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7. Berlin-Dahlem, 4. September 1990

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Das Frühstück, bei dem sich Leo Schneider und Bernadette Kollberg vor zehn Minuten kennengelernt hatten, wurde im zweiten Stock des Hauses 23 ausgerichtet. Zu Leos Überraschung stand in dem sogar mit einer Küchenzeile ausgestatteten Raum tatsächlich ein recht üppig gedeckter Frühstückstisch. Dort hatten die acht Mitarbeiter aus der Fachgruppe von Bernhard Malus bereits Platz genommen. Auf dem Tisch standen ein großer Korb mit Brötchen, verschiedene Marmeladen, ein Teller mit Aufschnitt und Käse, eine große Kanne Kaffee und vor jedem Platz ein Gedeck.

Bernadette Kollberg saß einen Sitzplatz von Leo entfernt. Sie wirkte angespannt und musterte ihre zukünftigen Kollegen mit diskreten Blicken. Ob ihre Befangenheit an der beklemmenden Atmosphäre lag, die sich mit dem Eintreffen von Bernhard Malus schlagartig eingestellt hatte? Oder vielleicht, weil sie ihrem neuen Chef gegenübersaß? Leo wusste es nicht zu sagen. Sie hatten sich begrüßt und ein paar Worte gewechselt, bevor Malus in den Raum kam. Der erste Eindruck von Bernadette war durchaus positiv. Sie war sehr schlank und groß. Ihre schmale Nase verlieh ihrem Gesicht ein markantes Profil, das von blonden, lockigen Haaren umrahmt war. Ihre graublauen Augen verrieten, dass sie trotz ihrer Zurückhaltung alles, was um sie herum vorging, aufmerksam verfolgte.

Vor einem Monat hatte Bernadette Kollberg ihr Examen als biologisch-technische Assistenten an der in Berlin-Schöneberg gelegenen Lette-Schule abgeschlossen. Das LEAG war ihre erste Arbeitsstelle. Leo hoffte auf eine unkomplizierte Zusammenarbeit. Auch für ihn war es neu, eine technische Assistentin zur Unterstützung zu haben. An der Uni gab es nur wenige Stellen für technische Angestellte und diese arbeiteten fast ausschließlich für die Professoren. Bisher war Leo es gewohnt, die Laborarbeiten sämtlich in Eigenregie durchzuführen, mit Bernadette an seiner Seite würde sich das nun ändern. Er war optimistisch, was ihre Zusammenarbeit betraf. Bernadettes wenige Kommentare am Tisch verrieten, dass sie keineswegs auf den Kopf gefallen war.

Neben Bernadette gehörten noch zwei weitere technische Assistentinnen zur Arbeitsgruppe, Bärbel Rudolf und Katharina Teichmann. Sie saßen Leo gegenüber und er dachte spontan an ein eingeschworenes Paar, das sich gegenseitig stützte und schützte. Beide waren etwa Mitte dreißig und seit ihrem Schulabschluss am LEAG beschäftigt. Seit zwei Jahren arbeiteten sie im Labor von Anke Barkowski.

Zwischen Leo und Bernadette saß Gustav Kriebe. Er war schlank, hatte nach hinten gekämmte, weiße Haare und wirkte in sich gekehrt. Leo erfuhr später, dass Gustav Kriebe kurz vor der Rente stand und als Laborant für die technische Versorgung der voneinander entfernt liegenden Laborarbeitsplätze zuständig war. Seine Stelle würde vermutlich nicht neu besetzt werden, meinte Anke Barkowski, als Leo sich nach ihm erkundigt hatte.

Das ziemlich genaue Gegenteil von Gustav Kriebe befand sich zu Bernadettes rechter Seite. Herr Dr. Ferdinand Prause, der Wissenschaftler aus der Arbeitsgruppe, den Leo bisher noch nicht kennengelernt hatte. Prause war Anfang vierzig, wirkte aber ein ganzes Stück älter. Von massiger Gestalt, breitbeinig sitzend, beanspruchte er viel Platz, was Bernadette sichtlich unangenehm war. Im Gegensatz zu seiner dominanten Körperhaltung zeigte sich Prause gegenüber Malus als auffällig unterwürfig. Wie Leo später erfuhr, betrieb Prause kein Labor, sondern beschäftigte sich ausschließlich mit Verwaltungsvorgängen. Auf Leo wirkte Prauses Betulichkeit künstlich, wie aufgesetzt. Etwas an dem Mann signalisierte Leo, sich vor ihm in acht zu nehmen.

