen Apfel erreicht hatte, um den es ihm ging.
Er pflückte ihn und steckte ihn in die Hosentasche, und dann kletterte er hinunter und sprang zuletzt ab.
„So, jetzt muß ich mir aber ganz genau überlegen, wer ihn kriegt“, sagte er und polierte ihn am Ärmel blank. Dann sah er uns nacheinander an, Irene am längsten. Sie wurde ganz rot.
„Irene ist wunderschön, aber sie hat mich noch nicht auf ihrem Pferd reiten lassen“, sagte er, „und das kann ich ihr nicht verzeihen. Penny ist auch wunderschön, nur kämmt sie sich zu oft. Immer ist sie gestriegelt und geschniegelt ...“ Das Gegenteil war natürlich der Fall. Penny hat die zottligsten Haare, die ich je bei einem Mädchen gesehen habe, und auch als man sie ihr im Krankenhaus mal abschnitt, wuchsen sie wieder zottlig nach. Heute sah sie nach dem Toben mit dem Pferd überhaupt aus wie ein schwarzer Wollknäuel, um den sich zwei junge Katzen gebalgt hatten.
„Und Musch? Musch ist wunderschön, nur leider viel zu dick“, sagte Rupert und machte ein Gesicht, als wäre er sehr traurig. „Ein Fettwanst sozusagen“, und dabei hatte meine Mutter mich diesen letzen Sommer hindurch geradezu gemästet, weil ich kein Gramm zunahm, sondern immer magerer wurde. Sogar mit Lebertran hat sie es versucht, und den kriegt man doch sonst nur im Winter.
„Wem soll ich nun den Apfel geben?“
„Mir!“ riefen wir alle drei. Und streckten die Hände danach aus, und Rupert tat schnell den Apfel hinter den Rücken und trat einen Schritt zurück, damit wir ihn nicht umschubsten. Gleich darauf schrie er laut. Der Manderl war unbemerkt von hinten an ihn herangekommen und hatte ihm den Apfel aus der Hand genommen. Knirsch, knirsch – hörte man, und aus Manderls Maul troff der Saft. Da machte Rupert ein noch dümmeres Gesicht als ich vorhin, nachdem ich vom Pferd gefallen war.
„Nun helft ihr mir noch, die Kühe herauszubringen“, bat Irene, als wir uns einigermaßen wieder beruhigt hatten. „Der Manderl kommt jetzt in den Stall und die Kühe heraus.“
„Machen wir. Stellt euch vor, was mir neulich mit einer Kuh passiert ist“, sagte Rupert. „Es war auf der Fahrt, auf der ich dann Musch abholte. Ich wollte es euch schon lange erzählen, aber bei euch kommt man ja nicht zu Worte. Also ich fuhr, sehnsüchtig nach Musch, nach der mein Herz ja immer schreit, und da stand ein Bäuerlein an der Straße mit einer Kuh am Strick, und der Mann winkte mir, ich sollte anhalten. Na ja, früher hab’ ich auch gewinkt und mich mitnehmen lassen, als ich noch keinen Wagen hatte, und da wäre ich mir schäbig vorgekommen, vorbeizufahren. Aber mit einer Kuh ...
‚Darf ich mitfahren?‘ fragte der Bauer höflich.
‚Gern. Aber was wird aus Ihrer Kuh?‘
‚Die binden wir hinten an. Die kann gut laufen‘, sagte er.
Ich konnte nur den Kopf schütteln. Der Bauer aber war schon hinten am Wagen, band den Strick, der der Kuh um den Hals ging, an die Stoßstange und stieg ein.
‚Kann losgehen‘, sagte er.
Na schön, wenn er meinte? Ich fuhr an, langsam, vorsichtig im ersten Gang. ‚Schneller!‘ sagte mein Mitfahrer und entzündete gemächlich sein Pfeifchen, das zum Himmel stank. Ich nahm den zweiten Gang, fuhr so ungefähr zwanzig. ‚Können Sie nicht schneller? So ungefähr zwanzig‘, fragte der Mann neben mir.
‚Natürlich kann ich‘, sagte ich, schaltete und gab Gas. Der Bauer rauchte, die Kuh rannte. Mir war nicht wohl dabei.
‚Ich hab’ es eilig‘, sagte mein Mitfahrer schließlich. Ich ging auf sechzig. Im Rückspiegel sah ich die Kuh.
‚Hören Sie mal, jetzt quellen ihr schon die Augen aus dem Kopf‘, sagte ich, entschlossen anzuhalten. Ich bin ja nun wirklich kein Tierquäler.
‚Lassen Sie nur. Die setzt nur zum Überholen an‘, sagte das Bäuerlein neben mir gemütlich.“
„Rupert, das ist nicht wahr! Das ist gelogen!“ schrien wir alle drei und fielen über ihn her.
Er rollte sich davon durchs Gras, hielt die Arme vors Gesicht und wimmerte um Gnade.
„Nein, nein, es ist nicht wahr. Es war ...“
„Na?“ fragten wir gespannt, im Prügeln innehaltend.
„Es war ein Ochse ...“
„So. Zur Strafe bist du in einen Kuhfladen gerollt“, sagte Penny befriedigt, „du siehst von hinten aus, als hättest du dich im Spinat gewälzt. Das ist die Strafe Gottes.“
Wir fingen den Manderl ein und holten dann die Rinder. Dabei erzählte Irene: „Vielleicht glaubt ihr mir jetzt auch nicht, aber was ich erzähle, ist wahr. Jedenfalls hab’ ich es in einer Illustrierten gelesen und Fotos davon gesehen. Da haben zwei Bauernmädel, Schwestern, eine siebzehn, die andere zehn, sich zwei Jungrinder zum Reiten dressiert. Wirklich und wahrhaftig, irgendwo in Bayern. Haben sie aufgezäumt, ohne Gebiß allerdings, aber mit Zügel und Nasenriemen, Sättel zurechtgemacht – auf einer Kuh kann man ohne Sattel nicht gut sitzen, auf Eseln ja, das wundert mich immer wieder, denn Esel haben ganz ähnliche Rücken wie Kühe – und sind in den dortigen Reitverein gegangen. Sind mitgeritten, in der Halle, auf dem Platz, nur nicht im Turnier. Sogar gesprungen sind sie, bis zu einem Meter. Ist das nicht toll?“
Wenn Rupert das erzählt hätte, hätten wir es sicherlich nicht geglaubt. Irene aber glaubten wir, so unwahrscheinlich es klang.
„Ich such’ euch die Bilder und den Artikel heraus, ich hab’ mir beides aufgehoben“, versprach sie, als wir uns von ihr verabschiedeten.
„Dürfen wir morgen wieder kommen?“ bettelten wir noch. Irene nickte und winkte uns nach. Wir mußten uns sputen, denn es war ratsam, zum Abendbrot pünktlich zu sein, sonst durften wir womöglich abends nicht in den Zirkus. Und das wollten wir doch auf jeden Fall.
Immer habe ich Herzklopfen, wenn ich auf einen Zirkus zugehe oder auf einen Rummel oder ins Theater, wenn der Gong schlägt und der Vorhang sich bewegt. Immer macht es „Bumm-bumm“ da drin, ein gleichzeitig beklemmendes und herrliches Gefühl. Und immer möchte ich die Zeit anhalten, damit es recht lange dauert, bis es vorbei ist. So auch diesmal.
Das Zelt war erleuchtet, dadurch sah es größer aus, und die Musik spielte schon. So ein kleiner Zirkus hat natürlich kein Orchester, aber einen Plattenspieler hatten sie, und der feuerte herrliche Märsche in die Gegend, die wir schon hörten, als wir auf der Höhe angekommen waren. Auch andere aus dem Dorf kamen, nicht viele, aber immerhin eine ganze Menge mit größeren Kindern. Die Kleinen würden wahrscheinlich in die Nachmittagsvorstellung gehen.
Rupert nahm gute Plätze, ziemlich vorn, dritte Reihe. Ich hatte bis dahin im Zirkus immer sehr weit hinten gesessen, so fünfzehnte Reihe oder noch weiter oben, aber so viele Reihen gab es hier gar nicht. Wir setzten uns und warteten, und dann kam die erste Nummer, der Clown.
Die Clowns kommen sonst immer später, wenn umgeräumt wird, aber hier kam er gleich, mit weißbemaltem Gesicht und einem Riesenmund und Hosen, die immerzu runterrutschten. Wir mußten von Anfang an lachen. Auf dem Kopf trug er ein winziges Hütchen. Er stolperte auf dem Manegenrand entlang und fragte immerzu: „Wo is’n hier der Eingang?“
Seine Hände steckten in riesengroßen weißen Handschuhen, und wenn er sie bewegte, sah das sehr komisch aus. Gleich darauf aber vergaßen wir, ihn anzusehen, denn die Musik wurde rasant, und vier Kinder kamen auf vier Ponys hereingeprescht, alle gleich angezogen. Sie trugen gegürtete Kittel und Pelzmützen und Kosakenstiefel, und sie sausten in der Runde herum, daß man die Beine der Pferdchen gar nicht sehen konnte. Erst saßen sie richtig auf den Rücken ihrer kleinen Pferde, dann zogen sie die Füße herauf und standen auf und hielten sich an einer ganz dünnen Leine, die vorn am Sattel festgemacht war. Aber es ist bestimmt trotzdem schwer, bei diesem Tempo zu stehen. Sie hoben gar einen Arm ganz hoch in die Höhe, alles im Galopp. Der kleinste Reiter – ob Mädchen oder Junge, konnte man nicht erkennen – war sicherlich erst fünf. Dann legten sie sich quer über die Pferderücken und ließen den Oberkörper ganz weit herunterhängen, während sie ein Bein hochspreizten. Mit dem andern hingen sie an einer Schlinge. Diese Haltung heißt Kosakenhang. Wir saßen mit offenen Mündern da und dachten an den Manderl ...
Als die kleinen Kosaken hinausgesaust waren, kam der Zirkusdirektor herein und führte den Bären mit sich. Der Direktor trug einen Frack und einen Zylinder. Der Bär watschelte hinter ihm her.
„Mein Bär versteht jedes Wort“, erklärte er, „passen Sie auf, meine hochverehrten Herrschaften. Also Mischka, sag, wo sind wir hier? In – Hoooooooo-“, er zog das Wort in die Länge, und der Bär richtete sich auf die Hinterbeine auf und hob die vorderen, so hoch es ging –„ -henstaufen“, vollendete sein Herr, und Rupert klatschte wie verrückt, wir Mädchen mit. Da begannen auch die anderen Zuschauer zu klatschen.
„Wir müssen klatschen, das gehört dazu“, sagte Rupert halblaut zu uns, „die armen Kerle arbeiten für den Beifall. Das, was sie an Eintrittskarten verdienen, reicht wahrscheinlich knapp für das Essen und für die Ernährung der Tiere. Was haben sie sonst vom Leben.“
Ich dachte, sie haben allerhand davon. Sie können jeden Tag reiten, sie haben süße Ponys und den großen Schimmel und den Bären und ...
„Jetzt werden Sie staunen, wie geschickt mein Bär ist“, fuhr der Direktor fort. „Komm, Mischka, jetzt wird geradelt.“
Ein Junge hatte ein kleines Fahrrad hereingeschoben, nicht winzig, aber auch nicht normal hoch, auf das stieg der Bär jetzt umständlich, und seltsam würdig packte er die Lenkstange mit beiden Tatzen und setzte wahrhaftig auch die Hintertatzen auf die Pedale. Solange hielt der Direktor das Fahrrad, dann gab er ihm einen kleinen Stoß, der Bär fing an zu treten, und der Direktor ließ ihn los. Der Bär radelte! Es war kein Trick dabei, der Bär konnte wirklich radeln. Wir klatschten solange, bis uns die Hände weh taten.
„Bären sind sehr schwer zu zähmen“, erklärte Rupert halblaut, „sie sind gefährlicher als Löwen. Wenn ein Löwe böse wird und den Dompteur anfallen will, merkt dieser das am Gesicht und am Fauchen. Bei Bären sieht man es nicht, ein Bär sieht immer gemütlich aus. Am gefährlichsten sind Eisbären.“
„Und dieser Bär hier ist auch gefährlich?“ flüsterte Penny, sich dicht an Rupert anlehnend. Der hob ein wenig die Achseln.
„Ich weiß es nicht. Er sieht eigentlich alt und müde aus. Aber Bären können einen Menschen, der keine Waffe bei sich hat, wohl töten. Dann muß man sich ...“
„Ich weiß, ich weiß!“ eiferte Penny, „man muß sich totstellen. Tote beißen sie nicht.“
„So heißt es immer. Aber nein, jetzt wollen wir lieber zugucken, statt zu schwätzen. Paßt auf, jetzt ...“
Jetzt kam der Schimmel. Wie immer, wenn ich Pferde sehe, wird mir ganz heiß in der Brust. Pferde sind für mich etwas anderes, bedeuten mir mehr als andere Tiere. Der Schimmel kam im Schritt herein, dort, wo man aus der Manege ein Stück herausheben kann, das man dann wieder hinstellt. Auf dem Pferd saß Laila. Sie hatte die Haare offen und trug einen silbernen Anzug, um den Hals etwas Flitter, sonst glatt, lange Ärmel, lange Hose, und darunter weiße Stiefelchen. Der Schimmel war wunderbar geputzt, er blinkte und strahlte, trug weder Sattel noch Zügel. Laila hielt in der linken Hand eine silberne Gerte.
Wir hielten den Atem an. Erst ließ sie den Schimmel in Schritt rundum gehen, er hob die Beine und setzte die Füße wunderbar. Dann ließ sie ihn antraben.
Wir drei, Rupert, Penny und ich, verstehen ja wirklich vom Reiten nicht viel. Rupert noch am meisten, wir vielleicht ein ganz, ganz kleines bißchen. Aber daß hier etwas ganz Besonderes vorgeführt wurde, das verstanden wir alle drei.
Während des Reitens wurde der Schimmel immer schöner. Wir haben ihn ja nur angebunden stehen sehen, da hatte er eine Riesenkruppe und Riesenhufe und sah gutmütig und lieb aus. Jetzt – aber –, ja, er wurde immer schöner, er wurde königlich, das ist nicht übertrieben. Sein Hals begann sich zu biegen, als ginge er am Zügel, die Ohren hatte er nach vorn gestellt, und er setzte die Hufe genau nach der Musik. Ich atmete nicht, und als ich einmal Penny ganz kurz mit einem Blick streifte, sah ich, daß sie Tränen in den Augen hatte. Ich sah schnell wieder weg und auf das Pferd. Es war wirklich, so komisch das klingt, zum Weinen schön.
Was Laila uns auf ihrem Pferd vorritt, weiß ich gar nicht mehr. Es waren Wechselschritte und Traben auf der Stelle und einmal schräg durch die Manege im Trab, und zuletzt ließ sie ihn steigen, kerzengerade in die Höhe, mit an die Brust gezogenen Vorderbeinen. Und noch vieles, vieles andere vorher.
Als sie sich dann still verbeugte und sich der Schimmel neben ihr auf das eine Knie niederließ, haben wir geklatscht, was wir nur konnten, immerzu, immer weiter und weiter. Wir klatschten und klatschten, und dann fing Rupert an zu trampeln, wie es die Studenten machen, wenn sie ihrem Professor für eine besonders gute Vorlesung danken wollen. Und da trampelten alle Zuschauer mit. Es waren, wie gesagt, nicht allzu viele, nicht etwa das ganze Dorf. Das verbitterte mich – ein Zirkus muß doch rappelvoll sein, er muß doch verdienen!
„Warum sind nicht alle Plätze besetzt, das ist doch zu blöd“, sagte ich zu Rupert, als Laila mit dem Schimmel endlich doch hinausgegangen war, obwohl auch da noch geklatscht wurde, „so was sieht man doch nicht alle Tage! Ohne Sattel und Zügel! So was Großartiges!“
„Ach, Musch. Wahrscheinlich gibt’s heut was im Fernsehen, was die Leute nicht verpassen wollen, irgendein Fußballspiel ...“
„Als ob ein Fußballspiel schöner sein könnte als solch ein Reiten!“
„Der Geschmack ist halt verschieden. Seit es Fernsehen gibt, sind die Zirkusse am Absterben“, sagte Rupert leise und betrübt. „Vielleicht ...“– aber da hatten die Zirkusleute ihr Seil gerade gespannt, und eins der kleineren Mädchen kletterte empor, und wir mußten zusehen und konnten nichts anderes mehr denken.
