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15. Université Paris-Sud, 21. Juni 1991
Оглавление„Was war das für ein Paket, dessen Versand Sie hiermit quittiert haben?“ Der sichtlich genervte Eugène Fromentin blaffte den Laboranten Rémi Dubois an, wobei er ihm mit dem Durchschlag der Empfangsquittung vor der Nase wedelte.
Rémi Dubois war durch Fromentins wütenden Tonfall eingeschüchtert, er schwitzte ausnehmend, als er vor dessen Schreibtisch stand. Noch nie zuvor hatte der Dekan ihn in sein Büro zitiert. Rémi hatte schon die schlimmsten Befürchtungen gehabt und jetzt war es nur, weil er dem Boten, der das Päckchen abgeholt hatte, die Übergabe quittiert hatte.
„Aber das war doch für Mademoiselle Sandrine. Sie wollte dieses Päckchen für ihre Arbeit nach Deutschland schicken. Ich hatte extra nachgefragt, der Versand war für uns kostenfrei. Als der Bote von der Spedition kam, war Mademoiselle Sandrine gerade nicht da. Also habe ich für sie unterschrieben.“
„Das habe ich allerdings gesehen. Stellen Sie sich vor, ich kann lesen, Monsieur! Und wussten Sie auch, was dieses Paket enthielt, Sie …?“, fragte Fromentin, der puterrot geworden war und den Zettel dem Laboranten beinahe aufs Gesicht drückte.
„Da stand etwas von Getränkeproben. Aber das geht mich doch auch nichts weiter an!“
„Ach ja? Sie Oberschlauer! Mit Ihrem Tun haben Sie der Fakultät die größten Schwierigkeiten bereitet, die sie je hatte!“ Fromentin war außer sich.
Rémi Dubois sah ihn an und schüttelte fassungslos den Kopf.
„Ich wusste doch nicht ...“
„Gehen Sie mir aus den Augen, Dubois!“
Der Dekan wies auf die Tür. Er knallte den Durchschlag des Empfangsprotokolls vor sich auf den Schreibtisch und tippte nervös mit dem Zeigefinger auf ein Wort. Getränkeproben stand in der Zeile mit der Angabe zum Inhalt des Pakets. Unzweifelhaft war das mit der zierlichen Handschrift Sandrine Martins geschrieben.
„Was sollte ein Rémi Dubois daran auch verdächtig finden?“, murmelte Fromentin resigniert, nachdem der Laborant die Bürotür vorsichtig hinter sich zugezogen hatte. Plötzlich überkamen ihn heftige Kopfschmerzen und er presste sich die Finger gegen die Schläfen. Er ahnte, was in dem Paket verschickt worden war. Die Inhaltsangaben bei Paketen für Kurierdienste mussten korrekt sein. Die prüften das gewöhnlich nach, um sicherzugehen, dass nicht illegales Material mit ihrer Hilfe befördert wurde.
Also waren es tatsächlich Getränkeproben gewesen, und er konnte sich denken, was für welche. Nämlich die Cidre- und Calvadosproben, die Sandrine Martin nicht wie versprochen vernichtet, sondern die ganze Zeit über vor ihm versteckt hatte. Und jetzt waren sie in Berlin dabei, diese auf ihren Patulingehalt zu untersuchen.
Damit hatte sich auch geklärt, was hinter Sandrine Martins Vortragsreise nach Berlin im November letzen Jahres steckte. Sie war raffiniert vorgegangen. Die ganze Zeit über hatte sie ihn angelogen. Nur nicht bedacht, dass Kurierdienste bürokratisch für jedes Paket Versandprotokolle mit Durchschlägen anlegten, die vom Sender und Empfänger quittiert werden mussten. Allerdings war diese Quittung, die den langen Weg über die Stationen in der Universitätsverwaltung gewandert war, erst drei Wochen, nachdem das Päckchen verschickt worden war, bei ihm eingetroffen.
Inzwischen arbeiteten sie in Berlin schon längst mit den Proben! Es würde nicht mehr lange dauern, dann kämen von dort Berichte, man hätte eine Erklärung für die erhöhte Anfälligkeit an Speiseröhrenkrebs in der Normandie: Patulin im Calvados! Ausgerechnet aus Deutschland. Damit konnten weder er noch der Generalrat Leroy Einfluss darauf nehmen. Den Deutschen war es auch egal, ob das Ansehen der Marke Calvados beschädigt wurde. Ihr Schnaps war vermutlich auch nach so einem Reinheitsgebot hergestellt wie ihr Bier. Dafür schmeckte der aber auch nicht annähernd so gut wie ein Calvados, selbst von der billigen Sorte. Fromentin kniff seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Seine Kopfschmerzen wurden stärker, pulsierten und er kramte in seiner Schreibtischschublade nach einer Aspirin.
