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4. Université Paris-Sud, 17. August 1990
ОглавлениеChristine gelangte auf Umwegen in das modern ausgestattete Gebäude des Institutes für Lebensmitteltechnologie der Université Paris-Sud. Sie hatte sich durchfragen müssen, die Gebäude auf dem Universitätsgelände lagen weitläufig voneinander entfernt. Nun war sie bis zu einem großen Laborraum vorgedrungen, in dem sie eine zierliche, mit einem weißen Kittel bekleidete Frau in steifer Haltung an einem mit Gerätschaften vollgestellten Labortisch erwartete.
Sandrine Martins Labor war ein großer, heller Raum, der mit einem Mitteltisch, auf dem verschiedene Geräte standen, ausgestattet war. Es sah hier sehr aufgeräumt aus, im Gegensatz zu Leos Labor, dessen Arbeitsplatz immer zur Hälfte mit allem möglichen Zeug vollgestellt war.
„So weiß ich wenigstens, wo alles steht“, hatte Leo ihr einmal gesagt. „Zumindest, solange keiner dazwischen fummelt und die Sachen umstellt.“ Christine hatte Leo manchmal aus seinem Labor abgeholt. Wenn es zeitlich passte, gingen sie zusammen in die Mensa der FU zum Mittagessen.
Sandrine Martin trug ihre dunklen Haare halblang, ihr herzförmiges Gesicht war blass, ihr Mund war ungeschminkt und Sommersprossen lugten auf ihren vollen Wangen unter den hellen Augen hervor. Irisch, ja keltisch sah sie aus, fand Christine. Der distanziert musternde Blick von Sandrine Martin war ihr nicht entgangen, ebenso wenig wie die Spuren eines Faustschlags, die um das linke Auge der Chemikerin herum sichtbar waren. Sandrine Martin hatte versucht, das Veilchen zu überschminken, aber es war ihr nicht ganz gelungen. War diese junge Frau ein Opfer häuslicher Gewalt? Unwillkürlich starrte Christine auf Sandrine Martins Hände; einen Ehering trug sie nicht, aber was hieß das schon?
Hinter ihnen öffnete sich eine Glastür, ein beleibter Mann, der mit einem blauen Kittel bekleidet war, erschien und lud wortlos Eimer mit benutztem Laborgeschirr auf einen Rollwagen.
„Merci, Rémi!“, rief die Chemikerin und rührte sich nicht von der Stelle. Der Mann machte eine scherzhafte Bemerkung und schob den beladenen Laborwagen zurück in den Flur. In der Zwischenzeit hatte Christine ihre Tasche geöffnet und einen Schreibblock herausgeholt. „Möchten Sie hier mit mir reden oder haben Sie einen gemütlicheren Ort, wo wir uns auch hinsetzen können?“
„Vielleicht, aber zuerst möchte ich wissen, wer Sie sind“, sagte Sandrine Martin distanziert. „Haben Sie etwas Brauchbares, dass Sie als deutsche Journalistin ausweist?“
Allmählich kam Christine der Verdacht, dass die Spuren im Gesicht dieser Frau doch nicht von häuslicher Gewalt stammten. Sandrine Martin hatte eindeutig Angst und war misstrauisch gegenüber Fremden. Christine kramte ihren Reisepass und ihre Akkreditierung als Journalistin aus der Handtasche. Die Chemikerin musterte die Dokumente schweigend und ihre Anspannung schien etwas nachzulassen.
Schließlich sagte sie: „Okay, kommen Sie mit.“
Sie verließen das Labor und gingen ein Stück über den Flur in ein Büro. Im Gegensatz zur Ordnung im Labor sah es hier ziemlich chaotisch aus. Auf dem Schreibtisch der Chemikerin stand ein voller Aschenbecher und daneben eine geöffnete Flasche mit Mineralwasser. Sandrine Martin räumte einen mit Büchern vollgestellten Stuhl frei. Sie bedeutete Christine, sich dort hinzusetzen. Dann zündete sie sich eine Zigarette an, inhalierte tief und setzte sich Christine gegenüber.
„Sagen Sie mir zuerst, was und woher Sie überhaupt von mir wissen.“
Christine erzählte von ihrer Reportage und dem Interview mit dem Generalrat aus Bonnesource, der sie auf die Arbeit von Sandrine Martin gebracht hatte.
„Und der hat Ihnen nicht gesagt, um welche Giftstoffe es sich handelt?“, fragte die Lebensmittelchemikerin spöttisch.
„Nein. Ich vermute, es sind Spritzmittel, Pestizide, oder?“
Sandrine Martin winkte müde ab. „Das ist noch ein anderes Kapitel, aber er hat Ihnen also nichts vom Patulin erzählt?“
„Patulin?“ Christine hatte dieses Wort noch nie gehört. „Was ist das?“
„Das kann ich mir denken, dass er nicht darüber reden wollte“, erwiderte Sandrine Martin wie zu sich selbst. „Patulin ist ein Schimmelpilzgift, es entsteht in Faulstellen an Obst, und besonders stark bei Äpfeln ...“
Sie machte eine Pause, zog an ihrer Zigarette und legte sie dann in den Aschenbecher, der von Kippen überquoll.