„Ohne Netz!“ sagte Rupert noch leise, dann hielten wir den Atem an. Die Kleine lief über das Seil, als sei es ein breites Band, sie drehte und wendete sich, knickste, wenn sie auf dem Podest angekommen war, nach allen Seiten und bedankte sich höflich für den Beifall.
Nachher kam ihr ein Junge auf dem Seil entgegen, wahrscheinlich ihr Bruder, und sie begegneten sich, gingen dann rückwärts, und als sie das zweite Mal aufeinander zugingen, trugen sie beide eine Stange in der Hand, die sie waagrecht hielten.
„Wenigstens das“, seufzte Rupert, „das sind Balancierstangen, die haben an jedem Ende Blei. Daran kann man sich halten.“
„Aber wieso denn? Die Stangen sind doch in der Luft“, sagte Penny ungläubig.
„Ja, sicher, aber ...“
„Wir probieren es. Wir probieren es gleich morgen“, flüsterte Penny.
Dann kamen wieder Pferde. Das ist ja immer das schönste. Die Ponys sausten ohne Reiter herein, jedes hatte einen Federbusch auf dem Kopf, und sie rasten rundum, es war entzückend. Als sie die erste Runde beendet hatten, kam aus der Stallgasse – das ist der Eingang in die Manege – das kleinste hinterher, das anscheinend vergessen worden war. Es raste hinter den anderen her, eifrig galoppierend, und alle Leute lachten. Dann baute einer der Jungen, der als Jockey verkleidet war, ein Hindernis auf. Er legte eine Stange mit dem einen Ende auf den Manegenrand, als die Ponys wieder mal vorbei waren, und ging dann in die Mitte, hielt dort die Stange am anderen Ende. Hopp, war das erste drüber, und hopp, hopp, hopp die anderen, nur das kleinste bog, als es die Stange sah, blitzschnell nach links und rannte um den Jungen herum, ohne zu springen, schloß sich seinen Kameraden wieder an. Alle Zuschauer klatschten vor Vergnügen.
„Das ist natürlich Absicht, es wurde so dressiert“, sagte ein Mann vor uns und machte ein ärgerliches Gesicht. So ein Blödsinn! Es war doch drollig und reizend, warum ärgerte er sich? Wir jedenfalls fanden es goldig, wie sich das Kleinste immer um die Aufgaben drückte, die die Größeren ausführten.
Und dann geschah etwas besonders Komisches. Die Ponys liefen wieder in langsamem Trab, das Hindernis war weggenommen, und da kam aus der Stallgasse jemand dazu, kein Pony, aber auch ein Reittier: ein Esel, der Zwergesel, den wir schon gesehen hatten. Er schloß sich den Ponys in anmutigem Trab an, und auf dem Esel saß – das war der Clou – ein kleiner Junge, der allerhöchstens zwei Jahre alt war, wahrscheinlich erst anderthalb. Ganz sicher und höchst vergnügt saß er da und hatte einen Schnuller im Mund, so klein war er noch. Das gab ein Gelächter!
Der Zirkusdirektor in seinem Frack war inzwischen wieder erschienen. Er stand in der Mitte und sah sich alles an, und dann machte er ein Zeichen, worauf die Ponys hinausliefen. Der Esel aber blieb drin, fiel in Schritt und kam, als der Direktor pfiff, wohlerzogen auf ihn zugetrippelt. Der Direktor begrüßte, streichelte und lobte ihn und gab ihm ein Stück Zucker.
„So, nun steig ab, kleiner Reitersmann“, sagte er, und der winzige Junge warf beide Beinchen nach hinten in die Höhe, landete stehend in den Sägespänen und verbeugte sich mit Grazie, den Schnuller noch immer im Mund. Das Publikum raste.
Als sich der Sturm der Begeisterung ein wenig gelegt hatte, hob der Direktor die Hand und bat um Ruhe.
„Meine hochverehrten Herrschaften, nun glauben Sie sicherlich, es sei eine Kleinigkeit, auf diesem Eselchen zu reiten. Und wenn ich das Gegenteil behaupte, dann denken Sie, ich schwindle. Deshalb – bitte! Wer es versuchen möchte, unser Eselchen zu besteigen und eine Stunde zu reiten, bekommt von mir fünf Mark in bar. Wer hat Lust?“
Na, wir hätten es uns denken können: Rupert griff zwar nach rechts und links, um uns festzuhalten, aber er griff bereits in die leere Luft, wir waren schneller. Penny hatte den besseren Start, aber auch mich erwischte er nicht mehr. Penny war wie ein Blitz davongeschossen, über die Bänke der vor ihr Sitzenden gesprungen und stand schon im Mittelpunkt der Manege.
„Darf ich?“ japste sie.
Rupert erzählte uns später, er hätte dagesessen, beide Daumen in die Faust eingeschlagen, und immer nur vor sich hin gejammert: „Alle guten Geister, alle guten Geister!“ Aber seine Beschwörung nützte nichts. Penny flog in der Manege bereits in die Luft und landete in den Sägespänen, während das Eselchen schon wieder brav und geduldig und harmlos dastand. Man sah ihm nicht an, daß es eine Sekunde vorher einen wilden Sprung gemacht hatte, um seine Reiterin loszuwerden, was ihm ja auch sofort gelungen war. Penny raffte sich auf, strich die Zotteln aus dem Gesicht und pirschte sich wieder heran.
„Willst du noch mal?“ fragte der Direktor honigsüß.
„Klar! Achtung –“
Ja, alle Achtung! Wieder flog Penny in die Luft, landete diesmal aber geschickt auf den Füßen.
„Noch mal!“ keuchte sie, aber inzwischen hatten sich bereits ein paar Jungen aus Hohenstaufen herangedrängt, auch vor mich. Ich hatte, zugegeben, den Mut etwas verloren und war nicht mehr unbedingt gewillt, auch in die Höhe zu fliegen.
„Die dumme Kuh kann eben nicht reiten“, sagte ein vielleicht Fünfzehnjähriger, der eigentlich schon zu groß für den Esel war. Er hoffte wohl, ihn durch sein Gewicht bändigen zu können. So hob er ein Bein über den Eselrücken, da aber rannte das Eselchen los, mit dem Jungen auf dem Rücken, der darauf nicht vorbereitet war. Es rannte bis zum Manegenrand und warf ihn mit Schwung über die Brüstung, indem er die Hinterbeine hochfeuerte und die Vorderhufe in die Sägespäne stemmte. Es dauerte ein kleines Weilchen, bis sich der Junge wieder zusammengesucht hatte und hinkend durch die Bänke der Zuschauer hindurch an seinen Platz zurückschlich.
Nun drängten die anderen nicht mehr so, aber zwei oder drei versuchten es dennoch, alle ohne Erfolg. Als sich niemand mehr meldete, machte der Zirkusdirektor eine Handbewegung, der Esel ließ sich, wie vorhin der Schimmel, auf ein Knie nieder, und der kleine Schnullerreiter stieg wieder auf. Fröhlich, mit beiden Händchen winkend, ritt er noch eine Runde im Trab und eine im Galopp innen am Manegenrand entlang und verschwand dann im Stalleingang. Das gab einen Beifall!
Dann kam die große Pause. Die hatten die Zirkusleute nötig, wir aber auch. Wir drängelten hinaus, und Rupert kaufte uns beiden eine Cola.
„Der zweite Teil ist doch bestimmt noch ebenso lang wie der erste!“ bettelte Penny, als ob Rupert dafür zuständig wäre. Er lachte und meinte, das würde schon so sein, und vielleicht gingen wir morgen wieder, denn es wäre wirklich ein toller Zirkus. Das tröstete mich, denn ich hatte schon wieder die schreckliche Panik, daß es bald vorbei und dann nur noch Erinnerung sein würde. Morgen vielleicht wieder – ach, Rupert war doch der Allerliebste!
„Und da machen wir vorher tüchtig Reklame im Dorf, damit alle kommen, die heute nicht da waren“, sagte er. „Am besten stecken wir uns hinter Laila. Sie muß mit dem Schimmel durchs Dorf reiten und alle Ponys hinterher und dann der Esel ...“
„Und ich führ’ den Bären!“ rief Penny, und da mußten wir alle lachen.
„Nein, den Bären lassen wir als Überraschung hier, oder er radelt voran.“ Gerade setzte die Musik wieder ein, und wir rannten schleunigst auf unsere Plätze.
Es kamen noch Bodengymnastik, Trampolinspringen und noch mal die Ponys. Diesmal mußten sie auf zwei Beinen laufen, was ja bei Pferden immer toll aussieht.
Und dann kam Marfa, der Schlangenmensch. Marfa trug nur einen ganz knappen, glitzernden Badeanzug und fing an, sich zu verrenken, auf den Händen zu stehen und dabei die Beine über die Schultern zu rollen. Es war eigentlich ganz unmöglich, daß ein menschlicher Körper derartige Verschlingungen fertigbrachte. Und Marfa machte dabei ein so freundliches und höfliches Gesicht, daß man sich gar nicht vorstellen konnte, wie giftig sie gewesen war, als wir den Ponys Mohrrüben brachten. Sie bekam viel Beifall, und dann trat die ganze Familie zusammen auf. Sie warfen einander die Kleinsten zu, fingen sie auf, ließen sie auf der Handfläche stehen und sich verbeugen, rollten und kugelten, und zuletzt kam die ganz große Pyramide.
Der Zirkusdirektor stand in der Mitte, seine Frau schwang sich auf seine Schulter, darauf kamen zwei kleine Mädchen, und die beiden großen Söhne, Laila und Marfa machten auf allen vier Seiten Handstand, wobei sie die Füße gestreckt an den Vater lehnten. Während die Familie so dastand, kam der Kleinste gelaufen, wieder mit dem Schnuller im Mund, und fing an, am Vater emporzukraxeln, immer höher, bis zur Mutter, auf deren Kopf er endlich stand.
Dies sei nur in diesem Zirkus zu sehen, sagte der Direktor, als die anderen abgesprungen waren und sich verneigten, insofern sei er, wenn auch klein, der sensationellste Zirkus der Welt. Wir klatschten wie besessen. Zum Schluß lief ein Hund rundum bei den Zuschauern auf zwei Beinen; er hatte einen Hut im Maul, und jeder warf eine Münze hinein.
Wie betrunken und taumelig vor Müdigkeit, machten wir uns schließlich auf den Heimweg, rechts und links bei Rupert eingehakt, über die Höhe zum Dorf hin. Wir brauchten uns nicht zu beeilen, Tante Trullala und Onkel Albrecht wußten ja, daß Rupert dabei war, und so konnten wir alles noch mal durchsprechen und uns einig darüber werden, wer was am schönsten fand. Es war ein wunderbarer Tag gewesen, und wir freuten uns schon auf den nächsten. Bei Rupert bedankten wir uns immer wieder, mit ihm zusammen ist alles immer schöner, er ist wirklich wie ein ganz, ganz guter großer Bruder. Ich sagte das, und da wurde er ein bißchen ernst.
„Ja, Bruder“, sagte er und faßte uns fester in den Arm, uns alle beide, „ich hatte auch mal eine Schwester.“
Hatte? Wir schwiegen beide, man kann doch nicht fragen: Ist sie tot? Dann aber fuhr er von selbst fort.
„Ja. Sie vertrug sich mit meinen Eltern nicht gut, und eines Tages ging sie einfach weg. Später haben wir dann gehört, daß sie geheiratet hat, nach Amerika – durch Bekannte erfuhren wir es. Aber heimgekommen ist sie noch nicht wieder. Ich hab’ mir vorgenommen, sobald ich genug Geld zusammengespart habe, fliege ich in die Staaten und suche sie. Ich weiß ja, wie traurig meine Eltern darüber sind. Deshalb arbeite ich ja auch in den Ferien und verdiene mir Geld. Onkel Albrecht bezahlt mich gut. Und die Tage, an denen ihr nicht hier seid, werde ich tüchtig ausnutzen.“
Auch in Ruperts Leben, der doch so gern lachte, gab es also Trauriges. Ich hätte ihn so gern getröstet, aber wie?
„Du findest sie bestimmt“, sagte ich schnell, und er nickte mir zu. Dann aber fragte er, ob wir nicht Bella und Boss beibringen wollten, auf zwei Beinen zu laufen und den Hut im Maul zu tragen. Dann könnten wir doch bei jedem Besucher, der zu Tante und Onkel kommt, Geld sammeln und für den Zirkus geben. Ob das nicht eine gute Idee wäre.
Penny meinte etwas nachdenklich, so schnell lernten Hunde das vielleicht nicht, denn der Zirkus ziehe ja bald schon weiter. Aber da machte Rupert ein geheimnisvolles Gesicht und sagte: „Vielleicht doch nicht so bald ...“
„Sag, wieso!“ drängelten wir und hatten im Augenblick vergessen, was er von seiner Schwester gesagt hatte. Dann rückte er damit heraus, daß der Zirkus vielleicht – vielleicht! –, wenn der Bürgermeister nichts dagegen hatte, sein Winterquartier hier in Hohenstaufen aufschlagen würde, denn im Winter zögen die Zirkusse nicht herum. Wir waren begeistert.
„Den ganzen Winter?“ fragten wir, und er tat ganz entsetzt und meinte, nun habe er doch verraten, was er uns nicht sagen sollte, und wir sollten es uns ja nicht fest einbilden oder gar herumreden ...
„Aber ‚hoffentlich‘ dürfen wir doch denken?“ sagte Penny abschließend, als wir am Haus angekommen waren. Das dürften wir, meinte Rupert. „‚Hoffentlich‘ darf man immer denken“, sagte er, und ich merkte, daß er damit nicht nur den Zirkus meinte. Aber ich sagte nichts, ich gab ihm nur ganz, ganz fix einen Kuß auf die Backe; das hatte ich bis dahin noch nie getan. Und dann bin ich die Treppe hinaufgelaufen und hab’ nur „Gut’ Nacht!“ zurückgerufen, und erst oben fiel mir ein, daß wir ja jetzt in der Werkstatt wohnen. Da bin ich umgekehrt und wieder hinuntergegangen, und die beiden haben mich schrecklich ausgelacht, ob ich etwa Onkel Albrecht oder Tante Trullala aus dem Bett gescheucht hätte – aber ich hatte es schon im Flur gemerkt. Es war wirklich ein aufregender Tag gewesen, wir fielen wie die Steine ins Bett. Und vielleicht würden wir morgen wieder ...
Mit diesem Gedanken müssen wir eingeschlafen sein alle beide, denn ich erinnere mich an nichts mehr, was wir gesprochen haben, und Penny ging es genauso.
Meist folgen auf aufregende Tage langweilige, so jedenfalls hab’ ich es oft erlebt. Aber auch der nächste Tag fing gleich mit etwas Aufregendem an: Tante Trullala kam an unser Bett und sagte, sie habe eine große Bitte an uns. Ob wir ihr einen Gefallen tun wollten.
„Natürlich, was denn?“ fragten wir und dachten an Beete umgraben oder Komposterde ausbuddeln oder so was, was man ja nicht so gerne tut, aber es war etwas ganz anderes. In einer kleinen Stadt im Remstal, vielleicht zwölf Kilometer von Hohenstaufen entfernt, gäbe es eine sehr nette Forstmeistersehefrau, die hatte Tante Trullala eben angerufen. Sie hätte eine Bitte.
„Was will sie denn?“ fragten wir neugierig. Tante Trullala setzte sich auf die untere Bettkante und fing an zu erzählen.
„Diese Frau Forstmeister Engel hatte schon mehrmals Rehkitze aufgezogen, überhaupt allerlei Getier, das die Leute ihr brachten. Einmal ein Eichhörnchen, einmal sogar zwei Wildschweine, Frischlinge nennt man die in der Jägersprache, und fünf Rehkitze. Immer wieder werden Rehkitze von unvernünftigen Leuten angefaßt und mitgenommen, obwohl überall und überall Schilder stehen: ‚Hände weg vom Jungwild‘. In der Zeitung wird davor gewarnt und in der Schule auch. Hat man sie auch nur angefaßt oder gestreichelt, so nehmen die Mütter sie nicht mehr an. Und dann verhungern sie, oder der Fuchs holt sie. Es gibt auch immer wieder Kitze, die angemäht werden, früher von Sensen, jetzt von Mähdreschern. Sie verlieren einen Lauf und müssen elend umkommen. Wenn man diese Tiere mitnimmt, ist es natürlich etwas anderes. Das Rehkitz, das sie diesmal im Haus haben, ist gesund, nur ...“
Und jetzt kam es. Frau Engel und ihr Mann und die große Tochter waren zu einer Taufe eingeladen, und nun suchten sie jemanden, der sich während der zwei Tage, die sie weg waren, um das Rehkitz kümmerte. Auch um die Hunde, aber die könnte man notfalls immernoch Bekannten anvertrauen. Sie wüßte jedoch niemanden, der für zwei Tage ins Haus käme und das Reh versorgte. Ob Tante Trullala nicht ... Na, da brauchte sie nicht weiterzusprechen!