Sandrine Martin wusste es vielleicht nicht, aber sie war dabei, einen großen Fehler zu machen. Vielleicht hätte er ihr alles deutlicher erklären müssen, aber wie hätte er dann vor ihr dagestanden? Als Befehlsempfänger von Leroy! Was sie nicht wusste, hinter Leroy standen eine Menge einflussreicher Leute, und nicht nur die Mitglieder seiner Partei PCP. Besonders die Letzteren hatten keine Skrupel, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen ging. Leroy hatte am Telefon nur Andeutungen gemacht. Er hatte von einem bedeutenden Calvadosproduzenten gesprochen, einem Wirtschaftsfaktor in der Region, die in Gänze durch Sandrine Martins Aktivitäten geschädigt würde. Es ginge dabei nicht nur um viel Geld, sondern auch um das Ansehen einer Marke und der Region und dass diese Leute keine Hemmungen hätten, wenn man ihnen auf die Füße trat.
„Ich habe als Generalrat nur begrenzten Einfluss“, hatte Leroy ihm damals gesagt. „Ich kann Sie als Person nur heraushalten, wenn Sie Mademoiselle Martins Aktivitäten sofort beenden. Die Entnahme dieser Proben durch Ihre Mitarbeiterin war illegal und Sie, Monsieur, sind dafür verantwortlich und müssen dafür sorgen, dass die Proben vernichtet werden.“
Vier Tage später, nachdem er mit Leroy telefoniert hatte, war der Brief mit dem Foto eingetroffen. Eine flaue Polaroidaufnahme in einem Umschlag ohne Absender. Fromentin war geschockt. Was er da sah, hatte seine schlimmsten Vermutungen übertroffen. Das Foto zeigte Sandrine Martin in eindeutiger Position. Ihr Gesicht war halb verdeckt, aber zu erkennen, genauso wie der Hinterkopf des Mannes der auf ihr lag. „Stopp diese Schlampe oder wir schneiden dir die Eier ab“, stand auf der Rückseite des Fotos geschrieben.
Sandrine Martin hatte nie darüber geredet. In diesem Moment hatte sie ihm leidgetan, für das, was sie durchgemacht hatte. Schließlich war das Projekt mit dem Patulin ursprünglich seine Idee gewesen. Jetzt, wo klar war, dass sie in Berlin daran weiter arbeitete, fielen ihm Leroys Drohungen wieder ein.
Bei dem Gedanken wurde ihm plötzlich schlecht. Die Übelkeit breitete sich von seinem Magen bis hoch in den Kopf aus. Er stand auf und öffnete das Fenster, atmete tief durch und sein Magen beruhigte sich etwas.
Als er damals begriffen hatte, wie ernst es Leroy mit seinen Andeutungen war, hatte er sein Möglichstes getan, das Projekt gestoppt und Sandrine daran gehindert, das LC-MS/MS Gerät der Fakultät für weitere Untersuchungen zu benutzen. Damit schien alles gelöst zu sein. Sandrine Martin hatte ihr neues Projekt angefangen und er hatte die Sache fast vergessen.
Aber das half jetzt alles nichts. Sie war schon vor fünf Monaten bei ihrem Vortrag in Berlin mit den Daten aus dem Patulinprojekt hausieren gegangen. Sonst hätte Madame Anke vom LEAG ihn damals nicht angerufen und angeboten, die Fakultät mit einem Massenspektrometer zu unterstützen. Mit ihrem Vortrag musste sie Madame Anke und ihre Kollegen am LEAG für die Fortsetzung ihrer Studie gewonnen haben.
Sein Kopf war wieder schmerzfrei, und er konnte darüber nachdenken, was zu tun war, um das Schlimmste zu verhüten. Madame Anke aus dem LEAG war der Schlüssel zur Lösung des Problems! Mit ihrer Hilfe konnte er Sandrine Martins Aktivitäten stoppen. Die Leute am LEAG mussten davon überzeugt werden, dass mit diesen Proben etwas nicht in Ordnung war. Am besten, sie glaubten, dass es sich dabei um gestohlenes Material handelte. Das war die einzige Lösung, die ihm noch einfiel, um sich und damit auch seine Studentin zu schützen.
Fromentin hoffte, dass Madame Ankes Einfluss am LEAG groß genug war, um ihre Kollegen und Vorgesetzten zu überzeugen. Er suchte in seiner Schreibtischschublade, bis er den Zettel mit dem Namen Anke Barkowski und der dazu gehörigen Telefonnummer fand.