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Wer nie den Sand geküßt 1

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Vorwärts, Hjela, Galopp ... und Sprung ...“

Kornelia war fest überzeugt, daß die Stute gehorchen und das soeben kunstvoll aufgebaute Rick in weitem Sprunge nehmen würde. Sie gab die Zügel vor und ging mit der Bewegung. Aber hier, wie überhaupt ...

Hjela, die sich im Gelände über Baumstämme und Gräben fliegen ließ, viel höher als nötig, schien nicht einzusehen, warum man hier, auf dem Stoppelfeld, über ein Hindernis gehen sollte, neben dem rechts und links genügend Platz war, es zu umrunden.

Sie schien diese Absicht zu haben, konnte sich aber nicht entschließen, nach welcher Seite hin, und stemmte kurzerhand die Vorderbeine ein, den Kopf senkend. Sie verweigerte den Sprung. Kornelia, leicht, wie man mit siebzehn Jahren ist, flog, wie von einem Katapult geschleudert, in einem bildschönen Salto über Hjelas Kopf hinweg und landete allein hinter dem Rick. Da sie sich in der Luft instinktiv zusammengerollt hatte wie ein Igel – es war nicht ihr erster Sturz, wahrhaftig nicht, dazu ritt sie schon zu lange –, tat sie sich nicht weh, sondern stand sofort wieder auf den Beinen, freilich aufgebracht und zornig, sowohl auf sich als auch auf die Stute.

„Hoppla, na warte, meine Liebe!“

Das gute an den Islandponys war ja, daß sie stehenblieben, eine wahrhaft liebenswerte Eigenschaft. Ein Pferd, wie beispielsweise Kronos, den Bertram gern ritt und mitunter auch noch sprang, würde jetzt vermutlich davongehen, womöglich in den herabhängenden Zügel treten und stürzen oder sich sonst etwas tun. Hjela stand – Kornelia hatte zwar den Eindruck, als grinse sie schadenfroh, das aber war schließlich ihr gutes Recht, wenn sie ihren Reiter losgeworden war.

„So, jetzt noch einmal. Meine Liebe, diesmal passe ich aber viel besser auf.“

„Vor allem würde ich bis ans Rick rantreiben, immerzu treiben, erst im letzten Augenblick Luft geben.“

Kornelia fuhr herum. Aber der Schreck und der Ärger, daß jemand ihre Blamage gesehen haben mußte, wich sofort einer Erleichterung: Es war Pölze, die hinter dem Schlehengebüsch am Rande des Feldes hervorgetreten war, Pölze, Kornelias junge Tante, jedenfalls angeheiratete Tante.

Kornelias Mutter war Witwe und hatte jahrelang ihre drei ledigen Brüder betreut, bis Pölze einen davon, Bertram Werth, heiratete. Frau Kayser lebte mit ihren vier Kindern, von denen Kornelia das älteste war, auf einem Vorwerk nahe dem Werthschen Gut und konnte sich nun ganz diesen Kindern und ihrer Hundezucht widmen, bei der ihr Kornelia mit Eifer und viel Verständnis half. Kornelia sah man fast nie ohne Hund; auch jetzt lag Tina, ihr Liebling, eine ausnehmend schöne, ziemlich große Schäferhündin, hechelnd und aufmerksam neben dem Gebüsch. Sie durfte nicht auffahren und bellen, wenn ihre Herrin ritt. Pölze wäre beinahe auf sie getreten.

„Ich hätte mir denken können, daß sie hier ist, übrigens gut gezogen, Koko, daß sie so gehorcht. Spring noch mal, treibe bis ans Hindernis, und gib dann Luft. Mit dem Kreuz treiben, verstehst du, Achtung – ja.“

Richtig, nun sprang die Stute, Kornelia setzte auf, wendete das Pony, das übrigens fast die Größe eines Norwegers hatte, und kam zu Pölze herangeritten. Dann saß Sie ab und klopfte der Stute den Hals.