„Dürfen wir?“ riefen wir beide wie aus einem Mund, und Tante Trullala nickte und sagte, sie habe der Forstmeisterin gleich zugesagt. Heute schon? Heute schon! Herrlich, wir sprangen aus den Betten.
Während wir uns duschten und abtrockneten, fragten wir der Tante wahre Löcher in den Bauch. Wie alt das Kitz sei, und was es bekäme, und wie es hieße, und ob es ein Böckchen wäre oder eine kleine Ricke. Und Tante Trullala versuchte, alles zu beantworten, aber vieles wußte sie selber nicht. Sie lief dann schnell ans Telefon und sagte der Forstmeisterin zu, daß wir kämen, Rupert würde uns hinfahren.
Wunderbar! Im Augenblick war sogar der Zirkus vergessen.
Beim Frühstück aber dachten wir wieder an ihn. Rupert sagte, er bliebe bestimmt noch ein paar Tage, auch wenn er nicht hier ins Winterquartier ginge. Da waren wir beruhigt. Nur zwei Tage sollten wir die Forstmeisterei hüten, dann kamen wir wieder.
„Wir freuen uns schon aufs Wiederkommen“, versicherten wir Tante Trullala, „aber jetzt freuen wir uns erst mal auf das Reh.“
Rupert machte ein sehr nachdenkliches Gesicht. Wir beide allein mit dem Reh in einem fremden Haus – das könnte nie gutgehen. Da müßte er eigentlich auch mit, aber er hätte gerade für heute Onkel Albrecht versprochen, ihm etwas in der Werkstatt zu helfen, einen Ofen umzubauen oder so etwas, was man nicht aufschieben konnte. Er würde uns zwar hinfahren, aber bleiben könnte er nicht. Und die Hunde sollten wir auch nicht mitbringen, das sahen wir ein. Wenn man ein Reh betreut, kann man keine fremden Hunde brauchen.
Wir waren über beides ein bißchen enttäuscht. Die Hunde würden sicher traurig sein, wenn sie hierbleiben mußten. Und daß Rupert nicht dabeisein konnte, tat uns auch leid. Mit ihm zusammen wird immer alles so lustig. Trotzdem freuten wir uns auf das Reh, Rupert mußte uns fest versprechen, daß er noch dasein würde, wenn wir wiederkämen. Das tat er auch.
„Der hält, was er verspricht“, sagte Penny fest überzeugt, „du siehst ja, daß er Onkel hilft, wo er doch so gern mitkäme!“
Wir packten in Eile, was wir für zwei Tage brauchten, trösteten Bella und Boss noch ausführlich und verabschiedeten uns dann von Tante Trullala mit tausend Versprechungen, ja ordentlich und vernünftig zu sein und höflich und unsere Betten zu machen – was Erwachsene einem jedesmal in die Ohren blasen, obwohl man es schon auswendig kann. Dann stiegen wir höchst vergnügt ins Auto, und Rupert fuhr los.
Wenn man aus Hohenstaufen herauskommt, geht es rechts über den Asrücken zum Rechberg hinüber, geradeaus aber hinunter in das Dorf, in dem Penny einmal ein Krokodil gefüttert hat und dann ins Krankenhaus kam, weil es sie in den Arm biß. Die Straße macht, ehe man in dieses Dorf kommt, große Serpentinen, also riesige Schlangenlinien, weil es ziemlich steil bergab geht. Früher führte ein Weg hinunter, ganz steil, und dort, wo der von der Autostraße abgeht, hielt Rupert.
„So, hier könnt ihr aussteigen und direkt hinunterlaufen, ich lass’ den Wagen im Leerlauf rollen, mal sehen, wer eher unten ist.“
Das war etwas für uns! Wir sprangen aus dem Auto und rasten bergab, so schnell wir konnten, ohne hinzufliegen. Penny vorne dran, sie ist mir immer um eine Nasenlänge voraus, weil sie von Natur aus alles in einem Höllentempo macht, und ich hinterher. Dabei schielten wir immer zu Rupert hinüber. Ließ er den Wagen wirklich nur rollen, oder gab er heimlich Gas?
Nein, Rupert machte keinen Schmu. Wir waren eher unten, dort, wo ein winziges Häuschen steht und sich stolz Bahnhof nennt, Bahnhof für ein Bähnle, das dort ein paarmal am Tage durch die Gegend schnauft. Wir versuchten, zu Atem zu kommen, und dann entdeckte Penny, daß die Bäume an der Straße Pflaumenbäume waren. Wir klaubten auf, was unten lag, und dann schüttelten wir an den Ästen, damit noch mehr herunterkam. Die Pflaumen waren groß und weich, und wenn man sie aufbrach, fiel der Kern aus dem goldenen Fleisch heraus, einfach köstlich.
Penny hatte ein Halstuch um, blau mit weißen Punkten, sie knüpft sich mit Vorliebe bunte Tücher um den Hals. Das machte sie jetzt los, legte es auf die Erde und sammelte die schönsten Pflaumen darauf für Rupert. Ich half dann auch, und als er kam, konnten wir ihm ein zweites Frühstück überreichen, das ihm behagte.
„Ihr seid ja furchtbar schnell gerannt“, sagte er. Ich glaube aber, er hat die ganze Zeit auf der Bremse gestanden, um uns gewinnen zu lassen. So ist Rupert.
Wir kamen dann an dem Haus vorbei, in dem die Familie mit dem Krokodil wohnt. Wieder guckten die beiden zottigen Hunde über das Balkongitter und sahen aus wie ausgestopft, aber wir hielten nicht an. Ich war froh darüber. Die Geschichte, wie das Aquarium kippte und Penny das Untier erwischte und dieses sich in ihren Arm verbiß, wurde wieder schaurig lebendig in mir und ich dachte daran, wie leicht Penny damals an der Blutvergiftung, die zu einer allgemeinen Skepsis wurde, hätte sterben können. Wir fuhren also vorbei, schweigend, und dachten alle drei das gleiche. Als wir das Dorf hinter uns hatten, atmeten wir auf. Und nun ging es bergab ins Remstal.
Die Forstmeisterei liegt, wie überall, außerhalb des Ortes, der kein Dorf, sondern eine kleine Stadt ist, und ist von einem Garten umgeben, der einen hohen Zaun hat. Gleich dahinter geht es bergauf zu Wiesen und Feldern, und dahinter fängt der Wald an.
Die Forstmeisterin und ihre Tochter standen schon an der Haustür und winkten uns zu, ehe Rupert hielt, und begrüßten uns voller Freude.
„Wir haben nämlich gehört, daß ihr mal ganz alleine eine Herde Kamele betreut habt, als ihr in Hohenstaufen wart, und junge Löwen und Tiger, es stand ein Artikel darüber in der Zeitung, den haben wir aufgehoben“, erzählte Ulli uns gleich, und wir mußten furchtbar lachen. Was alles in der Zeitung steht! Die Herde Kamele bestand aus einem einzigen Lama, das wir allerdings in unsere Obhut genommen hatten – und die jungen Löwen und Tiger waren Siamkatzen.
„Ganz egal, Betreuung ist Betreuung“, lachte Ulli, und die Forstmeisterin sagte: „Wir sind wirklich sehr froh, daß ihr kommt, denn wir möchten sehr gern zu dieser Taufe fahren. Es ist eine Zwillingstaufe, und so etwas erlebt man ja nicht alle Tage. Ulli hat Ferien und will gern mit, sie darf sogar Pate sein.“ Ulli ist vielleicht neunzehn und macht nächstes Jahr Abitur. Sie zog uns gleich an der Hand mit sich in den Garten, wo der Hundezwinger steht.
Er ist mit einem Gitter umgeben, und darin sind zwei Hütten, eine für den Hund und eine für das Reh. Der Hund, halbgroß, braun, mit Wuschelfell, ein deutscher Wachtel, wie Ulli erklärte, guckte auf, als wir kamen, rührte sich aber sonst nicht, denn das Reh lag an ihn angekuschelt und schien noch geschlafen zu haben. Jetzt aber sprang es auf, und das erste Mal im Leben sahen wir ein Reh ganz von nahem.
Gott hat viele schöne Tiere erschaffen. Die schönsten sind für mich die Pferde, aber dafür kann ich nichts, die zweitschönsten jedoch, das muß ich wirklich sagen, sind die Rehe. So etwas Zierliches, so etwas Graziöses, dazu die lackschwarze Nase an dem feinen Köpfchen – ich konnte mich nicht satt sehen. Und dann öffnete Frau Engel die Tür des Zwingers, und im Nu war das Reh aufgesprungen und kam heraus, schnupperte an Ullis Hand – wir beide standen bocksteif und still, um es nicht zu erschrecken – und setzte in langen Sprüngen in den Garten hinein. Nun stand auch der Hund auf, schüttelte sich, kam zu uns heran, beroch uns – wir riechen ja nach Hund, nach Boss und Bella – und lief dann dem Reh nach.
„Ja, die beiden lieben sich“, sagte die Forstmeisterin, „die gehören zusammen. Und wenn der Nimrod euch mag, dann wird es auch die Susi tun.“
„Susi? Sie heißt Susi?“ fragten wir, und Frau Engel lachte.
„Alle unsere kleinen Kitzen haben Susi geheißen, das ist merkwürdig. Dies hier ist schon Susi die Fünfte. Es ruft sich so gut, und es ist auch ein zärtlicher Name. Während unsere Hunde immer anders heißen, schon deshalb, weil man ja öfters mehrere auf einmal hat.“
Wir gingen dann ins Haus, und Ulli richtete die Flasche für Susi. Es kamen Vollmilch und Milupa hinein; sie zeigte uns genau, wieviel. Penny schrieb alles mit Kreide auf eine Wandtafel, die dort in der Küche hängt, damit man notieren kann, was man nicht vergessen darf. Da standen die komischsten Dinge. Und dann ging Ulli mit uns in den Garten und lockte Susi, und die kam angesprungen – Penny und ich hatten uns etwas zurückgestellt, damit sie vor uns keine Angst hatte – und fing sogleich an, am Schnuller der Flasche zu saugen.
„Jetzt bekommt sie nur noch drei Flaschen am Tag“, erklärte Ulli, „früher mußte sie alle zwei Stunden eine bekommen, auch nachts. Na, ihr könnt euch denken! Da ist man manchmal schrecklich müde, aber man muß durchhalten. Bei der Mutter trinkt sie ja auch alle zwei Stunden, Tag und Nacht.“
Wir setzten uns dann auf den Gartenplatz hinter dem Haus und bekamen Saft und Kekse, und die Forstmeisterin erzählte uns von ihren früheren Susis, aber auch davon, daß sie einmal ein Rehkitz und einen Wilderpel, also eine männliche Wildente, zusammen aufgezogen haben, die immer beieinander schliefen und sich gegenseitig abschleckten, so liebten sie einander. Als der Erpel dann fliegen lernte, flog er manchmal aus dem Garten heraus, und sie dachte jedesmal: Wer weiß, ob wir ihn jemals wiedersehen. Aber jeden Abend, wenn sie stand und zum Himmel hinaufguckte, sah sie ihn bald weite Kreise über sich ziehen, weiter heruntergehen, und dann setzte er zum Sturzflug an und landete im Garten, fast genau neben dem Reh. Das war ein Wiedersehen und eine Freude! So eine nette Tierfreundschaft gibt es sicherlich nur ganz selten.
Dann hatten es Ulli und ihre Mutter aber eilig wegzukommen. Ulli zog sich schnell um, und Frau Engel zeigte uns noch alles, was wir wissen mußten, den Kühlschrank – er war voller Herrlichkeiten gepackt, wie wir schmunzelnd feststellten – und auch die Stube, in der wir schlafen sollten. Dann gab sie uns den Hausschlüssel und verriet uns auch noch die Stelle, wo ein zweiter Schlüssel versteckt war: nämlich im Garten unter einem Blumentopf. Wenn einer mal den Schlüssel nicht findet oder die Tür zuwirft, während sich der Schlüssel in der Tasche einer anderen Hose befindet, die im Haus hängt, kann man also doch noch herein.
„Legt ihn dann aber sofort wieder dorthin“, riet sie uns, „meist denkt man, das hat Zeit, doch solche Unfälle passieren oft ganz schnell hintereinander. Legt man ihn nicht sofort wieder dorthin, dann vergißt man es, und dann ist man verloren, wenn nicht zufällig ein Fenster zu ebener Erde aufsteht.“
„Stellt euch vor, was mir mal passiert ist“, erzählte Rupert jetzt. „Als Student kriegt man ja in den Universitätsstädten oft kein Zimmer. Da sucht man sich eins in der Nähe auf irgendeinem Dorf und fährt halt mit dem Fahrrad oder einem Mofa, so man sich eins leisten kann, zur Vorlesung, wenn es keine Busverbindung gibt. Die Zimmer auf dem Dorf sind meist auch billiger.
Ich hatte mal eins in der Nähe von Marburg gefunden, in einem Ort, den meine liebe Familie immer Kleinkleckersdorf nennt. Er heißt aber nicht so, immerhin ähnlich. Dort fand ich also eine hübsche kleine Bleibe, nahm sie und wollte mich nun auch anmelden, wie sich das gehört. Also ging ich aufs Rathaus. Das war aber zu, obwohl es Vormittag war. An der Tür war mit einer Reißzwecke ein Zettel befestigt, und wißt ihr, was darauf stand? ‚Die Suppe steht auf dem Herd, der Schlüssel liegt, Du weißt schon, wo. Vater.‘ Ist das nicht einmalig?“
„Immer passieren dir so komische Sachen“, sagte Penny bewundernd, „das muß aber ein goldiger Vater sein, der die Suppe kocht und warm stellt. Ich hätte gewartet, bis derjenige kam, dem der Zettel galt. Oder diejenige.“
„Du wirst lachen, das tat ich auch. Und es war eine Sie. Und sie war – oder vielmehr ist –, aber das gehört nicht mehr zur Geschichte“, sagte Rupert und wurde feuerrot, so, wir wir ihn noch nie gesehen haben. Alle lachten wir, und da rannte er weg und versteckte sich, und wir suchten und riefen – und wo steckte er schließlich? Im Hunde-Reh-Zwinger. Wir zerrten ihn mit Triumphgeheul heraus.
Dann aber mußte er wegfahren, und Frau Engel und ihre Tochter waren auch fertig umgezogen und stiegen ins Auto. Wir winkten beiden Wagen nach und liefen dann vergnügt ins Haus zurück und von dort aus in den Garten, der dahinter liegt. Jetzt mußten wir erst mal alles genau auskundschaften.
Eins sahen wir sofort: Ein Reh im Garten ist für jemanden, der sich mit dem Gärtnern Mühe gibt, nicht einfach. Susi knabbert alles, aber auch alles an, was in ihrer Reichweite liegt. Sogar die Rosen, die doch scharfe Dornen haben. Mit ihrem feinen Mäulchen macht es ihr nichts aus, die Triebe abzubeißen und zu verspeisen.
Eine Schaukel gab es auch im Garten. Sie hing an einer großen Kiefer mit dicken Ästen, und wir probierten sie gleich aus. Und dann fanden wir auf einem überdachten Sitzplatz eine Tischtennisplatte mit Netz und Schlägern und Bällen. Da haben wir uns gleich ein Match geliefert, Penny und ich, und ich glaube, Frau Engel und ihre Tochter sind deshalb so schlank, weil sie Tischtennis spielen. Denn wenn einem ein Ball wegspringt, springt er in den Garten hinein und kullert davon; der Garten ist nämlich etwas abschüssig, und man muß hinterherlaufen und sich bücken und suchen und dann wieder bergauf laufen, und das alles macht schlank. Wenn man in einem Raum spielt, braucht man die Bälle nur von der Erde aufzuheben. Wir fanden es hier aber viel schöner als in irgendeinem Hobbykeller.