Das gemeinsame Frühstück konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den Anwesenden, nicht nur äußerlich gesehen, Welten lagen. Malus, Prause, aber auch Anke Barkowski hoben sich von den anderen mit einem betont konservativen Kleidungsstil ab. Malus trug wieder einen pechschwarzen Anzug, dazu ein weißes Hemd mit silbergrauer Krawatte. Ferdinand Prause war es in seinem braunen Jackett sichtlich zu heiß. Er schwitzte ausgiebig und Leo war froh, nicht direkt neben ihm sitzen zu müssen. Anke Barkowski trug ein graues knielanges Kostüm und rote lackglänzende Slipper mit dezentem Absatz. Sie saß links neben Leo und hatte von ihrem, vermutlich teurem Parfüm, zu viel aufgetragen. Vielleicht war Leo es auch nur nicht gewohnt, denn Christine parfümierte sich, wenn sie es tat, sehr dezent.

Leo bezweifelte, dass sich diese Gruppe unter freiwilligen Umständen zum Frühstücken zusammengesetzt hätte. Das Ganze wirkte gezwungen, und die bedrückende Stimmung, die sich seit dem Eintreffen von Malus am Tisch verbreitet hatte, drückte das aus. Leo hatte sich über Äußerlichkeiten keine großen Gedanken gemacht und war so gekommen, wie er es von der Uni her gewohnt war, dunkelblaue Jeans und ein sportliches Hemd. Seine Straßenschuhe hatte er für die Arbeit im Labor gegen weiße Clogs ausgetauscht. Es war bequemer und sicherer zugleich.

Im Gegensatz zu Gustav Kriebe, der stumm und angestrengt auf seinen Teller schaute, als spiele sich dort etwas Spannendes ab, gefiel sich Ferdinand Prause in der Rolle des Alleinunterhalters. Seine Stimme tönte am lautesten und war zudem ständig präsent. Bei Bärbel Rudolf und Katharina Teichmann erzeugten seine Witzeleien bisweilen Lachanfälle, wenn sie nicht gerade miteinander tuschelten. Dann konnte man aus ihren Blicken vermuten, über wen der Anwesenden sie sich gerade das Maul zerrissen.

Bernhard Malus saß am Kopfende des Tisches, behielt alle Anwesenden im Auge und grinste wohlgefällig. Ihm schien es recht zu sein, wenn Ferdinand Prause seine Funktion auf die eines Pausenclowns reduzierte.

„Reich mir mal den Negerschweiß“, Prause hielt Bärbel Rudolf seine Tasse hin, woraufhin sie ihm bereitwillig Kaffee nachschenkte.

Negerschweiß! Das konnte ja heiter werden. Leos entsetzter Blick kreuzte sich mit dem von Bernadette und ihre Augen sprachen tausend Worte. Prause hatte sich inzwischen sein Jackett ausgezogen und über die Stuhllehne gehängt. Ausladende Schwitzflecke waren auf seinem Hemd zu sehen und Bernadette rückte noch einen Zentimeter mehr an Gustav Kriebes Stuhl heran. Prause war bereits bei seiner dritten Tasse Kaffee, und seine Gesichtsfarbe ließ befürchten, dass sein Blutdruck einsame Höhen erreicht haben musste.

Leo sah Bernadette an, was in ihr ablief. Allerdings kam er nicht weiter dazu, sich in seine künftige Kollegin hineinzuversetzen. Bernhard Malus übernahm jetzt das Wort, worauf alle anderen Gespräche am Tisch abrupt endeten. Malus hatte ein Problem, wie sich bald herausstellte. Er sprach von einem Gutachten, das er möglichst bald für das Ministerium anfertigen musste.

Nachdem inzwischen fast eine dreiviertel Stunde vergangen war, hob Bernhard Malus die Tafel mit den Worten auf: „Sie haben sicherlich alle noch viel im Labor zu tun.“

Diejenigen, die damit gemeint waren, wussten sofort Bescheid. Bärbel Rudolf, Katharina Teichmann und Gustav Kriebe erhoben sich und trugen das schmutzige Geschirr in die Küchenzeile des Frühstücksraumes.