„Brav, brav. – Ja, sie reagiert mehr auf Kreuz als auf Schenkel. Und der Sprung jetzt war doch ordentlich, nicht?“ Sie schlenderte, den Arm durch den Zügel gesteckt, neben der jungen Tante weiter.

„Tante“, sagte sie übrigens nie, höchstens mal aus Neckerei. Aber sie liebte Pölze sehr, und auch Pölze hatte sich sofort herzlich an die zehn Jahre Jüngere angeschlossen. Jetzt, da sie einen kleinen Sohn besaß und das zweite Kind erwartete, war es mit ihrem Reiten natürlich zunächst einmal vorbei, um so mehr kümmerte sie sich um Kornelias Reiterei.

„Ich komm’ aber wieder in den Sattel, denk nur nicht, daß ich bereits altes Eisen bin“, drohte sie manchmal. „Jetzt aber bist du vorn. Ein Glück, daß du unsere Isländer reitest, bis ich wieder soweit bin.“

Dieses „Glück“ war kein so reines, jedenfalls dachte Frau Kayser dies mitunter. Kornelia zeigte wenig Interesse für die Schule, bedauerlich wenig. Schon die Tatsache, daß sie sich allzuviel mit den Hunden abgab, bekam ihrem Zeugnis schlecht; man sah genau die abfallende Kurve der Noten, wenn die Wurfkiste daheim voll junger Welpen war. Dazu nun auch noch die Reiterei ... Besonders in Sprachen hatte Kornelia schmählich schlechte Noten, obwohl sie recht begabt und leichter Auffassung war. Aber sie war noch heute wie anfangs in der Volksschule der Meinung, die Schule könne man „nebenbei“ erledigen, und dies ist und bleibt ein Fehlglaube.

Auch jetzt sprachen sie davon. Pölze versuchte, der Jüngeren klarzumachen, daß für Kornelia noch – noch! – die Schule die Hauptsache war und die Tiere die zweite Geige zu spielen hatten, wie sie es nannte.

„Später kannst du es dann halten, wie du willst, aber jetzt ...“

Kornelia lachte nur. „Ich will raus aus der Schule. Muß denn jeder das Abitur machen? Ich will ja gar nicht studieren. Zum Hundezüchten und zum Reitwart brauche ich doch kein Abitur, da ist die mittlere Reife dicke genug ...“

„Wer die Möglichkeit hat, bis zum Abitur zu gehen, soll sie ausnutzen“, eiferte Pölze sehr erwachsen, aber in Wahrheit nicht ganz überzeugt. Ihr selbst war die Schule auch nicht unbedingt wichtig gewesen, ebenso wie ihr späteres, ziemlich kurzes Studium. „Sieh meine Schwester Svea an! Die hat, obwohl verlobt, ihr Abitur doch noch gemacht, dabei hat sie doch über ein Jahr aussetzen müssen, und nun will sie noch Buchhändlerin lernen, um nicht ohne Beruf zu sein. Es kann ja immer vorkommen, daß die Frau allein für die Kinder zu sorgen hat, wenn dem Mann etwas zustößt, und Conrad bringt schon zwei Kinder mit in die Ehe, Volker und Thomas, du kennst sie ja ...“

„Svea wird Buchhändlerin?“ staunte Kornelia. „Da will sie mit der Heirat noch mal drei Jahre warten? Das finde ich blöd“, sagte sie ehrlich. Pölze mußte lachen. Es klang überaus apodiktisch – und gleichzeitig bemerkenswert kindisch.