Als wir uns ausgetobt hatten, riefen wir erst mal in Hohenstaufen an. Frau Engel hatte ausdrücklich gesagt, wir dürften telefonieren. Tante Trullala meldete sich. Penny sagte hoheitsvoll: „Kann ich bitte Herrn Boss sprechen?“
Die Tante schaltete sofort und antwortete: „Wauwau am Apparat!“ Wir ließen die Hunde schön grüßen und erzählten, wie herrlich wir es hier hätten und ob Rupert schon angekommen wäre. Dann legten wir uns auf den Rasen, jede mit einem Stoß Bücher neben sich, die Ulli uns herausgesucht hatte, und fingen an zu lesen. Darüber verging der Vormittag im Nu. Schließlich mußten wir Susi die Flasche zurechtmachen.
Da alles an der Wandtafel stand, ging das ohne Schwierigkeiten vor sich. Wir probierten, ob sie nicht zu heiß war, und liefen dann hinaus, um Susi zu locken. Ein bißchen bange waren wir, ob sie auch kommen würde, aber im Gegenteil! Kaum sah sie die Flasche, da sprang sie heran und hob das Guschel, und gleich darauf zog sie am Schnuller, daß der von der Flasche rutschte und die Milch sich auf den Rasen ergoß. Erschrocken hielten wir die Flasche senkrecht und gingen noch mal in die Küche, um sie aufzufüllen. Zum Glück hatten wir reichlich Milch gekocht. Und nun paßten wir gut auf und hielten den Schnuller fest an das Glas gepreßt, und Susi trank ihren Schoppen, wie man hier in Schwaben sagt, bis auf den letzten Tropfen aus.
Der Nachmittag war schnell um, und mit der Abendflasche für Susi passierte keine Panne. Dann bekam Nimrod sein Abendbrot (das hatten wir auch an der Wandtafel notiert), und für uns machten wir Rührei, was ich sehr gern esse. Ehe es dunkel wurde – im September wird es zeitig dunkel–, machten wir noch einen kleinen Rundgang, sahen nach, ob auch alle Gartentüren zu waren, und krochen dann ins Bett, um noch zu lesen, solange wir wollten. Nimrod und Susi waren von selbst in ihren Zwinger gegangen, und wir machten vorsichtshalber die Tür zu. So, nun konnte eigentlich nichts passieren.
Was man träumt, wenn man das erste Mal unter einem fremden Dach schläft, soll in Erfüllung gehen. Na, da konnte ich mich ja auf etwas gefaßt machen! Ich träumte das verrückteste Zeug, was man sich nie ausdenken kann, war in einer Schule, in der Rehböcke in den Bänken saßen, mit richtigen kleinen Gehörnen, und ich sollte mich dazusetzen, hatte aber Angst vor ihnen. Frau Engel hatte uns nämlich erzählt, daß es gefährlich ist, kleine Rehböcke aufzuziehen, wenn man ihnen nicht rechtzeitig die Freiheit wiedergibt. Sie sind dann nicht mehr scheu vor den Menschen, weil sie ja mit Menschen aufgewachsen sind, aber Fremde mögen sie nicht, und es kann vorkommen, daß sie sich auf Spaziergänger stürzen und sie forkeln. So war ich richtig froh, als ich aufwachte, von einem grellen, langanhaltenden Läuten hochgerissen, und als ich mich umsah, wußte ich erst gar nicht, wo ich war. Dann aber kapierte ich es und lief im Schlafanzug an die Haustür. Es war der Postbote. Er hatte ein Paket für Engels, deshalb hatte er geläutet. Ich nahm es und bezahlte die Gebühr von meinem eigenen Geld, und dann ging ich befriedigt ins Schlafzimmer zurück, wo Penny noch immer schlief. Ich weckte sie, denn wir mußten ja Susi füttern.
Sie stand schon am Gitter und wartete, als wir mit der Flasche kamen, und es war zu hübsch, wie sie trank. Für Nimrod hatten wir Hundekuchen, weil er sein richtiges Futter erst abends bekommt, aber er sollte auch nicht in den Mond gucken, wenn Susi etwas bekam. Dann machten wir uns selber ein Frühstück und beschlossen, in den Wald zu gehen. Vielleicht gab es Brombeeren. Nimrod durfte mit, aber an der Leine. Wir wußten, wo sie hing: im Flur an einem Haken neben dem Waldhorn. Wir versprachen Susi wiederzukommen – sie kümmerte sich jedoch überhaupt nicht darum, um so besser – und zogen los. Den Hausschlüssel hatte ich mir an einem Bindfaden um den Hals gebunden.
Wirklich, es gab schon Brombeeren. Wir pflückten und aßen und fanden dann eine Trimm-dich-Strecke im Wald, offensichtlich ganz neu angelegt, das sah man an den hellen, geschälten Stämmen. Wir machten Bocksprünge über die dazu aufgestellten Baumstümpfe, schaukelten an den Ringen, rannten bergauf und bergab, balancierten auf Stämmen und übten Liegestütze, wie es auf den Bildern vorgeschrieben war. Total erschossen, naßgeschwitzt und brüllhungrig gingen wir heim, um Susi die Mittagsflasche zu geben. Dann legten wir uns in die Liegestühle und beschlossen, an diesem Tag keinen Schritt mehr zu laufen. Wenn wir gewußt hätten, wieviel wir noch laufen würden ...!
Aber zunächst war alles friedlich, kein Mensch kam, um uns zu stören, und Susi knabberte im Garten herum, während Nimrod sich zu uns gelegt hatte. Er war von der Trimm-dich-Strecke ganz schön müde, obwohl er ja alles, was an den Geräten geturnt werden muß, nicht hatte mitmachen müssen.
Nachmittags läutete es an der Haustür, und Penny lief hin, um nachzusehen, wer es war. Ich hörte sie sich mit jemandem angeregt unterhalten, und dann fuhr ich wie der Teufel aus meinem Stuhl hoch, denn Penny hatte ganz laut geschrien. Ich war im nächsten Augenblick bei ihr und sah, was los war.
Die Gartentore hatten wir am Abend nicht nur zugemacht, sondern vorsichtshalber abgeschlossen und am Morgen nicht wieder aufgemacht, damit die beiden, Nimrod und Susi, nicht ausreißen konnten. Aber die Haustür! Penny hatte, wie das ihre Gewohnheit ist, weil sie immer rennt, alle Türen hinter sich aufgelassen, Susi war ihr nachgelaufen, und während Penny mit der Frau verhandelte, die geläutet hatte und irgend etwas bringen oder holen wollte, war Susi an ihr vorbeigeschlüpft und, ehe es Penny sich versah, auf der Straße. Himmel, jetzt war sie draußen, wie bekamen wir sie wieder?
„Nicht rennen, nicht rennen, sonst rennt sie uns weg!“ flüsterte ich, und wir schlichen uns ganz langsam und vorsichtig hinter Susi her. Sie aber wußte anscheinend genau, was es geschlagen hatte, und sprang davon, zum großen Glück nicht auf die Straße zum Städtchen hinunter, wo Autos fuhren, sondern bergauf über die Wiesen und Felder, dem Wald zu. O Himmel, Himmel, wie sollten wir sie da jemals wiederkriegen!
Penny wollte gleich losrasen, aber ich schrie, sie sollte warten, wir müßten überlegen. Auf alle Fälle brauchten wir etwas, mit dem wir sie festmachen konnten, wenn wir sie fingen – ich nahm Halsband und Leine von Nimrod, den wir im Garten ließen. Dann fühlte ich noch rasch nach dem Hausschlüssel – ja, ich hatte ihn umgehängt –, und wir schlugen die Haustür hinter uns zu und rannten los.
Na, die Trimm-dich-Strecke vom Vormittag war ein Vergnügen gewesen gegen das, was uns jetzt bevorstand. Zum Glück rannte Susi nicht zielbewußt weg, so daß sie uns gleich ganz aus den Augen gekommen wäre, sondern sprang über die Wiesen, blieb manchmal stehen, zupfte ein Gräschen, sah sich nach uns um, sprang wieder ein Stück – wir behielten sie also vorläufig im Auge. So eilig wie möglich, aber doch nicht so schnell, daß wir sie erschreckten, folgten wir ihr, riefen: „Susi! Susi!“ und lockten und schmeichelten. Sobald wir ihr aber nahe gekommen waren, so auf drei, vier Meter, sprang sie wieder ab, und was kann ein Mensch mit zwei plumpen Beinen gegen ein Reh mit vier gazellendünnen Läufen ausrichten!
Oh, diese Jagd! Manchmal träume ich noch heute davon. Wir keuchten und hatten ganz trockene Münder, während uns der Schweiß aus den Haaren lief – und wir kamen und kamen Susi nicht näher. Schließlich blieben wir erschöpft stehen.
„So geht’s nicht, Penny, so geht es nie!“ japste ich und ließ mich auf die Erde fallen. Die Tränen kamen mir. Man hatte uns Susi anvertraut, und am ersten Tag bereits ließen wir sie ausreißen!
„Nein, wahrhaftig, wir machen uns kaputt und kommen ihr überhaupt nicht näher“, sagte Penny und setzte sich neben mich. Dabei beobachteten wir, daß Susi, sobald wir nicht mehr liefen, auch nicht mehr lief, sondern stehenblieb und anfing zu grasen. Das war immerhin ein Trost.
„Wir müssen gut überlegen. Was meinst du, sollen wir Nimrod holen? Vielleicht läßt sie uns mit ihm zusammen näher heran? Vielleicht saust er ihr aber auch nach und mit ihr davon?“
Schließlich hatte ich eine Idee.
„Du bleibst hier hocken, Penny, und kriechst ihr nur nach, wenn sie weitergeht. Möglichst langsam und unauffällig, aber laß sie ja nicht aus den Augen! Ich krieche zurück und hole die Flasche. Vielleicht können wir sie damit locken!“
Das fand Penny ausgezeichnet. Ich robbte also rückwärts, wie wir es beim Indianerspielen oft geübt haben, und stand erst auf, um heimzurennen, als mich Susi nicht mehr sehen konnte. Da allerdings schaltete ich auf höchste Geschwindigkeit, runter auf die Straße, rüber ins Haus, in die Küche, Flasche mit vor Eile zitternden Fingern fertiggemacht, gewärmt – oh, wie lange das dauerte, und dann wieder los! Solange die Krümmung der Wiese mir Penny und Susi noch verdeckte, raste ich, spähte nach vorn – gottlob, sie waren noch da. Ich ließ mich auf alle viere herunter und kroch, die Flasche in der Hand, zu Penny hin, und nun kam es darauf an, Susi zu überlisten.
Es sah beinahe so aus, als könnte es uns gelingen.
Wir hoben die Flasche hoch, so daß sie sie sehen konnte, und riefen: „Susi! Susi!“ Sie guckte her, und dann machte sie wirklich ein paar Schritte auf uns zu. Atemlos hockten wir da – noch ein Schritt, dann hob sie witternd das Näschen, und dann – Pech muß der Mensch haben – hörten wir hinter uns ein Hecheln und Jappen, und als wir uns umsahen, raste ein schwarzer Hund heran. Susi sah ihn sofort, drehte um und sprang in weiten, sicherlich mehrere Meter langen Sprüngen ab, dem Wald zu. Weg war sie. Wir schrien beide vor Wut den Hund an: „Du Biest, du Ekel! Du – du –“ uns fiel nichts mehr ein. Am liebsten hätte ich ihm die Flasche auf den Kopf geschmettert.
Aber dazu hätten wir ihn erst haben müssen. Wir sprangen auf und rannten ihm und Susi nach, hinein in den Wald, dorthin, wo sie verschwunden war. Der Hund war jetzt ganz in unserer Nähe, und obwohl es ein ziemlich großer Kerl war, ging Penny auf ihn los und schrie ihn an und scheuchte ihn. Und wirklich, er zog den Schwanz ein und verschwand in Richtung Stadt.
Das wenigstens hatten wir erreicht. Und nun in den Wald, Susi suchen.
Ich hatte noch immer die Milchflasche in der einen Hand. Penny bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp, ich folgte ihr. Binnen zwei Minuten waren wir zerrauft von den Büschen, durch die wir uns wanden, unsere nackten Beine zerkratzt von Brombeersträuchern – Brombeerranken sind scharf und zäh, man kann sie kaum zerreißen, und immer bleiben kleine Dornen in der Haut sitzen, die auch später noch stechen –, und Pennys Jeans hatten schon ein großes Dreieck, durch das das Hemd heraushing.
„Susi! Susi!“
Wir konnten kaum mehr rufen, so außer Atem waren wir, und schließlich weinten wir beide. Lieber Gott, wir konnten doch nicht den ganzen Wald durchkämmen. Sollten wir das Forstamt anrufen oder die Polizei? Aber die würden uns höchstens auslachen oder schimpfen.
Eine Stunde lang hatten wir uns sicherlich so durch das Unterholz gekämpft, als Penny schließlich stehenblieb.
„Du, ich kann nicht weiter. Ich hab’ keine Luft mehr. Und von vorhin einen solchen Muskelkater!“
Den hatte ich auch.
„Nie wieder mach’ ich Trimm-dich, im ganzen Leben nicht mehr“, stöhnte ich. „Was sollen wir Engels nur sagen, wenn sie wiederkommen und Susi ist weg!“
Ja, das lag uns auf den Herzen wie eine Zentnerlast.
Ein anvertrautes Tier, und wir hatten es weglaufen lassen! Ob es überhaupt in freier Wildbahn leben könnte oder vom ersten Fuchs, dem es begegnete, gerissen würde? Bei dem Gedanken heulte ich los, ich hätte mich am liebsten auf den Boden geworfen, um nie wieder aufzustehen. Penny, die hinter mir stand, schrie auf einmal auf, ganz kurz und hoch ...
Ich drehte mich um – da stand Susi. Direkt neben Penny – in Hautnähe. Penny hatte auch schon zugegriffen, schlauerweise – Penny ist ungeheuer geistesgegenwärtig, sie hat eine viel schnellere Reaktion als ich, und zwar griff sie vorsichtig, aber fest zu, so daß Susi weder erschrak noch fortspringen konnte. Sie sprang auch nicht, sie stand ganz seelenruhig da, und nun kam ich auch heran und handelte. Mit einer Hand hielt ich ihr die Flasche entgegen, mit der anderen schlang ich die Leine um ihren Hals, und zwar so, daß sie sie nicht würgte, aber Susi auch nicht herausschlüpfen konnte. Und Penny schaltete sekundenschnell. Sie nahm die Flasche vorsichtig aus meiner Hand, ohne ihre Lage zu verändern, und nun hatte ich beide Hände frei, um Susi das Halsband umzulegen. Ich merkte dabei genau, wie sie schluckte, es gluckste ein wenig unter der feinen Haut am Hals. Wir hatten sie! Lieber Himmel, waren wir froh!
Ohne uns zu rühren, standen wir da und ließen Susi erst einmal die Flasche zu Ende trinken. Dann fitzten wir uns durch das Gestrüpp hindurch, Richtung Heimat. Es ging bergauf und bergab, bis wir auf einen schmalen Weg kamen, auf dem man richtig laufen konnte. Pennys Hand an Susis Halsband, ich mit der Leine, die ich mir dreimal um die Hand gewickelt hatte, so marschierten wir der Forstmeisterei zu. Alles ging glatt, ich schloß die Haustür auf, alle drei gingen wir hinein, Tür zu.
Wie waren wir froh!
Da läutete das Telefon. Ich sprang hin, während Penny Susi das Halsband abnahm. Es war Ulli Engel, die mal fragen wollte, wie alles ging.
„Wunderbar“, sagte ich aus tiefstem Herzen, „ja, alles in Ordnung. Susi läßt grüßen und Nimrod auch – und Penny natürlich ...“
Nein, was wir gerade erlebt hatten, konnte ich jetzt nicht erzählen, das mußten wir erst verdauen.
Als Frau Engel am übernächsten Tag mit Ulli wiederkam – es war nichts weiter passiert, gottlob! –, haben wir dann unser Abenteuer erzählt. Und da verriet uns Ulli lachend, daß es ihr schon genauso gegangen war, nicht nur einmal. Immer wieder war Susi trotz aller Vorsicht ausgerückt und eigene Wege spaziert, und immer hatte Ulli sie voller schrecklicher Angst und Verzweiflung gesucht, einmal einen ganzen Tag lang und eine halbe Nacht. Und jedesmal war es dann so gewesen wie bei uns ... Ach wir hatten genug von der Angst und Sorge und waren selig, daß wir Ulli das Reh ganzbeinig wiedergeben konnten. Ulli bat uns sehr, noch ein bißchen zu bleiben, und wir gaben noch einen Tag zu. Dann aber wollten wir heim. Rupert hatte schon zweimal angerufen. Und dann kam er mit einer ganzen Stunde „Verzeitigung“ an, wie er es nannte, weil er es gar nicht mehr erwarten konnte, uns in die Arme zu schließen. Er hatte beide Hunde mit, Boss und Bella, die sich vor Freude, uns wiederzusehen, wie die Verrückten benahmen.