Als Bernadette sich auf den Weg machte, um zu ihrem neuen Arbeitsplatz zu gehen, wollte Leo sich anschließen, aber Malus hielt ihn zurück. „Herr Schneider, Sie bleiben bitte noch hier, ebenso wie Frau Barkowski und Herr Prause. Wir müssen in dieser Runde noch etwas besprechen.“

Nachdem alle anderen den Raum verlassen hatten, kam Malus auf das Gutachten zu sprechen. Es ging um die Belastung von Muttermilch mit chlorierten Kohlenwasserstoffen, genauer gesagt um Lindan, eine Substanz, die bereits seit den 1940er Jahren als Insektenvernichtungsmittel eingesetzt wurde. Neuere Erkenntnisse deuteten darauf hin, dass Lindan sich nicht nur in der Nahrungskette anreicherte, sondern noch dazu krebserzeugend war.

Das war aber nicht das eigentliche Problem für Bernhard Malus. Sein Problem war ein Gutachten, das er über Lindan und seine Auswirkungen auf die Umwelt und den Menschen anfertigen musste. Nach seinen eigenen Worten wusste er kaum etwas über Lindan und zudem hatte er für seinen Bericht nicht viel Zeit.

Zuerst sprach Malus darüber, wie ein solches Gutachten wohl aussehen müsse, um der offiziellen Amtsmeinung und dem Wunsch des Ministeriums zu entsprechen. Allerdings kannte er zum Thema Lindan weder das Eine noch das Andere. Aber Malus war ein alter Amtsfuchs und wusste Schleichwege, um Klippen und Fallen zu umgehen. Die Kunst, so gab er von sich, bestünde darin ein Gutachten abzugeben, das nach allen Seiten offen und interpretierbar war.

Malus entwickelte dafür nun seine eigene, elastische Logik. Demnach war der bisher ermittelte Gehalt von Lindan in Muttermilch für den Menschen ungefährlich, sonst hätten die Behörden doch längst entsprechende Maßnahmen gegen diesen Stoff ergriffen! Mit den Worten: „Die Dosis macht das Gift“, gab er seinen Ausführungen einen tiefgründigen Anstrich, um dann fortzufahren: „Wir müssen das Gutachten so gestalten, dass wir in jedem Fall Kritik an uns abwenden können. Gibt es keine neuen Erkenntnisse, dass Lindan gefährlicher ist, als bisher angenommen, dann verweisen wir auf einen festzusetzenden Grenzwert in der Muttermilch. Dieser muss natürlich oberhalb der tatsächlich gefundenen Werte festgesetzt werden. Falls es sich aber herausstellt, dass Lindan in den in der Muttermilch nachgewiesenen Mengen bereits gefährlich ist, argumentieren wir, dass ein toxischer Grenzwert für diesen Stoff bisher noch nicht festgesetzt wurde. Das bringen wir ebenfalls in unser Gutachten ein!“

Unser Gutachten! Malus rieb sich zufrieden die Hände, denn damit hatte er seine drei Wissenschaftler in die Verantwortung für seine Spitzfindigkeiten genommen. Er blickte in die Runde und sagte: „Ich stelle fest, wir haben eine innerhalb der Fachgruppe abgestimmte Meinung zum gesundheitlichen Risiko durch Lindan.“

Keiner der Anwesenden widersprach. Instinktiv wollte Leo etwas dagegen sagen, aber was? Er war überrumpelt und hatte wie die anderen, nicht die Gelegenheit und die Zeit bekommen, sich zu informieren. Selbst wenn, schien Malus gegenüber sachlichen Argumenten völlig immun zu sein.

Mit dem Verweis darauf, dass die hier Versammelten das Gutachten auch unterzeichnen mussten, hatte Bernhard Malus sich seiner persönlichen Verantwortung entzogen und seine Wissenschaftler in Geiselhaft genommen. Das steckte also hinter dem, was man im LEAG als Abstimmung bei der Entscheidungsfindung bezeichnete.

Die Sitzung war zu Ende. Als alle gerade gehen wollten, gab ihnen Bernhard Malus noch etwas mit auf den Weg. „Unabhängig davon, was bei der Sache um Lindan herauskommt, mit diesem Gutachten sind wir auf der sicheren Seite. Von der Seite der Verbraucher kann uns niemand kritisieren und wir verärgern auch die Industrie nicht mit der Forderung nach einem niedrigeren Grenzwert für Lindan!“

Warum sagte Malus eigentlich immer wir, wenn er sich meinte? Aber Leo musste mit Entsetzen feststellen, dass seine Kollegen Prause und Barkowski-Gertenbauer zu dessen Worten wohlgefällig nickten.

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