„Erstens ist so was nicht blöd, sondern genau das Gegenteil, nämlich klug, und zweitens wartet sie gar nicht. Sie heiratet, macht die Lehre aber trotzdem. Onkel Hipp, der ja immer wie ein Vater zu uns war, hat ihr einen kleinen Wagen gekauft, mit dem sie täglich in die Stadt fährt. Volker geht nun auch schon in die höhere Schule, und Thomas bleibt halt unter Tante Ulles Fuchtel, die ich wahrhaftig auch kennenlernte. Da ist man streng gehalten, aber gut behütet. Ja, die beiden Jungen wachsen heran ... übrigens sind wir zur Hochzeit eingeladen. Bertram und ich ... und du auch. Sie haben sie extra in die Herbstferien gelegt, damit du mitkommen kannst. Freust du dich?“

„Und wie! Endlich mal eine Hochzeit! Als du heiratetest, war ich ja noch zu klein für so was“, lachte Kornelia. „Hurra! Übrigens, wohin wolltest du?“ Sie waren miteinander ein Stück dem Wald entgegengewandert.

„Ach, nur so. Luft schnappen. Berti schlief, da dachte ich, ich bewege mich ein bißchen draußen.“ Und dann nach einem kurzen Seitenblick auf die Jüngere: „Doch dir kann ich’s ja sagen, du hältst den Schnabel: Ich sah neulich hier einen Dogcart fahren, einen Einspänner mit einem Shetlandpony davor. Es war schon schummerig, und ich konnte nicht erkennen, wer es war. Da dachte ich, vielleicht treff’ ich ihn heute wieder.“

Alles, was mit Pferden und Hunden zusammenhing, war für sie beide wichtig. Kornelia wußte auch, wie man sogleich merkte, Bescheid.

„Wer das ist? Das kann ich dir sagen, die Tochter von Dr. Grünwald, dem Tierarzt, der die vielen Kinder hat, weißt du, die Älteste. Sie geht ein paar Klassen unter mir in meine Schule und erzählte mir neulich, sie habe es satt, immer mit den kleinen Geschwistern spazierentrödeln zu müssen. Da habe ihr Vater ihr endlich einen Dogcart gekauft. In dem fährt sie jetzt die Kleinen aus, wenn Mutter mal Ruhe haben soll. Geht prima, sagt sie, alle, die sonst ekelhaft und bockig sind, werden sanft und lenksam, wenn es heißt: ‚Du darfst sonst nicht mitfahren.‘ Spazierengehen haben sie gehaßt. Wir übrigens auch. Wahrscheinlich tun das alle Kinder.“

„Ach! Prima von dem Vater! Und ...“

„Und da fährt sie jetzt jeden Tag. Meist hier, natürlich auf keinen Fall Autostraßen. Vielleicht treffen wir sie tatsächlich. Dr. Grünwald hat eine sehr schöne Dackelzucht, wußtest du das? Lauter V-Hunde, ich sah sie auf einer Ausstellung. Die werden gekauft wie wild. Du mußt mal mit hin und sie angucken.“

„Gerne. – Du, Koko?“

„Hm?“

„Wenn Grünwalds jetzt ein eingefahrenes Shetlandpony haben, da könnten wir doch eigentlich mal ...“

„Was denn?“

„Vierspännig fahren. Sieh mal, ich kann jetzt nicht reiten, und fahren macht doch auch Spaß. Erle und Espe haben wir, und Unband – Blessy soll nicht gefahren werden, bis die Wunde abgeheilt ist. Da könnten wir statt dessen doch dieses Pony nehmen. Was ist es denn?“

„Stute. Lottchen heißt sie. Unbändiges Temperament.“

„Na, dann wird sie ja zu Unband passen. Wollen wir?“

„Heute?“ Kornelias Augen funkelten.

„Bist du närrisch? Heute! Dazu brauchen wir einen ganzen Nachmittag, damit wir auch was davon haben! Aber wie wär’ es morgen? Am frühen Nachmittag? Natürlich erst, nachdem du Schularbeiten gemacht hast“, fügte Pölze bieder hinzu. Kornelia sah sie aus den Augenwinkeln an.