„Ohne euch ist es in Hohenstaufen nur halb so schön, aber sagt das Tante Trullala und Onkel Albrecht nicht“, bat er. Wir verabschiedeten uns von Engels mit vielem Dank und stiegen zu Rupert ins Auto, und nun ging es heim nach Hohenstaufen, denn wir hatten schon wieder große Sehnsucht nach dem lieben Haus dort oben und nach unserer süßen kleinen Wohnung. Herbstferien sind ja leider nicht sehr lang.
„Findet ihr?“ fragte Rupert und machte ein verschmitztes Gesicht. Wir merkten gleich, daß er etwas wußte, was er gern erzählen wollte, und bestürmten ihn sofort, es uns zu verraten. Er tat es nur zu gern.
„Musch hat acht Tage länger Ferien! Stellt euch das vor! Ihre Mutter hat angerufen, während ihr in der Forstmeisterei wart! Es wird an der Schule etwas umgebaut, sie hofften, es in den Ferien zu schaffen, aber zum Glück gelang es nicht. Bauen dauert ja immer länger, als man denkt. Aber der Unterricht beginnt erst acht Tage später. Ist das nicht furchtbar traurig für Musch, die so gerne in die Schule geht?“
„Vielleicht geh’ ich wirklich gern?“ fragte ich und lachte. Penny dagegen machte ein trauriges Gesicht.
„Du hast’s gut! Erst ein paar Tage eher wegdürfen und dann länger bleiben können, und ich, ich muß in die Schule, von überübermorgen an“, sagte sie. Da tat sie mir so leid, daß ich ganz schnell sagte:
„Penny, ich weiß was! Wir gehen zu deinem Lehrer und fragen, ob ich an den Tagen, die ich noch hier bin, mit zu dir in die Klasse gehen darf. Wär’ das was? Bist du dann nicht mehr traurig?“
„O Musch!“ jauchzte Penny. „Das machen wir! Und dann ist es für mich nur halb so schlimm – oder gar nicht mehr schlimm!“
„Und ich? Ich darf nicht mit?“ fragte Rupert. Na, ob das der Lehrer erlauben würde? Ich bezweifelte es.
Aber Rupert sagte, er würde an den Vormittagen Onkel Albrecht helfen, weil sie noch lange nicht fertig mit der Arbeit wären, die sie sich fest vorgenommen hatten. Mit diesen Plänen kamen wir in Hohenstaufen an, und Tante Trullala lachte laut und hatte sich schon so etwas Ähnliches gedacht.
„Wie kann ich was dagegen haben, wenn Musch freiwillig in die Schule gehen will!“ sagte sie. „Und außerdem ist es nur vormittags, und die Zeugnisse sind gerade vorbei, also furchtbar anzustrengen brauchst du dich sicher nicht.“ Nun war Pennys neubeginnende Schule kein Kummer mehr für sie, im Gegenteil, sie sagte, sie wollte sich ordentlich dicke tun mit mir, weil ich doch sicherlich alles wissen würde, denn zu Hause gehe ich ja ins Gymnasium. Vor dem hat Penny einen Riesenrespekt. Ich tröstete sie: „Auch dort gibt es Fünfen und Sechsen und Angst vor Klassenarbeiten und scheußlich lange Schularbeiten, und was nützt es mir, wenn ich ein paar lateinische Vokabeln weiß, nach denen mich hier der Lehrer bestimmt nicht fragt.“ Dann aber schoben wir erst mal alle Gedanken an die Schule weg und fragten nach dem Zirkus. Ja, der war noch da!
„Heute nachmittag gehen wir hin“, sagte Penny, „aber erst nach dem Essen.“ Sie hat eine feine Nase und mußte gerochen haben, daß es heute Dampfnudeln gab, „Gezogene“, wie sie in Schwaben genannt werden, und Tante Trullala macht sie so, daß man sie nie vergißt. Höchst vergnügt rannten wir erst hinunter in unsere kleine Wohnung und packten unsere Sachen aus, und dann rief Tante Trullala schon zum Essen. Draußen schien die Sonne, und in unseren Herzen auch.
An diesem Tag kam auch Onkel Albrecht zum Mittagessen heim; oft kommt er erst abends. Aber er sagte, er habe sich in Sehnsucht nach uns verzehrt, deshalb käme er, und außerdem könnte er ja Rupert nun gleich mit nach Göppingen nehmen, damit sie dort vorankämen mit der Arbeit.
Gleich nach Tisch wollten wir zum Zirkus gehen, aber Tante Trullala bat uns, vorher noch ins Dorf zu laufen und etwas für sie zu holen. Wir rannten los.
Gleich an der Ecke, an der uns Onkel Albrechts Bruder einmal Eis gekauft hat, trafen wir einen Bekannten: den einen Jungen vom Zirkus, der eins der Ponys bei sich hatte. Wir stoppten ab und blieben stehen, streichelten das kleine Pferd und bedauerten nur, keine Mohrrüben dabeizuhaben.
„Wir laufen noch einmal zurück und holen welche“, sagte Penny, und ich war einverstanden. Der Junge hatte auch eine Sammelbüchse mit, auf der stand: „Wir haben Hunger und möchten uns Hafer kaufen.“
„Du, ich hab’ noch was von meinem Taschengeld“, sagte Penny im Zurücklaufen, „das steck’ ich dem Jungen in die Büchse. Mohrrüben sind zwar gut, aber mehr eine Leckerei als richtiges Futter zum Sattwerden. Die Zirkusleute haben eben wenig Geld.“
„Ich hab’ auch noch was, und wir fragen auch Tante Trullala. Vielleicht weiß sie irgendeine Arbeit, die wir ihr abnehmen können, und spendiert uns was dafür. Das stecken wir dann auch in die Büchse.“
Zu Hause angekommen, suchten wir erst einmal an Geld zusammen, was wir noch hatten, und dann fragten wir Tante Trullala.
„Ich überleg’ mir was, bis ihr zurück seid“, versprach sie, und wir liefen wieder los. Der Junge freute sich, als das Geld in der Büchse klapperte, und das Pony, als wir ihm Mohrrüben fütterten. Dann erledigten wir schnell Tantes Auftrag und kamen heim. Wir trafen den Jungen unterwegs wieder, der anscheinend mit seinem Pony das ganze Dorf abging.
„Hoffentlich kriegt er genug zusammen“, sagte Penny sorgenvoll, und ich hoffte es auch.
Eigentlich hatten wir vorgehabt, gleich an diesem Abend wieder mit Rupert in den Zirkus zu gehen, aber er sagte, morgen wäre die Abschieds-Galavorstellung, und da hätten wir mehr davon, wenn wir bis dahin warteten. Wir sollten vorher noch tüchtig Reklame für den Zirkus machen. Der Bürgermeister hatte jedenfalls eingewilligt, daß die Leute hier in Hohenstaufen ihr Winterquartier aufschlügen, er würde dazu die alte leere Scheune zur Verfügung stellen, die der Gemeinde gehört. Die befand sich oberhalb von unserem Haus am Hang. Einiges müßte noch daran gerichtet werden, dann könnten die Zirkusleute dort einziehen. Wir fanden es herrlich, daß die Scheune so nahe bei uns steht. Und wir würden den Leuten helfen!
Zunächst aber wollten wir bei Tante Geld verdienen. Sie hatte sich wirklich etwas ausgedacht, was wir tun könnten, weil sie es nicht so gut kann. Weiter am Hang hinunter, dem Freibad zu, in dem wir im Sommer schwimmen – jetzt war es geschlossen –, besaßen Onkel und Tante ein Wiesenstück mit Apfelbäumen. Es sind keine großartigen Äpfel, die da wachsen, sondern Mostäpfel, und man kann sie schütteln, braucht sie nicht einzeln zu pflücken. Wenn wir das täten und die Apfel in Säcke sammelten, könnten wir sie später zur Mosterei bringen. Dafür bekommt man Apfelsaft. Früher machten die schwäbischen Bauern Most daraus, also etwas mit Alkohol, und den tranken sie dann im Laufe des Winters. Jeder hatte seinen Most im Keller.
Daher kommt der Ausdruck: „Ich will dir zeigen, wo Bartel den Moscht holt!“ Jetzt gibt es einen Zusatz, der den Apfelsaft nicht gären läßt, man bekommt also richtigen, naturtrüben Apfelsaft, der auch den ganzen Winter hält, in Flaschen gefüllt, die man hinbringen muß. Und den können auch Kinder trinken, ohne daß er ihnen schadet.
„Wenn ihr mir die ganze Saftgeschichte abnehmt, bekommt jeder von euch zehn Mark. Ihr werdet euch sicherlich denken, daß ich nicht so sehr gern auf die Apfelbäume klettere und schüttele und die heruntergefallenen Äpfel auf der abschüssigen Wiese aufklaube“, sagte Tante, und wir glaubten es ihr aufs Wort. Sie ist zwar trotz ihrer Rundlichkeit im Hause behende und flink, aber um auf Bäume zu klettern und wegrollende Äpfel einzufangen, dazu ist sie nicht so sehr geeignet. Wir versprachen, gleich anzufangen, denn wenn wir erst in die Schule gingen, blieb uns nur der Nachmittag. Deshalb: Jetzt oder nie!
Es wurde eine lustige Angelegenheit. Die Hunde waren natürlich auch dabei; sie kläfften wie verrückt, wenn wir auf die Bäume kletterten und schüttelten, und rannten hinter den wegrollenden Äpfeln her, um sie zu apportieren. Ob man die noch nehmen konnte, die sie im Maul gehabt hatten? Ich fragte etwas zaghaft danach.
„Freilich“, sagte Penny ungerührt, „die werden vor dem Pressen ganz sauber gespritzt, mit einem Schlauch. Man wirft sie in ein extra dafür ausgemauertes großes Loch, das einen Siebabfluß hat. Da spritzen die Leute mit viel Druck hinein, du wirst sehen! Laß Boss und Bella ruhig helfen.“
Wir sammelten die Äpfel in Körbe und leerten diese in Säcke aus, genau wie beim Kartoffelbuddeln. Die Säcke aufzuladen und wegzufahren hatte Rupert uns versprochen, er wollte sich dazu den Manderl borgen, und Irene hätte auch einen Wagen. So brauchten wir uns darum nicht zu kümmern. Es wurden viele Zentnersäcke voll, und das Geld ließen wir uns in Münzen auszahlen, damit es so richtig schön in die Büchse hineinprasseln konnte. Wir freuten uns schon darauf und gingen am nächsten Tag ins Dorf, um den Jungen zu suchen. Er hatte diesmal ein anderes Pony mit, einen kleinen Schecken, der sich auch über die Mohrrüben freute und sie eifrig verschnorpste. Der Junge hielt uns die Büchse hin, aber die letzten Markstücke ließ er nicht hineinfallen, sondern nahm sie uns aus der Hand und steckte sie in die Hosentasche.
„Ich muß für meinen Vater was aus der Apotheke holen, er hustet so“, sagte er. Penny und ich sahen uns an: Wie gut, daß wir Geld verdient hatten! Medikamente sind teuer, und vielleicht waren die Zirkusleute nicht mal in einer Krankenkasse, sondern mußten alles so kaufen.
Die Schule in Hohenstaufen kannte ich noch gar nicht. Immer war ich in den Ferien hier gewesen, und wer interessiert sich schon für eine Schule, in die er nicht geht. Jetzt aber, als ich mit Penny am Morgen loszog, war ich neugierig und dann sehr angenehm überrascht. Sie liegt an der Talseite des Ortes, der ja sozusagen am Berg klebt. Deshalb sind auch fast überall die Straßen abschüssig, gehen entweder bergauf oder bergab. Die Schule ist sehr schön, flach, mit viel Glas. Man kommt erst in einen Flur, dessen Wand bunte Mosaikbilder schmücken, zwei Reiter, die mir gleich gefielen. Dann geht es die Treppe hinauf in die Klassen. Von dort aus sieht man über den weiten, runden Platz ins Tal hinunter, das von hier aus wieder anders aussieht als von Onkels Haus her, aber der Blick ist ebenso wunderbar. Der Platz wird als Schulhof benutzt, er ist teils mit Rasen bewachsen, teils zum Turnen eingerichtet, mit Sprunggrube und Fußballtoren. Eine schönere Lage für eine Schule ist einfach nicht auszudenken.
Trotzdem war mir beklommen zumute, als ich mit Penny hineinging – man wird als „Neue“ immer so angeguckt, und das macht mich schrecklich verlegen. Ich setzte mich neben Penny, die ihrer sonstigen Nachbarin sofort klarmachte, warum diese sich für die Zeit, in der ich da war, einen anderen Platz suchen mußte. Dann kam der Lehrer, und wir erlebten eine Überraschung.
„Grüß Gott, meine Lieben“, sagte er – er ist noch jung und sieht freundlich aus, hat einen komischen kleinen Bart wie einen Streifen ums Kinn laufen, vielleicht damit er älter aussieht, sonst könnte man ihn für einen größeren Schüler halten. „Ich freue mich, daß ihr da seid zum neuen Schuljahr. Wir haben heute eine ganz besondere Freude, wir haben nämlich jemanden zu Gast.“
Schon merkte ich, daß ich rot wurde – jetzt würde er bestimmt auf mich zu sprechen kommen. Um so mehr wunderte ich mich, als er fortfuhr. „Ein paar neue Schüler nämlich, die eine Weile bei uns sein werden. Steht mal auf, ihr Zirkusleute!“
Ja, das war für mich die große Überraschung. In Hohenstaufen gehen Jungen und Mädchen in eine Klasse – in unserem Gymnasium übrigens auch –, hier aber waren drei Geschwister vom Zirkus in einer, also in Pennys Klasse, obwohl sie natürlich nicht gleich alt sind. Zwei Jungen – den der immer sammeln geht, kannten wir schon ein bißchen, und ein kleinerer – und Marfa. Wirklich, Marfa, der Schlangenmensch, war auch gekommen. Die drei standen auf, und der Lehrer fragte sie nach ihren Namen und ihrem Alter. Dann kam er noch kurz auf mich zu sprechen, aber nur ganz kurz. „Das ist Ursula, Pennys Freundin, die will uns auch mit ihrer Gegenwart erfreuen, und nun setzt euch alle wieder, wir wollen anfangen.“
Gottlob, das hatte ich hinter mir. Die Kinder, die immer in diese Klasse gingen, sahen nicht mich neugierig an, sondern die Zirkuskinder. In der Stunde, die nun kam, meldete ich mich nicht, und dann war Pause, und wir durften auf den schönen Platz hinauslaufen. Da war das Schlimmste überstanden.
Jedenfalls für mich. Ich hielt mich an Penny, und sie zeigte mir alles, die Sprunggrube und den Sandkasten für die Kleinen, und wir futterten unser Frühstücksbrot und guckten ins Tal hinunter, in dem noch die Nebel lagen, dicht und weiß, wie der Schaum über einer Badewanne, wenn man aus Versehen zuviel hineingekippt hat. Die drei Zirkuskinder standen miteinander am anderen Ende des Platzes, die zwei Jungen, die Gero und Hanko hießen, und Marfa. Die Dorfkinder aus Hohenstaufen kümmerten sich vorläufig nicht um sie.
Die nächste Stunde war Mathe, und da meldete ich mich zum erstenmal. Ich kann ganz gut rechnen, und das, was drankam, hatten wir schon gehabt. Auch Marfa meldete sich und der kleinere der beiden Jungen. Der größere saß nur da und starrte den Lehrer an, als wollte er ihn mit den Augen aufspießen.
„Möchtest du was?“ fragte Herr Körner schließlich, als es ihm anscheinend unheimlich zu werden begann, die schwarzen Augen des Jungen so unentwegt auf sich gerichtet zu fühlen. Der Junge schüttelte den Kopf und starrte weiter.
„Gell, da glotscht!“ rief ein Hohenstaufer halblaut, und die ganze Klasse lachte. Das ist eine schwäbische Redensart, die nicht böse gemeint ist, aber der Junge – Gero, der größere – fuhr doch zusammen, als alles lachte, und kriegte einen roten Kopf. Von da an sah er auf seine Bank hinunter und rührte sich kein einziges Mal. Herr Körner rief ihn auch nicht auf.
Wir hatten dann Heimatkunde, und Herr Körner erzählte von den Hohenstaufen, die hier gelebt und regiert haben, und weil so schönes Wetter war, sagte er, wir sollten doch am nächsten Tag wandern. Ein Wandertag ist in jedem Monat vorgesehen. Warum sollten wir nicht gleich damit beginnen, gerade weil wir doch Gäste in der Klasse hätten, die vielleicht daran interessiert wären, die drei Kaiserberge in Wirklichkeit zu sehen und davon zu hören und auf einen oder den andern hinaufzusteigen. Wir waren natürlich sehr dafür, denn vor einem Wandertag bekommt man keine Hausaufgaben auf.
Zugegeben, es war ganz hübsch in dieser Schule, aber als sie aus war, rannten wir doch, so schnell wir konnten, nach Hause. Der Tag fängt eben erst nach der Schule richtig an, deshalb finde ich immer, man müßte dem, der die großen Ferien erfunden hat, ein großes, großes Denkmal setzen. Aber wer dieser kluge Kopf war, das weiß man natürlich nicht mehr. Wir hatten jedenfalls nichts auf, also Bücher in die Ecke und fertig, hurra!
Natürlich zog es uns zum Zirkus. Aber erst mußten die Äpfel in die Mosterei gebracht werden, Rupert hatte sich diesen Nachmittag dafür extra freigenommen. Wir wanderten zusammen zu Irene, um uns den Manderl zu holen, und Irene spannte selbst mit ein. Wir hatten den Manderl geputzt und gestriegelt, er sah wunderschön aus. Dann sollte es losgehen.
Im letzten Augenblick sagte Irene: „Ich fahre doch lieber selbst mit, denn vor dem Wagen ist der Manderl nicht ganz sicher.“ Wie gut! Denn tatsächlich scheute er an der großen Kurve beim Rathaus und sauste los, und Rupert drehte die Bremse zu, während Irene alle Hände voll zu tun hatte mit den Zügeln. Die altmodischen Wagen haben keine Fußbremse, und wenn einem das Pferd durchgeht, kann man nicht erst die Zügel in eine Hand nehmen und mit der anderen an der Bremse leiern. Rupert sagte das, als wir wieder in vernünftigem Tempo fuhren, und Irene gab ihm recht und meinte, das wäre ihr schon lange klar.
Wie aber abhelfen?
„Ich komm’ morgen vormittag mal vorbei, wenn die Kinder in der Schule sind. Mit Onkels Arbeit sind wir bis jetzt ganz gut vorangekommen“, versprach Rupert, und Irene lachte und fragte, ob er denn Stellmacher von Beruf sei.
„Nein, aber in den Semesterferien habe ich mal bei einem ausgeholfen“, antwortete er, und wir waren stolz auf ihn. An Onkel Albrechts Wiesenstück spannten wir den Manderl aber lieber aus, denn dort steht ein Wagen nie sicher; wir suchten Steine und legten sie vor die Räder, und der Manderl durfte grasen. Rupert lud die Säcke auf, und Irene wollte unbedingt helfen. Das ließ er aber nicht zu. Heimzu durften wir alle vier aufsitzen, als die schlimmste Steigung geschafft war. Jetzt fuhren wir im Schritt. Wir erzählten, daß die Zirkuskinder bei uns in der Klasse waren und wohl den ganzen Winter in Pennys Schule gehen würden. „Aber sie tun, als ob sie uns nicht mehr kennen“, sagte ich, „dabei haben wir ihnen doch Geld gebracht für Hafer und Mohrrüben für ihre Pferde. Wiedergekannt haben sie uns bestimmt.“
„Sie sind halt fremd hier“, sagte Rupert und lächelte Penny an, die neben ihm saß, „als du hier in die Schule kamst, ist es dir sicherlich auch so gegangen.“
„Ja, und ich war noch dazu ganz allein. Die sind wenigstens zu dritt“, sagte Penny. „Über mich haben sie damals auch gelacht, als ich neu in die Klasse kam. Über Musch lacht keiner. Ich würde demjenigen auch schön heimleuchten!“ setzte sie drohend hinzu.
Nein, über mich hatte keiner gelacht, darüber war ich froh. Ich hatte Penny, mir konnte nichts passieren.
Als wir heimkamen, war Besuch gekommen: Pennys Vater. Er ist fast das ganze Jahr über unterwegs und kommt nur, wenn er einmal ein paar freie Tage zwischenschieben kann. Er freute sich sehr, Penny zu sehen. Auch Penny strahlte. Seit sie nicht mehr die Angst haben muß, daß er sie von Tante Trullala und Onkel Albrecht wegholt, freut sie sich besonders, wenn er kommt. Er bringt ihr auch jedesmal etwas Schönes mit. Diesmal war es etwas traumhaft Schönes: ein Westernsattel! Er hätte gehört, daß sie so gern reiten lernen wollte und auch schon ritte, und da hätte er den Sattel in Amerika für sie gekauft.
Penny war ganz außer sich vor Freude. Na, und ich nicht minder, denn was Penny gehört, gehört mir ja auch ein bißchen mit ... Der Sattel ist tief eingebogen, so daß man ganz sicher sitzt, hat einen Sattelknopf vorn, an dem man sich festhalten kann (die Cowboys wickeln ihr Lasso darum), lederne Steigbügel, in denen die Füße stecken wie in einem Schuh. Sie sind deshalb so, damit der Fuß geschützt ist, wenn die Rinder nahe an das Pferd herankommen. Das Gurten des Westernsattels ist nicht einfach, man muß es erst lernen.
Wir waren ganz fasziniert und wollten gleich zu Irene laufen, um den Sattel am Manderl auszuprobieren, aber Tante bat uns, erst für sie ins Dorf zu gehen. Wenn Pennys Vater da war, sollte es etwas Festliches zu essen geben. Dazu brauchte sie Fleisch.
„Aber heute ist doch Mittwoch, da sind die Läden zu“, sagte ich im letzten Augenblick, ehe wir losrannten.
„Richtig!“ rief Tante und schlug sich vor die Stirn. Aber dann hatte sie den rettenden Gedanken.
„Lauft in die ‚Krone‘. Das ist die Gastwirtschaft mit Metzgerei, da könnt ihr durch die Gaststube hinein und von dort aus in den Laden.“
Gut, das war auch ziemlich nahe. Wir rannten los.
Pennys Vater hat seit letztem Weihnachten ein Zimmer in Onkels Haus belegt, in dem seine Möbel stehen, und wenn er in Hohenstaufen ist, wohnt er dort.
Wir waren an der „Krone“ angekommen und gingen hinein. Viele Leute waren sicher nicht in der Gaststätte. Penny schob die schwere Tür zur Gaststube auf, und wir schlüpften hinein. Von dort aus konnte man in die Küche gehen, und dort fanden wir die Gastwirtsfrau.
Wir erzählten, daß wir „hintenherum“ etwas haben wollten, und sie lachte und schloß uns den Metzgerladen auf. Während sie Fleisch für Gehacktes durch die elektrische Maschine drehte, flüsterte Penny mir zu: „Hast du ihn gesehen?“
„Wen?“ fragte ich.
„Na, den Gero. Den vom Zirkus.“
„Wo?“ Ich hatte nichts gesehen. Penny hat ihre flinken Augen überall.
„In der Gaststube. Dort drüben am Fenster sitzt er.“
„Ach!“
Nein, ich hatte nicht achtgegeben, wer dort saß.
„Paß auf, wenn wir zurückgehen“, sagte Penny, bezahlte und bedankte sich. Die Wirtin ließ uns wieder aus dem Laden durch den Flur in die Gaststube, während sie den Laden abschloß. Es war dämmerig hier, und ich spähte sofort zum Fenster hinüber. Ja, da saß der Junge, den wir kannten: vom Zirkus, vom Sammeln und von der Schule her. Er hatte ein halbvolles Bierglas vor sich und starrte hinein, während er uns überhaupt nicht wahrnahm. Penny hielt mich am Ärmel fest.
Ich sah sie fragend an. Sie deutete mit dem Kinn auf den Jungen. Der stand jetzt auf, ging langsam, ein wenig müde, zum Zigarettenautomaten, warf Geld hinein und zog die kleine Lade mit einem Ruck heraus. Dann nahm er die Schachtel, setzte sich wieder an seinen Platz, zündete sich eine Zigarette an und stierte wieder in sein Glas.
Wir sind dann gegangen. Leise, damit er uns nicht sah, aber da war, glaube ich, keine Gefahr, er blickte überhaupt nicht auf.
„Hast du gesehen? Zieht sich Zigaretten, trinkt Bier ...“ Penny flüsterte noch, als wir schon wieder draußen waren und er uns bestimmt nicht mehr hören konnte. Ich nickte, sagte aber nichts. Wir dachten beide genau dasselbe.
Diesmal rannten wir nicht. Wir rennen sonst eigentlich immer, Penny ist so ein Sausewind und kann nicht langsam gehen, aber diesmal gingen wir langsam, beide tief in Gedanken. Keine von uns sprach aus, was sie dachte. Aber wir wußten es voneinander.
„So eine Gemeinheit. Versäuft und verraucht das Geld, das er angeblich für Hafer sammelt“, sagte ich schließlich, ich konnte nicht mehr schweigen. „Das sagen wir aber Onkel Albrecht – oder deinem Vater – oder der Polizei!“
Penny blieb stehen. Wir waren noch gar nicht zu Hause, aber ich hielt unwillkürlich auch an und sah zu ihr hinüber. Ihre dunklen Augen unter den Zottelhaaren sahen mich an.
„Oder meinst du, nicht?“ fragte ich, unsicher werdend. Wenn Penny gar nichts sagt und nicht rennt, dann wird mir unheimlich zumute.
„Ich weiß nicht, du“, sagte sie schließlich. „Ob – ob es dadurch – besser wird?“
„Na – auf jeden Fall könnte man doch – man könnte ihm das Geld wegnehmen und selber Hafer dafür kaufen, damit – die Ponys müssen doch zu fressen haben, den Winter durch, das ist wichtiger, als daß der Kerl Bier trinkt“, sagte ich nach einer Weile. Penny sah mich noch immer an. Sie war keinen Schritt weitergegangen.
„Komm, Tante wartet“, erinnerte ich sie. Da löste sich ihre Starre ein wenig, und wir gingen heim, lieferten das Fleisch in der Küche ab, zählten das restliche Geld hin, und dann verdrückten wir uns. Ohne ein Wort gesagt zu haben, liefen wir in unsere kleine Wohnung hinunter. Penny setzte sich an den Tisch.
„Aber gemein finde ich es doch“, sagte ich nach einer Weile. Es empörte mich. Wir hatten ganz schön gearbeitet, um die zwanzig Mark zusammenzubekommen, und dieser Gero nahm sie und ging damit in die Wirtschaft und trank Bier. So viel älter als wir war er auch nicht. Und rauchte. Und die Ponys hatten das Nachsehen. Das vor allem giftete mich so. Ich sagte dann aber nichts mehr. Pennys Augen können sich so verändern – sie waren jetzt wie zwei tiefe, tiefe dunkle Seen, bei denen man nicht ahnt, was auf dem Grund liegt.
Pennys Vater mußte abreisen. Wir brachten ihn mit Rupert zur Bahn, das war eine kleine Ablenkung und Entspannung. Aber ich hatte es sozusagen in den Knochen, daß etwas passieren würde ...
Am nächsten Tag war also Schulausflug, wir hatten keine große Lust dazu, aber besser als Schule war es jedenfalls. Tante Trullala packte uns Herrlichkeiten ein für unterwegs, und wir schoben los. Da passierte es.
Das heißt – nun ja, eine Keilerei gibt es ja manchmal, vor allem, wenn Neue in eine Klasse kommen. Rupert sagt, das nennt man die Hackordnung, neue Hühner werden zunächst mal von den alteingesessenen gehackt, bis sie sich akklimatisiert haben und in die Herde aufgenommen sind. Insofern war das nicht so schlimm. Und Herr Körner hat es auch fertiggebracht, daß es einigermaßen glimpflich ausging, also nichts mehr zu registrieren war als Nasenbluten und blaue Flecken und ein blaues Auge und ein paar zerrissene Sachen. Immerhin ...
Wir waren zur Spielburg hinaufgegangen und hatten dort erst mal haltgemacht, und Herr Körner erzählte, daß früher hier Kampfspiele stattgefunden hätten. Er beschrieb uns das alles sehr lebendig, fand ich. Wie die Zuschauer im Kreise standen und anfeuernd schrien, und in der Mitte fand der Kampf statt. Es ist sehr schön an der Spielburg. Dort ist auch die Höhle – unsere Höhle, denke ich immer –, in der wir in einer Silvesternacht mal gesessen und Feuer gemacht haben.
Vor allem für die Zirkuskinder erzählte Herr Körner das, denn die anderen aus der Klasse wußten es natürlich. Die beiden Jungen hörten schweigend zu, und Marfa hatte ein ziemlich spöttisches Lächeln um den Mund, so, als ob sie dächte: Naja, so was erzählt man eben, wenn man sich wichtig machen will. Das ärgerte mich. Penny schien es genauso zu gehen. Als Herr Körner dann schwieg, fing sie an zu erzählen: daß es hier auch spukte.
Einmal hatten Jungen hier oben ein Feuer zu machen versucht, darin wollten sie etwas verbrennen, was nicht gefunden werden sollte, alte Briefe oder Papiere oder so was. Das ging aber nicht, es war, als ob eine große Hand darüberstriche; sie versuchten es immer wieder, zuletzt eigentlich nur noch, um sich zu beweisen, daß etwas nicht stimmen konnte – sie fanden es gleichzeitig schön und schauerlich, daß es nicht ging.
„Vermutlich, weil sie nasses Holz genommen hatten“, sagte Marfa jetzt ganz laut und grinste unverschämt. Penny wurde aufgeregt vor Ärger, und weil ein paar lachten, und versuchte zu erklären, daß ...
„So dumm werden die Jungen ja wohl nicht gewesen sein“, sagte sie wütend. Da mischte sich einer der größeren Jungen aus der Klasse ein: „Ich kenne diese Geschichte auch. Nachdem das Feuer das dreizehntemal ausgegangen war, haben die beiden Jungen ...“
„Ja, das hat Irene auch erzählt! Sie haben eine Stimme gehört, die etwas rief, aber nicht deutsch, sondern in einer anderen Sprache“, fiel Penny wieder ein. Da sagte Gero ganz laut und höhnisch: „Das war wohl dein Vater, der Mogler. Oder willst du vielleicht behaupten, daß er wirklich zaubern kann?“
Und da ging es los! Es war, als ob jemand in eine Eisdecke gestoßen hätte, unter der heißes Wasser brodelte. So was gibt’s nicht, ich weiß, aber es wirkte so auf mich. Die ganze Klasse war in Sekundenschnelle ein einziges Durcheinander von Schreien, Stößen und Schlägen, Mädchen ebenso wie Jungen. Wie Herr Körner letzten Endes Ruhe schaffte, ist mir immer schleierhaft geblieben. Vielleicht hat er als Junge auch viel gerauft und wußte noch ein paar Tricks: daß man zum Beispiel einem, der auf einen andern losgeht, schnell ein Bein stellt, so daß er stolpert, und inzwischen den anderen abfängt ... Als die Keilerei zu Ende war, hatte Gero Nasenbluten und Hanko ein blaues Auge. Marfa heulte, sie heulte absichtlich so laut und so, daß man merkte, wir sollten Mitleid mit ihr haben. Ein paar von den Hohenstaufener Jungen sahen auch ziemlich mitgenommen aus. Die ganze Klasse gegen drei Zirkuskinder, weil einer von ihnen Pennys Vater einen Mogelanten genannt hatte. Das war alles so widerlich und scheußlich, daß ich am liebsten heimgerannt und nie wieder in diese Klasse gegangen wäre. Ich hätte es vielleicht tun können, denn ich bin ja sozusagen freiwillig dort, aber ich konnte selbstverständlich Penny nicht im Stich lassen. Penny war ganz weiß im Gesicht, und ihr Blick war zum Fürchten.