„Natürlich. Aber ich hab’ das Gefühl, daß ich morgen – morgen ist Mittwoch, nicht wahr? –, ja also, daß ich da gar, gar nichts aufhaben werde ...“

Kornelia mußte Hjela noch auf die Isländerkoppel zurückbringen. So saß sie auf, winkte Pölze zu und trabte davon, während Pölze sich heimwärts wandte. Kornelia ritt in Gedanken und bemerkte erst etwas spät einen Menschentrupp von etwa sechzehn Mann, der ihr entgegenkam. Es waren die Strafgefangenen, die in Niederwerth arbeiteten. Sie gingen im Gleichschritt, zwei Wachmänner mit ihnen, einer an der Seite, der andere hinten. Kornelia bog ein wenig hastig ab, um nicht nahe an ihnen vorbeizureiten. Sie konnte sich vorstellen, daß es auf die Männer aufreizend wirken mußte, wenn sie sie zu Pferd sahen. Sicher meinten sie, sie wäre ein Luxusgeschöpf und täte nichts anderes als reiten.

Bertram Werth arbeitete seit Jahren mit Strafgefangenen, Tagelöhner gab es hier kaum mehr. Kornelia wußte, daß Pölze sich daran nur schwer gewöhnt hatte. Daheim auf dem Rosenhof arbeitete Onkel Hipp noch mit Leuten, die seit Generationen zum Gut gehörten, einer richtigen Gutsgemeinschaft. Hier waren es Insassen der Strafanstalt aus der etwas entfernten Großstadt, die jeden Tag mit dem Spezialbus herausgefahren wurden. Kornelia wußte, daß Pölze am Anfang ihrer Ehe mit Bertram gesprochen hatte, ob dies nicht zu ändern sei. Es sei ihr unheimlich, hatte sie gemeint.

„Du mußt das anders ansehen“, hatte er damals geantwortet, „nicht daß dies Männer sind, die Böses im Schilde führen. Es sind Gestrauchelte, solche, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind und schwer an ihrer Unfreiheit leiden. Wenn sie hier im Freien arbeiten dürfen – Feldarbeit ist keine Schinderei, ich habe sie selbst jahrelang getan –, so ist das eine Vergünstigung, die man ihnen gönnen sollte.“

Pölze hatte Kornelia davon erzählt, und Kornelia mußte jetzt daran denken, als sie, einen Bogen schlagend, um den Trupp Männer herumritt. Auch auf weitere Entfernung und bei der nun einfallenden Dämmerung glaubte sie erkennen zu können, wie finster die Männer aussahen. Sie selbst kannte es nicht anders, als daß dieser Bus kam und abfuhr und daß man den Männern, wenn man zu Pferde saß, aus dem Weg ritt. Daß sich Pölze fürchtete, fand sie übertrieben, es waren schließlich immer zwei Wachmänner dabei. Und Pölze war sonst wahrhaftig nicht ängstlich; sie hatte auf dem Rosenhof junge Pferde angeritten, Turniere mitgemacht und sich an Geländeritten beteiligt, bei denen sich manchen männlichen Teilnehmern die Haare gesträubt hatten. Wer reitet, darf kein ängstliches Herz haben. Reitersleute, die sich fürchten, taugen nichts.

„Wo warst du denn heute nachmittag?“ fragte Frau Kayser, als Kornelia heimkam.

„Bei Pölze. Wir sind ein Stück spazierengegangen“, erzählte Kornelia harmlos, während sie in ihrer Schulmappe kramte. „Morgen gehen wir wieder. Pölze braucht jetzt ein wenig Bewegung und Ablenkung.“

Frau Kayser schwieg. Aber sie hätte keine Mutter sein müssen, wenn sie nicht gemerkt hätte, daß das „Spazierengehen“ morgen etwas anderes war als das übliche. Trotzdem sagte oder fragte sie nichts. Kornelia war zur Zeit schwer zu ertragen, ungeheuer eigenwillig, sie konnte beim geringsten Anlaß aufbrausen oder sich verbocken. Wie das werden sollte, wenn es einmal einen ernstlichen Konflikt geben würde – und wo blieben ernstliche Konflikte schon aus? –, wagte die Mutter nicht abzusehen.

Kornelia ahnte nichts von den Gedanken ihrer Mutter, auch am andern Tage nicht. Sie setzte sich gleich nach Tisch an ihre Schularbeiten und brachte sie so schnell wie möglich hinter sich. Dann pfiff sie nach Tina, die bisher, die Schnauze auf die Vorderfüße gebettet, in der Ecke des Zimmers gelegen und zu ihr hingeguckt hatte. Sie sprang sofort auf, und zusammen marschierten sie ab nach Niederwerth hinüber. Kornelia wollte Pölze beim Einspannen helfen.

Aber Pölze hatte es nicht erwarten können. Erle und Espe standen schon angeschirrt vor dem kleinen Zweispänner, und Unband, der Shettyhengst, wartete daneben. Pölze legte gerade die Geschirre für ihn und Lottchen und den zweiten Kreuzzügel hinten in den Wagen.

„Hoffentlich spinnt er nicht, wenn er die neue Schönheit sieht“, sagte sie, während sie einstieg, „komm hier her, neben mich, du kannst ihn halten.“

„Lottchen ist gedeckt, sie fohlt im März“, beruhigte Kornelia sie und sich selbst. Unband ging zwar brav und willig mit den zwei Stuten, die er kannte, wie er aber bei einer fremden reagieren würde, konnte man nicht voraussagen. Er hatte ein Temperament, das dem seiner Mutter Unfug ähnelte.

Zunächst aber ging alles glatt. Erle und Espe trabten dahin, und Unband lief neben dem Wagen her, fing allerdings, kaum daß man den Hof verlassen hatte, wie irrsinnig zu trompeten an. Tina, die es nicht mochte, wenn Pferde wiehern, erhob ihre sonore Stimme nun auch, und von einem leisen und heimlichen Davonschleichen konnte keine Rede sein.

„Warum auch, wir fahren ja zu keinem heimlichen Rendezvous“, sagte Kornelia, ärgerlich darüber, daß sie ihren Hund nicht zum Schweigen bringen konnte, und Pölze antwortete zerstreut: „Na eben.“

Auf halbem Weg bereits trafen sie Renate Grünwald mit ihrem Wägelchen.

„Ich wollte mich leise davonstehlen, aber da bellte die Zenzi wie verrückt“, berichtete sie als erstes. Neben ihrem Wagen lief – natürlich – der obligate Dackel.

Da mußten sie alle drei lachen. „Aber meinen kleinen Geschwistern bin ich diesmal mit Erfolg durchgegangen. Ich dachte, es sei vielleicht doch besser, sie warten, ehe sie auf einem Vierspänner, bestehend aus drei Stuten und einem Hengst, ihre Ausfahrten machen.“

Pölze hatte Kornelia die Zügel gegeben und war ausgestiegen. Sie nahm Unband kurz.

„So, so, mein Lieber, das ist Lottchen, und du wirst dich benehmen wie ein guterzogener Hengst, hast du verstanden?“ Sie führte ihn an das fremde Pony heran. „Nichts Aufregendes, nichts Gefährliches. So, beschnuppert euch mal ausgiebig, und sagt euch guten Tag. Nein. Unband, so war das nicht gemeint ...“ Der kleine Hengst schnaubte aufgeregt, stellte die Ohren auf, machte aus dem Hals einen runden Kragen und ging vorn hoch, mit den Vorderbeinen in der Luft herumschlegelnd. Sie hielt ihn kurz unterm Kinn und zwang ihn wieder herunter, daß er aufsetzte und still stand.

„Das ist nur am Anfang, das gibt sich“, versicherte sie Renate gegenüber, die etwas skeptisch dreinsah. „Vielleicht ist es besser, wir spannen ihn neben Erle, die hat die Ruhe weg, und lassen Lottchen vorn neben Espe gehen.“

Schön. Kornelia sprang vom Wagen und half, Espe wurde ausgeschirrt und Unband an ihren Platz gestellt, dann kamen die zwei vorderen Ponys dran. Die gehen beim Vierspänner ohne Deichsel, sind also etwas schwierig zu fahren.