Wie gesagt, Herrn Körner war es schließlich gelungen, Ruhe zu schaffen, er befahl mit gewollt lustiger Stimme, das Gepäck wieder aufzunehmen. Überall lagen weggeworfene Taschen und Beutel herum, Rucksäcke trägt man ja auf einem so kleinen Wandertag nicht, und wir zogen los, auf den Hohenstaufen hinauf. Das Steigen ist anstrengend, und dadurch kamen die Kampfhähne auch einigermaßen wieder zu sich und zur Vernunft, und als wir oben angekommen waren, hörten alle geduldig das an, was Herr Körner von den Staufen und Büren erzählte. Eine Burg gibt es auf dem Berg nicht mehr, nur eine Tafel, auf der einiges steht. Ich sah das alles wie durch einen Nebel und hab’ alles wieder vergessen, ich guckte nur immer aus den Augenwinkeln zu Penny hinüber, die mir unheimlich vorkam. Der Ausflug war verdorben und mißglückt, das wußten wir alle. Herr Körner hatte eigentlich vorgehabt, mit uns noch auf den Rechberg hinüberzuwandern, aber er überlegte es sich anders und bog an der Stelle, wo der Asrücken beginnt, wieder nach dem Dorf zu ab und schickte uns alle nach Hause. Ich war froh – nein, nicht froh, froh wurde ich den ganzen Tag nicht mehr, aber es war mir lieb, heim zu dürfen. Es wäre nie mehr hübsch geworden auf dieser Wanderung.
Das schlimmste an dieser Geschichte war, daß wir gar nicht darüber sprechen konnten, auch Penny und ich nicht. Natürlich war ich voll und ganz auf Pennys Seite, auch Zauberkünstler ist ein Beruf, und daß gerade Leute vom Zirkus ihn schlechtmachten, konnte ich eigentlich nicht verstehen. In manchen Zirkussen treten ja schließlich Zauberkünstler auf.
Vielleicht dachte Gero, Pennys Vater kennt vielleicht kleine Tricks und verblüfft das Publikum, während sie selbst alle schwer arbeiten und unermüdlich trainieren müssen. Rupert sagte später einmal so etwas, als wir ihm davon erzählten; wir haben ihm davon erzählt, aber erst viel später. Vorläufig sprachen wir mit niemandem darüber, auch wir beide untereinander nicht, und am nächsten Tag kam dann die Polizei. Gleich am Morgen, wir waren noch nicht aufgestanden. Tante Trullala rief uns.
Der Polizist sagte, die Frau des Zirkusdirektors wäre bei ihm gewesen und habe getobt und geschrien und sich beschwert, jemand hätte nachts die Scheune aufgemacht, in der die Zirkustiere untergebracht waren, alle Ponys und den Schimmel losgebunden und hinausgejagt. Das schlimmste aber sei: Der Bär sei auch fort. Wenn ihnen den jemand erschösse, sei es sehr schlimm, denn er sei unersetzlich! So, da hatten wir es.
Penny und ich kamen ins Wohnzimmer, als Tante uns gerufen hatte, und da war der Polizist gerade so weit mit seiner Erzählung. Wir hörten noch, wie er sagte, er könne es zwar nicht beweisen, daß wir es gewesen wären, die den Zirkusleuten diesen Streich gespielt hätten, aber es läge nahe, denn wir wären ja dauernd im Zirkus und darum herum gewesen. Und der Mann von der Zirkusfrau, der Direktor selbst, sei krank und könne nichts tun, er läge seit zwei Tagen mit einer schweren Bronchitis im Bett, und ...
„Wir müssen los und die Ponys einfangen!“ stammelte Penny, als der Polizist einmal eine Pause machte. „Sie kennen sich doch hier gar nicht aus und laufen womöglich auf Autostraßen, wo sie überfahren werden können ...“
„Vor allem muß der Bär gefunden werden“, sagte der Polizist und sah Penny scharf an. „Wo ist er? Sag es lieber gleich!“
„Woher soll ich denn das wissen?“ fragte Penny und wurde dunkelrot, aber nur einen Augenblick lang. Dann war es, als wiche alles Blut aus ihrem Gesicht, und sie sah schneeweiß aus.
Da mischte sich Rupert ein, der inzwischen dazugekommen war, und fragte, wieso es denn ausgerechnet Penny gewesen sein sollte, die den Bären losgebunden hatte. Da sagte der Polizist eigentlich etwas sehr Nettes. Er brummte, ein wenig verlegen: „Na, trauen Sie das etwa sonst jemandem aus dem Dorf zu? So was bringt doch nur unsere kleine Penny fertig, die sich nicht vor dem Deuwel fürchtet!“
„Unsere kleine Penny“, sagte er. Es stieg mir heiß in die Kehle, und auch Penny tat es gut, ich sah es an ihrem Gesicht. Irgend etwas darin entspannte sich, und jetzt konnte sie auch wieder sprechen. Vorher war sie wie erstarrt gewesen.
„Wir fangen die Ponys wieder ein, wir haben ja Praxis im Einfangen“, sagte sie eifrig. „Ich meine, neulich haben wir ein Reh fangen müssen ...“ Sie wurde ganz eifrig, ganz die alte Penny, die übersprudelt, wenn sie etwas erzählen will, und es hätte wahrhaftig nicht viel gefehlt, da hätte sie dem Polizisten die Susi-Geschichte in allen Einzelheiten erzählt. Er schmunzelte.
„Und den Bären fängst du auch?“ fragte er freundlich. Penny nickte stürmisch.
„Wenn ich ihn finde. Natürlich! Wenn er den Zirkusleuten nichts tut – man könnte ihn ja mit etwas locken, was er gern frißt. Mit Honig – oder –“
„Vor allem aber werde ich mich mal darum kümmern, daß der Zirkusdirektor Besuch von einem Arzt bekommt oder zu einem Arzt gebracht wird“, sagte Rupert und saß schon halb in seinem Auto, „alles andere findet sich. Wie wäre es, wenn Sie, Herr Oberwachtmeister –“, das hörte der Polizist gern, „– in die Schule führen und die ganze Sache Herrn Körner berichteten? Dann könnten alle Schulkinder suchen helfen, und wir hätten die Ponys schnell wieder, ehe etwas passiert. Oder ist es gefährlich wegen des Bären?“
„Wir müssen sehen. Weit kann er ja nicht sein, der Meister Petz“, erwiderte der Polizist.
„Ich meine, ich finde ihn“, sagte Rupert. „Wenn er erst gefunden und sichergestellt ist, kann die Ponyjagd beginnen.“
Er lachte den Polizisten an und winkte ihm, einzusteigen. Und wir? Natürlich wollten wir den Bären finden ...
„Erst kommt mal in die Küche, und eßt und trinkt etwas“, sagte Tante Trullala energisch. „Eher geht man nicht auf Bärenjagd. Vermutlich sehe ich euch dann so bald nicht wieder. Los, jetzt wird gefuttert, Aufregungen machen immer hungrig.“
„Weißt du, wer es war?“ fragte Penny mich, als wir einen Augenblick allein waren. „Niemand anderes als Marfa selbst! Die hat es getan, um uns die Schuld zuzuschieben!“
„So ein Mistvieh!“ sagte ich sofort. „Ich hab’ mir das nämlich auch schon gedacht.“
„Mistvieh“, wiederholte Penny. Sie sagte es anders als ich, halblaut, wo ich herausgeplatzt war, und nachdenklich. „Mistvieh – natürlich ist es gemein, jemanden zu verdächtigen, der es nicht war. Aber weißt du, gestern hat mir Marfa richtig leid getan. Wie die Jungen sich hauten, und alle waren gegen sie, gegen sie und ihre Brüder, alle zusammen ...“
Ich schwieg. Da kam Tante Trullala schon wieder herein, und wir konnten nicht weiterreden. Sie kochte uns einen dicken Kakao und strich uns Brote, und dabei sprach sie ununterbrochen. Das heißt, das ist nicht ganz richtig, sie unterbrach sich selbst immerzu, aber sie redete und redete ...
... daß wir den Bären nicht anfassen dürften und um Gottes willen auf keinen Fall versuchen sollten, uns auf eines der Ponys zu setzen, und die Hunde sollten wir mitnehmen, zum Schutz, aber vielleicht verjagten sie nur die Ponys ...
So ging es, ohne Pause. Wir futterten und sagten dazwischen ja und ha und hm, und schließlich waren wir fertig. Als Tante einmal draußen war, nahm ich schnell ein kleines Glas mit Honig vom Bord. Es hatte einen Schraubdeckel, und so konnte man es gut einstecken. Wir nahmen Bella und Boss an die Leine. Rupert kam zurück und meldete, die Polizei habe durch Funk bekanntgegeben, daß Ponys in der Gegend frei herumliefen, die Autofahrer sollten achtgeben. Diese Gefahr war also schon verringert. Wir hatten aber unsern eigenen Plan.
Erst taten wir, als gingen wir zur Schule, wo Herr Körner dabei war, die größeren Schüler in Trupps einzuteilen, die miteinander losgehen sollten. Wir liefen aber in die Scheune, in der die Tiere gewesen waren. Die liegt ja oberhalb unseres Hauses am Hang, und wir konnten dorthin, ohne daß Tante etwas merkte.
Die Tür stand offen, drinnen war niemand. Wir ließen die Hunde herumschnüffeln und fanden auch einen Käfig, in dem der Bär gesessen haben mochte. Dort sollten sie Witterung nehmen. Sie verstanden das auch, Bären riechen wahrscheinlich sehr stark und für Hunde aufregend, jedenfalls zogen Boss und Bella sofort an den Leinen, die Nasen auf der Erde, zur Scheunentür hinaus. Wir konnten kaum Schritt halten. Sie strebten bergauf, der Spielburg zu.
„Du“, keuchte Penny, die hinter ihrem Boss mehr schleuderte als lief – ein Wunder, daß sie noch nicht auf der Nase lag –, „Bären sind doch Höhlentiere! Ob der nicht ...“
„Natürlich! In der Höhle wird er stecken“, japste ich, bemüht mitzukommen. Beide Hunde liefen bergauf. Sie zogen uns vorwärts, daß uns Hören und Sehen verging. Endlich waren wir oben. Und sie strebten zielbewußt der Höhle zu.
„Langsam, Penny, langsam!“ rief ich. Bange war ich nicht, dazu hatte ich gar keine Zeit, aber ich wollte da dabeisein. Ich gönnte Penny alles Gute, aber dabeisein wollte ich auch. Himmel, hatte sie mit ihrem Boss ein Tempo drauf! Bella riß mich vorwärts. Da war die Höhle. Boss bellte ...
Wahrhaftig, es war so, wie wir es gedacht hatten! Der Bär mußte hier herumgestreift und dann in die Höhle gekrochen sein. Dort saß er, halb aufgerichtet, und sah uns mit seinen winzigen Äuglein entgegen, mehr angstvoll als gefährlich aussehend. Eigentlich wirkte er süß und possierlich, wie er da hockte, der zottige Kerl.
„Halt, halt!“ stöhnte ich. „Wir müssen doch erst mal überlegen.“
Zum Glück schien Penny das auch zu finden. Sie stemmte sich gegen die Leine und ließ Boss nicht hinein. Zunächst war der Bär ja gefunden, das war die Hauptsache. Aber ich kannte Penny. Da der Meister Petz so gutmütig aussah, mußte ich damit rechnen, daß sie gleich hinlief und ihm um den Hals fiel.
„Warte! Wart, ich hab’ Honig mit!“ rief ich also halblaut, um sie zurückzuhalten.
„Hast du? Prima“, antwortete Penny. Sie hatte vorhin gar nicht mitgekriegt, daß ich das Glas heimlich eingesteckt hatte. „Wenn er was zu schlecken bekommt, ist er bestimmt nicht böse!“
Ich war nicht so sicher – mit einer Hand hielt ich Bellas Leine fest, mit der anderen versuchte ich, den Deckel abzuschrauben. Penny trat schnell einen Schritt zurück und half mir. Dann nahm sie mir das offene Glas aus der Hand und näherte sich wieder dem Bären.
„Warte! Wir müssen ihn doch irgendwie festmachen“, flüsterte ich. Penny ließ den Bären nicht aus den Augen, stellte das Glas hin, knüpfte Boss von der Leine und streckte die Hand nach mir aus.
„Deine Leine, gib!“ Ich gehorchte. Sie band das freie Ende an Boss’ Halsband. Beide Hunde waren nun an Bellas Leine, jeder an einem Ende, und die Mitte hielt ich. Sie zogen beide, aber nicht sehr stark, weil ich immerzu „Kusch! Sitz! Halt!“ flüsterte. Penny nahm das Honigglas wieder auf und ging damit dem Bären entgegen. Mir schlug das Herz wie verrückt.
„Vorsicht, Penny, Vorsicht!“ jammerte ich. Der Bär schielte nach dem Honigglas hin. Er sah überhaupt nicht böse aus ...
Bei Bären weiß man nicht, was sie denken. Ob Penny das wußte? Ich konnte nichts sagen, die Angst schnürte mir die Kehle zu. Endlich würgte ich heraus: „Nicht, Penny! Wollen wir nicht warten, bis jemand vom Zirkus ...“
„Ach, Quatsch, wir fangen ihn!“ Penny war ganz besessen, da half keine Warnung, ich hätte es wissen müssen. Sie gab nicht auf.
Der Bär ließ sich jetzt auf die Vorderpfoten herunter und machte ein paar Schritte auf sie zu. Sie hielt ihm das geöffnete Glas entgegen.
„Stell es hin! Stell es hin!“ wisperte ich, halb verrückt vor Angst und Jagdeifer. Sie schüttelte kurz die Zotteln und ging näher.
Mir stand das Herz still. Jetzt war das Gesicht des Bären ganz nahe an ihrer Hand.
Sie stellte das Glas nicht hin. Sie hielt es, der Bär schnüffelte daran und streckte seine Zunge ein wenig heraus. Erst fuhr diese kurz um den Rand des Glases, dann hinein – und nun schmatzte er auf. Jetzt – gottlob! – stellte Penny das Glas behutsam vor ihn hin. Ich atmete unhörbar auf. Sie tat es jedoch nicht, um Abstand von dem Bären zu bekommen, sondern um beide Hände frei zu haben. Penny, bist du wahnsinnig ...
Der Bär sah uns jetzt gar nicht mehr an. Er hatte die Nase im Honigglas, zog sie wieder heraus, leckte sich mit der Zunge um die Schnauze – er sah erstaunt und sehr mollig aus. Hinter mir hörte ich etwas – kam etwa jemand? Ich wagte aber nicht, mich umzudrehen, sondern sah fasziniert auf den Bären, wahrend ich mich zurückstemmte, um die beiden Hunde zu halten, die immer noch vorwärts zogen.
„Nicht wahr, das schmeckt? Ja, das ist das beste für einen kleinen Petz“, schmeichelte Penny und ging noch näher. „Ja, schön ist der Bär, gut ist er, brav ist er. Ja, den ganzen Honig bekommter.“ Sie hatte Boss’ Leine bereits halb um den Bärenhals gelegt.
„Gut so“, flüsterte es hinter mir – ich hörte es und fühlte mich wieder atmen ...
„Siehst du. Und noch einen Schleck Honig.“ Penny sprach unentwegt und zärtlich auf den Bären ein. Das Ende der Leine kam jetzt auf der andern Seite des Bärenhalses zutage. Penny nahm es sanft, zog die Leine behutsam heraus, hakte sie zu, alles unter freundlichem Geflüster: „Na, Petzi, da haben wir dich ja ...“
Jemand war neben mich getreten, lautlos und vorsichtig. Jetzt wagte ich einen Blick zur Seite – Laila, die Schimmelreiterin. Und gleich hinter ihr Rupert. Ich hätte mir das doch denken können! Rupert, unser Schutzengel und Blutsbruder, Rupert war da!
Er hatte genau denselben Gedanken gehabt wie wir: Der Bär würde vermutlich in der Nähe sein. Aber er hatte vorher Laila geholt, und mit ihr war er uns gefolgt, hierher zur Höhle. Jetzt waren sie beide da, und Laila nahm Penny behutsam die Leine aus der Hand, während sie mit der anderen Hand den Bären streichelte, der noch immer am Honig schleckte.
„Ja, brav bist du. Er ist ganz gutmütig, überhaupt nicht gefährlich“, sagte sie halblaut und beruhigend. „Du hast es genau richtig gemacht. So muß man mit ihm umgehen. Er ist seit vielen Jahren bei uns, wir haben schon als kleine Kinder mit ihm gespielt. Er tut keinem was.“
Na, das zu hören war natürlich erleichternd, besonders für Rupert, wie er später sagte; ihm sei ein ganzes Gebirge vom Herzen gefallen, als er das hörte. Natürlich fanden wir einerseits, es wäre viel spannender und großartiger gewesen, wenn wir einen wilden und gefährlichen Bären gefangen hätten, aber dann hätte Penny ...