„Aber wir sind ja zu dritt“, beruhigte Kornelia sich und die anderen, „vielleicht fahren wir erst mal mit zwei Zügeln. Einer fährt die vorderen beiden, einer die hinteren. Aber wer?“

„Wir zwei, du und ich“, meinte Renate nach einem kurzen Zögern, „und Sie, Frau Werth, gehen vielleicht ein bißchen weg ...“

„Ich? Weggehen? Warum denn?“ fragte Pölze empört. „Ich glaube, Unband kann es brauchen, daß sich jemand um ihn kümmert. Komm her, mein Lieber, so geht das nicht ...“

Der kleine Hengst stieg im Geschirr, schlug aus, kam mit dem einen Hinterbein über die Deichsel und brachte alles durcheinander. Nun wurden auch die Stuten unruhig und traten hin und her.

„Fahrt los!“ rief Pölze den beiden zu, die etwas bedenklich auf ihr Vierergespann guckten. Sie schob Unband an seinen Platz, hielt ihn vorsorglich – „nun gib doch nicht so an!“ – und winkte den beiden zu: „Abfahrt, vorwärts! Beim Fahren richtet er sich schon ein!“

Erle und Espe zogen gehorsam an, Lottchen folgte. Ihr eisengraues Fell hatte bereits dunkle Schweißflecken, weil sie sich aufregte. Aber Pferde sind Herdentiere und lassen sich von anderen mitnehmen. Darauf hatte Pölze gerechnet. So begann nun auch Unband, als seine drei Damen sich ins Geschirr legten, zu ziehen, und siehe da, der Vierspänner fuhr ohne Zwischenfall los, allerdings in einem nicht berechneten, ziemlich atemberaubenden Tempo. Pölze mußte loslassen und zur Seite springen.

„Laßt sie laufen, damit sie sich die Mucken abreagieren. Sie werden schon müde werden“, rief sie den beiden Kutscherinnen zu. Dann stand sie und sah das Wägelchen kleiner und kleiner werden.

Alles ging gut. Pferde sind wie Kinder: Solange man sie beschäftigt, machen sie keine Dummheiten. Natürlich war der kleine Wagen viel zu leicht für vier kleine Pferdekräfte, die im Grunde gar nicht so klein sind. Man rechnet, daß ein Shetlandpony in der Ebene das Vierfache seines Gewichts ziehen kann. Wenn es also an die drei Zentner wiegt, könnte es einen solchen Wagen allein im Trab über Land bringen, ohne Mühe. Hier waren es vier, die sich diese Aufgabe teilten ...

Kornelia und Renate auf dem Bock sahen mit Vergnügen, wie ihre Pferdchen dahindackelten. Ihnen lachte das Herz. Sie gaben einander halblaute Anweisungen, brachten es fertig, an einer Wegbiegung, wo eine andere Straße abging, sogar im großen Bogen umzudrehen, und fuhren nun wieder zu Pölze zurück. Die stand am Straßenrand und sah dem kleinen Gefährt entgegen.

„Wunderbar, wer sagt es denn!“ lobte sie. „Nun haaaaalt. Ja, Unband, du bist doch der Beste, mit drei Frauen zusammenzugehen und keinen Terror zu machen! Beim nächsten Turnier fahren wir alle Preise nach Hause! – Und nun will ich mal!“

Wirklich, die vier Pferdchen hielten. Unband hämmerte zwar mit den Vorderhüfchen wild auf die Erde, während er stand, aber Pölze war schnell auf dem Bock und nahm alle vier Zügel in die Hände. Renate sprang ab, um Platz zu machen, Kornelia blieb neben Pölze sitzen.