Penny hätte! Ich war dessen sicher. Penny fürchtet sich nicht vor dem Teufel, wer wußte das besser als ich, ihre beste Freundin. Und da konnte ich dem lieben Gott nur von Herzen dankbar sein, daß wir an einen solchen Bären gekommen waren und nicht an einen bösartigen und bissigen. Nein, die Geschichte damals mit dem Krokodil, das Penny für ein Vierteljahr ins Krankenhaus gebracht hatte, reichte mir. Nun aber war keine Gefahr mehr.
„Geht mit den Hunden voraus, ich komme nach“, sagte Laila, und wir gehorchten.
Der Bär trottete neben Laila her in dem ulkigen Watschelschritt, den diese Sohlengänger haben, ganz brav und zufrieden, weil er Honig bekommen hatte. Immerzu leckte er sich die Schnauze.
Penny hatte mir beide Hunde überlassen – sie waren ja noch immer an einer Leine zusammengekoppelt – und lief neben Laila her. Als wir dem Dorf näher kamen, bettelte sie: „Darf ich mal? Ich möchte ihn so gern mal führen, bitte, bitte!“
Wir verstanden das. Sie hatte ihn ja auch gefangen, und zwar, als wir noch glaubten, er wäre wild und gefährlich. Laila lachte und gab ihr die Leine in die Hand. Und so durfte Penny wahrhaftig Einzug ins Dorf halten, das Raubtier neben sich führend, strahlend vor Stolz.
Sobald der Bär in seinem Käfig saß – er ging ganz willig hinein, schien sich dort gleich wie zu Hause zu fühlen – und die Käfigtür geschlossen war, rannte Rupert hinaus und ans nächste Telefon. Erst der Polizei Bescheid geben, dann der Schule! Nun konnte die Ponyjagd beginnen.
Wir beteiligten uns natürlich daran. Herr Körner teilte uns ein, in Trupps zu drei und vier Kindern, und befahl allen, erst schnell nach Hause zu laufen und einen Gürtel zu holen.
„Den legt ihr den Ponys um den Hals, wenn ihr sie habt“, erklärte er, „und so führt ihr sie zur Scheune. Nicht zuziehen, sondern lose herumlegen.“ Er hatte sich mit der Frau des Direktors besprochen. Wir gehorchten und zogen dann sogleich los.
Während wir die nächsten Stunden bergauf und bergab rannten, Penny und ich und noch ein Hohenstaufener Junge, waren wir trotz aller Anstrengungen von Herzen vergnügt. Es ist etwas ganz anderes, Ponys einzufangen, die man nicht selber herausgelassen hat, als ein Reh, an dessen Flucht man schuld ist.
Damals hatte uns das Rennen viel mehr mitgenommen, weil die Schuld auf uns lag. Ich erinnerte mich genau an den trockenen Mund, den ich hatte, und an mein Herzklopfen, von dem ich immer dachte, es schlägt da drin etwas kaputt. Jetzt genossen wir das Ganze mehr wie ein Indianerspiel mit Umherspähen und Anschleichen.
Mittags waren alle Tiere wieder auf Nummer Sicher. Den dicken Schimmel hatte Laila gleich anfangs gefunden, er stand unterhalb der Schulwiese und weidete ab, was noch an Gras abzuweiden war. Sie nahm ihn zärtlich an der Mähne und führte ihn zurück. Man sah ihr an, wie froh sie war. Laila hat, so jung sie ist, etwas Mütterliches an sich. Sie schloß sich dann unserer Gruppe an, und wir fingen noch drei Ponys. Herr Körner lobte alle, die mitgesucht hatten, und gab uns dann schulfrei. Es war sowieso fast Mittag.
Erschöpft, aber vergnügt kamen wir heim, und dort wurde endlos erzählt. Tante Trullala bewunderte uns natürlich sehr, sie erzählte, es wäre sogar jemand von der Zeitung dagewesen, der einen Bericht schreiben wollte. „Höhlenbären auf dem Hohenstaufen“ sollte er heißen oder so ähnlich, und er wollte auch noch ein Bild machen von Penny und dem Bären.
Da aber sträubte sich Penny. Sie sagte, es käme überhaupt nicht in Frage, daß sie sich fotografieren ließe, und ich sah es gefährlich in ihren Augen funkeln. Da winkte ich Tante Trullala unauffällig zu, und sie verstand mich sofort.
„Gut, ich schick’ ihn fort, wenn er kommt“, verhieß sie und tat uns noch einmal Salat auf den Teller. So erschien der Bericht am nächsten Tag ohne Bild, und das war besser so, ich hatte das im Gefühl.
Am anderen Tag sah überhaupt alles anders aus. Die Zirkuskinder kamen nicht in die Schule, und ein Hohenstaufener erzählte, der Vater von ihnen sei sehr krank. Ob das stimmte, wußten wir nicht, aber ins Krankenhaus war er gebracht worden, das wußte auch Rupert. Wir waren betrübt und bedrückt, und es ließ uns keine Ruhe. Schließlich gingen wir mit Rupert zusammen zu der Scheune, in der die Tiere untergebracht waren.
Die Tür war verschlossen. Wir klopften, keine Antwort. Ein Weilchen standen wir herum und wußten nicht, was wir anfangen sollten. Mir lag es auch schwer auf dem Herzen, daß ich nun bald fortmußte. Auch acht geschenkte Tage, die die Herbstferien verlängern, gehen einmal zu Ende
Ich sprach davon. „Aber Weihnachten komm’ ich ja wieder“, setzte ich hinzu, als ich Pennys unglückliches Gesicht sah. Auf einmal war es, als gäbe sie sich einen Ruck, und dann sagte sie schnell, als müßte sie es so bald wie möglich hinter sich haben: „Musch, du bist meine beste Freundin. Auch wenn du nicht hier bist. Meine allerallerbeste. Aber ich glaube, wir müssen uns um Marfa kümmern. Ich will nicht Marfa als Freundin haben für die Zeit, in der du nicht da bist, verstehst du – aber ...“
„Aber?“
„Wir müssen versuchen, ihr zu helfen. Am besten, solange du noch hier bist. Ob wir ihr einfach sagen, wir möchten sie als Freundin haben? Sie ist doch ganz verscheucht, und wie es ist, allein in einer neuen Klasse zu sein, das weiß ich noch gut. Sie hat zwar zwei Brüder mit, aber die haben einander – wollen wir es versuchen? Kommst du mit, Rupert?“
„Recht hast du, Penny“, sagte Rupert, „ich wollte sowieso mit euch darüber sprechen. Wißt ihr, wo die Zirkusleute im Dorf wohnen? Kommt, los, wir gehen mal hin. Ich frage, wie es dem Direktor geht, das Weitere findet sich schon.“
Wir wanderten durchs Dorf, die Hunde liefen voraus und sprangen hin und her, aber wir rannten nicht wie sonst. In das Haus ging Rupert allein hinein. Es ist manchmal gut, wenn man einen Erwachsenen dabeihat; natürlich jemanden, der jüngere Menschen versteht, so einen wie Rupert eben. Die sind natürlich selten ... Er blieb lange. Als er aber herauskam, brachte er wahrhaftig Marfa mit, und auf dem Arm trug er den Kleinen, der mit dem Schnuller im Mund schon mit aufgetreten war. Auch jetzt hatte er ihn im Mäulchen, und Rupert, der lange Kerl mit dem Kind auf dem Arm, sah so komisch aus, daß wir laut lachen mußten. Und danach war uns schon sehr viel wohler.
„Das ist Iwo, er will euch gern kennenlernen, euch und eure Hunde“, erklärte er. „Ich habe Marfa erzählt, daß ihr sie gern abholen wolltet, aber weil Iwo dabei ist, können wir nicht sehr weit laufen. Ich breche sonst unter seinem Gewicht zusammen. Dabeisein wollte er auf jeden Fall ...“
Wir lachten, Iwo konnte sicherlich noch keinen Satz reden.
„Und da dachte ich –“, fuhr Rupert fort, „wir gehen mal zu Irene und fragen, ob wir den Manderl haben können und mit ihm spazierenfahren, wie damals, mit dem Gig ...“
„Aber nicht nach Maitis zum Krokodil, das bitte ich mir aus!“ rief ich sofort, und dann erzählten wir Marfa, während wir durchs Dorf gingen, die Krokodilgeschichte. Marfa sagte nicht viel, aber manchmal antwortete sie doch, und das empfanden wir schon als großen Fortschritt. Irene war zum Glück zu Hause, sagte sofort ja, als Rupert mit seiner Bitte kam, und half uns, den Manderl einzuspannen. Rupert und sie sahen einander nur manchmal ganz kurz an und waren beide verlegen. Warum, weiß ich wirklich nicht, man kann doch mal um etwas bitten, ohne rot und verlegen zu werden. Schließlich waren wir fertig und stiegen ein.
„Kommt gesund wieder!“ rief Irene noch und lief ins Haus. Wir saßen etwas eng, Rupert in der Mitte, Penny und ich links von ihm, rechts Marfa.
Rupert war mit dem kleinen Iwo auf dem Arm eingestiegen. Er wollte ihn, um die Zügel aufzunehmen, an Marfa weitergeben, aber Iwo klammerte sich an ihn und fing an, trotz des Schnullers im Mund, zu schreien.
„Ach, du kleines Scheusal.“ Rupert sah ziemlich hilflos aus, dann aber sagte er: „Ach, Marfa, sei so gut und kutschiere du! Der junge Mann hier hat anscheinend seinen eigenen Kopf, und du kannst ja mit Pferden umgehen.“
Eine Sekunde lang war ich beleidigt: Hatten nicht Penny oder ich das erste Recht darauf, den Manderl zu kutschieren? Dann aber ging mir auf, was Rupert im Sinn hatte ...
„Ja, der Manderl geht manchmal durch, neulich erst, vor der Bretterkutsche“, sagte ich also und tat, als wäre ich sehr froh, die Zügel nicht nehmen zu müssen. Penny saß außen an der Bremse. Sie hatte auch sofort verstanden.
„Und das Micken übernehme ich“, sagte sie wichtig. „Micken“ sagt man hier für Bremsen. So fuhren wir los.
Es wurde eine sehr lustige Fahrt. Der Manderl war übermütig und ging los wie das Donnerwetter, und Marfa hatte alle Hände voll zu tun. Rupert riet ihr, erst mal ein Stück bergauf zu fahren. Dadurch kam der Manderl in eine gemäßigtere Gangart, und wir erzählten, daß wir auf ihm ritten und an ihm voltigierten und winters mit ihm Klingelschlitten fuhren.
Allmählich taute Marfa auf. Sie erzählte Begebnisse, die sie mit Pferden erlebt hatte, und langsam wurde es beinahe wirklich so, als führen drei Freundinnen mit einem jungen Mann spazieren – mit zweien, Iwo zählte natürlich auch! Boss und Bella sprangen voran oder nebenher, mit heraushängenden Zungen.
„Nur den Schnuller müßtest du Iwo abgewöhnen“, sagte Penny einmal, „ich kann keine Schnuller leiden. Meine Kinder kriegen mal keine.“
Da lachte Marfa das erstemal.
„Könnt ihr euch nicht denken, daß wir ihn ihm sogar angewöhnt haben? Er sieht dann babyhafter aus, und seine Kunststücke auf dem Esel wirken viel besser. Habt ihr nicht gemerkt, wie alle lachten, als er hereinritt?“
Ja so! Das verstanden wir. Und nun wurde Marfa richtig lebendig und erzählte weiter: vom Zirkus, von ihren Geschwistern, von ihrem Leben, das heute da und morgen dort ist, eigentlich heimatlos. Die einzige Heimat ist ihr Zirkuszelt. Und was sollte werden, wenn ihr Vater nicht wieder gesund würde!
„Der wird! Eine Bronchitis übersteht jeder, der rechtzeitig in gute Pflege kommt“, sagte Rupert, felsenfest überzeugt davon, „und er hat doch einen ganzen langen Winter vor sich, um sich in Ruhe auszukurieren. Hier in Hohenstaufen herrscht Höhenluft, die ist sehr gut für kranke Bronchien. Im Frühjahr ist er gesund. Und dann zieht ihr wieder los. Du sollst sehen, bis dahin hast du schon wieder Lust dazu!“
„Aber vorläufig bleibt ihr hier, und nächsten Winter kommt ihr vielleicht wieder her zum Winterquartier“, fiel Penny jetzt eifrig ein, „und dann wartet hier eine Freundin auf dich, ich nämlich! Überhaupt, wenn Musch wegmuß ...“ Dabei kniff sie mich ganz fest ins Bein, so daß ich stöhnen mußte, aber ich wußte genau, was das Kneifen bedeutete. „Wenn Musch nicht mehr hier ist, setzt du dich in der Schule neben mich! Und wir halten dann zusammen, so wie Musch und ich. Man kann auch zu dritt ganz furchtbar fest befreundet sein.“
„Zu dritt? Hoffentlich zu viert!“ rief Rupert hier empört ... „Oder wollt ihr mich jetzt etwa auf den Mist schmeißen? Dann sollt ihr aber euer blaues Wunder erleben!“ Er hatte so laut gerufen, daß Iwo heftig erschrak und anfing zu plärren, und dabei fiel ihm der Schnuller aus dem Mund und vom Wagen runter und ...
Ja, Penny schaltete natürlich wieder am allerschnellsten. Sie sprang im Fahren seitlich vom Gig, was man nicht tun soll – man muß immer in Fahrtrichtung springen, sonst haut es einen hin, und das war auch prompt bei Penny der Fall, aber es verdroß sie gar nicht, sie blieb gleich auf allen vieren und krabbelte blitzschnell dahin, wo der Schnuller lag.
Wir lachten, denn es sah wirklich sehr komisch aus, so daß wir gar nichts sagen konnten. Wir sahen nur, wie Penny, das scheußliche Gummiding in der Faust, schon wieder neben dem weiterfahrenden Gig herrannte und wilde Zeichen machte, während sie schrie: „Anhalten, anhalten!“ Das Geschrei machte aber den Manderl scheu, er legte blitzartig los, und Marfa konnte ihn im Augenblick wirklich nicht anhalten. Aber da war Penny schon, affenartig geschickt, aufs Trittbrett gesprungen, und ich zerrte und zog sie glücklich auf den Sitz herauf.
„Da“, sagte sie atemlos und wollte dem Kleinen den Schnuller in den Mund stopfen, aber durch das Holpern des Wagens traf sie daneben, und auf einmal – wir wußten nicht, wie es geschah – hatte Rupert den Schnuller im Mund.
„Pfui Spinne!“ schimpfte er, nachdem er ihn wieder herausgerissen hatte.
Wir lachten über sein Gesicht, so daß wir beinahe vom Wagen fielen. Iwo schrie wie am Spieß, bis Rupert ihm endlich das Mäulchen stopfte.
„So, und nun fahren wir noch ein Stück vernünftig“, sagte er, sich erleichtert zurücklehnend. „Marfa, du bist jetzt verantwortlich dafür. Ordentlichen Trab, aber nicht mehr, sonst rennen sich ja die Hunde zu Tode! Guckt mal, dort lassen die Jungen Drachen steigen!“
Wahrhaftig! Über einer Wiese etwas unterhalb der Straße zeichnete sich am Himmel ein achteckiges zartgelbes Etwas in der Luft ab. Drachensteigen, Herbst – wir wußten ja, daß es Herbst war. Aber ich würde wiederkommen, bald ...
„Natürlich kommst du wieder“, sagte Penny, die dasselbe gedacht hatte, „und Marfa bleibt erst mal da – und Rupert hat auch versprochen wiederzukommen.“
„O ja, bestimmt!“ versicherte er mit leuchtenden Augen.
Auf einmal fand ich, daß alles ringsum leuchtete. Die schon ein wenig gefärbten Laubbäume am Hohenstaufen, die Ebereschen an den Bäumen rechts und links der Straße, der Himmel. Eine leuchtende Welt ...
Klapp, klapp machten Manderls Hufe. Sonst war es ganz still. Keiner von uns sagte etwas. Aber es war eine gute Stille, denn wir fühlten alle dasselbe: daß wir zusammengehörten, jetzt und später.
Und das ist vielleicht mit das Beste, was man fühlen kann.