„Vorwärts, jawohl!“ kommandierte Pölze halblaut, und die vier zogen wieder an. Sie trabten gut und gleichmäßig, jetzt auch in vernünftigem Tempo. Pölze merkte mehr, als sie sah – sie konnte nur aus den Augenwinkeln nach hinten seitlich gucken –, daß Renate sich im letzten Augenblick hinten in den Wagen geschwungen hatte. „Gut so, wir brauchen Gewicht. Ho, hoooo, nein, hier wird nicht verrückt gespielt, immer mit der Ruhe.“ Sie sprach ständig mit ihren Pferden, auch beim Reiten, halblaut, beruhigend. „So, und nun etwas zulegen, ja zeigt mal, was ihr könnt ...“

„Darf ich mal kutschieren? Allein?“ fragte Kornelia begierig. Pölze gab ihr erst den rechten und dann den anderen Doppelzügel hinüber, immer auf die Pferdchen sehend, und Kornelia fühlte sich ins Kutschieren hinein. Annehmen, nachgeben, eine kleine Parade hier, ein bißchen Luft mehr für Espe. „Erle, komm, komm, meine Schöne. Nein, Lottchen, nicht aus der Reihe tanzen, so, siehst du ...“

Da geschah es.

Sie fuhren jetzt auf den Wald zu, einen ziemlich schmalen Weg. Dort sprang, kurz vor ihnen, vielleicht fünf Meter entfernt, ein Reh darüber, von links nach rechts, gleich darauf noch eins und das dritte. Meist sind es drei. Kornelia wollte das gerade sagen, als die Ponys reagierten. Lottchen warf erschrocken den Kopf, stemmte sich zurück, Espe zog noch vorwärts, und schon hatte auch Unband geschaltet. Wie verrückt drückte er nach rechts an die Deichsel, Erle mußte nachgeben, und so hing der Wagen mit den rechten Rädern überm Graben, der hier zwar nicht sehr tief war, aber immerhin tief genug, daß der Wagen kippte. Kornelia kam halb darunter, Pölze war eine Sekunde vorher abgesprungen, nach links.

Es gab ein heilloses Durcheinander von schlagenden Pferdehufen und zerrissenem Geschirr, schrilles Wiehern, und dazu bellten Tina und Zenzi, daß es klang, als probierten eine Kesselpauke und ein grelles Becken miteinander aus, wer lauter könnte.

„Hau, hau, hau!“ gellte Zenzi in den höchsten Tönen, und „Wuff wuff!“ tobte Tina dazu.

„Haltet doch die Klappe!“ japste Kornelia, die sich unter dem Wagen hervorarbeitete. „Renate, kannst du deinem Köter nicht das Maul zupeppen? Und du, Tina, gib endlich Ruhe, es ist ja nichts passiert.“

Nein, gottlob, nichts war passiert – außer zerrissenem Geschirr, einer kleinen Anzahl Schrammen und blauer Flecke und einer verbogenen Achse. Die war das schlimmste – aber Kornelia und Renate brachten es fertig, sie so weit wieder geradezubiegen, daß man zurückfahren konnte. Diesmal allerdings zweispännig. Lottchen und den kleinen Hengst als Handpferde daneben.

„Das ist sicherer. Wer weiß, ob uns nicht noch ein junger Elefant vor den Wagen kommt“, prustete Kornelia, als sie alles wieder leidlich in Ordnung hatten. „Ein Glück war, daß uns niemand gesehen hat! Ist dir auch wirklich nichts passiert, Pölze? Und der kommenden Tochter? Um die hatte ich am meisten Angst.“

„Alles in Ordnung, ich war ja schon runter“, erwiderte Pölze vergnügt. „Vor allem: alle Pferdebeine heil! Aber vierspännig fahren wir doch vielleicht nicht so bald wieder ...“

„... jedenfalls nicht, ehe besagte Tochter das Licht der Welt erblickt und im Körbchen liegt, während ihre Mutter kutschiert“, ergänzte Kornelia. Pölze lachte.

„Kutschiert hast du, bitte sehr, vergiß das nicht. Na, Hauptsache, es erfährt niemand. Wehe euch, wenn ihr im ganzen Leben auch nur eine Silbe davon erzählt! Ihr wißt, ich habe einen sehr, sehr gestrengen Eheherrn, vor dem ich riesigen Respekt habe.“ Sie lachten alle drei. In allerbester Stimmung kehrten sie heim.

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