„Patulin ist hochtoxisch und steht im Verdacht, Mutationen und Krebs zu erzeugen.“
„Und der Zusammenhang …“
„Wenn man bei der Herstellung von Apfelsaft angefaulte Früchte nimmt, dann gelangt das Patulin aus den Faulstellen in den Saft. Patulin ist nicht leicht kaputtzukriegen. Es ist säurebeständig, hitzebeständig und übersteht die Pasteurisierung des Saftes gut.“
„Und solche Früchte …?“
„Fallobst, Madame! “, warf Sandrine Martin ein, „darum handelt es sich.“
„Und Sie haben gesehen, dass Fallobst für …“
„Gesehen!“, unterbrach sie Sandrine Martin, deren Stimme einen bitteren Klang bekommen hatte, „gesehen habe ich eine Menge. Fallobst wird häufig zum Mosten verwendet, denn man kann die beschädigten Früchte so, wie sie sind, nicht mehr verkaufen. Aber für die Saftgewinnung muss man die braunen Stellen vorher großzügig entfernen. Sonst hat man das Patulin im Apfelsaft. Am Anfang hielt ich es für eine Ausnahme, dass sie solche gammligen Früchte nicht aussortierten oder wenigstens die Faulstellen abschnitten. Aber bei bestimmten Leuten war das keine Ausnahme, es war System. Ich begann dann, Fotos von den Produktionsabläufen zu machen und danach Proben zu nehmen.“
„Aber, warum haben Sie die Bauern denn nicht auf diese Gefahr aufmerksam gemacht?“
Sandrine Martin winkte ab. „Das weiß jeder dort, der mit der Vermarktung von Äpfeln zu tun hat.“
„Aber warum?“
„Aber wenn bestimmte Leute nichts davon wissen wollen? Es kostet viel Arbeit und Geld, wenn man die Vorschriften einhalten möchte. So behauptet man einfach, das sei Tradition, man hätte es schon immer so gemacht und das Ganze bla, bla, bla!“
Christine schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte die Obstbauern in der Normandie als ehrliche Menschen kennengelernt, die anfänglich spröde waren, aber auftauten, wenn sie merkten, dass man sie und ihre Belange ernst nahm.
„Der Generalrat erzählte, Sie hätten die Bauern über Ihre Absichten getäuscht.“
„Der Generalrat sagt das! Dieser Wolf im Schafspelz!“ Sandrine Martin lachte gellend. „Wer hat hier wen getäuscht, Madame Bergmann? Meinen Sie, wir haben diese Studie einfach aus Lust und Laune begonnen? Bestimmt nicht! Wussten Sie, dass in der Normandie die Häufigkeit von Speiseröhrenkrebs weit über dem Landesdurchschnitt liegt?“
Christine schüttelte wortlos den Kopf.
„Es gibt verschiedene Vorstellungen, woran das liegen könnte. Eine davon ist Acetaldehyd, das beim Abbau von Alkohol entsteht und als krebserzeugend gilt. Aber warum betrifft das dann nur die Normandie und nicht andere Regionen, in denen auch Hochprozentiges getrunken wird?“
„Und die andere …,“ Christine suchte nach dem richtigen Wort, „Theorie, ist?“
„Die andere Theorie erklärt die regionale Häufigkeit des Krebses viel besser“, sagte Sandrine Martin. „In Proben von Apfelsaft und in Cidre wurden manchmal hohe Mengen an Patulin gefunden und wir konnten uns nicht erklären, wie das möglich war.“
Sie war aufgestanden, hatte sich eine neue Zigarette angezündet und lief in ihrem Büro auf und ab.
„Die Leute wussten, dass laut Vorschrift nur sauberes Obst für die Herstellung von Saft verwendet werden darf. Und trotzdem!“
„Der Generalrat meinte, Sie wollten den Calvados in den Dreck ziehen.“
„Einen in den Dreck ziehen, ja das können sie!“ Sandrine Martin begann unwillkürlich zu schluchzen.
Sie fing sich wieder und ihre Stimme war jetzt eiskalt: „Sie wissen gar nichts, Madame. Man hat Ihnen Märchen erzählt. Es geht um die Ausgangsstoffe, die Äpfel. Das Patulin wird bei der Vergärung und bei der alkoholischen Destillation zum größten Teil zerstört. Das Gift ist im Apfelsaft.“
Sandrine Martin wischte sich die Tränen aus den Augen und warf das Taschentuch mit einer heftigen Bewegung in den Papierkorb.
„Aber wenn das Patulin durch die Vergärung zerstört wird, wie Sie gerade sagen, wieso findet man es dann noch im Cidre, das ist doch vergorener Apfelsaft, Apfelmost, oder?“
„Richtig, Sie schlaue Journalistin, aber was passiert, wenn der Cidre nicht völlig vergoren ist? Oder, wenn er nach der Vergärung mit Apfelsaft gestreckt wird?“
Sandrine Martin lachte böse.
„Traditionelle Verfahren, alte Rezepte, klar! Aber wenn finanzielle Interessen ins Spiel kommen, wenn immer mehr Früchte benötigt werden, um profitable Absatzmengen zu erreichen, dann nehmen bestimmte Leute einfach alles. Sogar völlig verfaulte Äpfel, die auf den Wiesen herumliegen. Sie haben keine Ahnung, wie es mancherorts zugeht, Madame Bergmann!“
Sie drückte ihre Zigarette aus und stellte sich Christine gegenüber. „So, nun haben Sie die Antwort auf ihre Frage, Madame Journalistin, aber wenn Sie darüber berichten wollen, dann stammen diese Informationen nicht von mir. Offiziell gesehen sind das nur Annahmen und es gibt keine veröffentlichte Studie, die so etwas belegt.“
Sandrine machte eine Pause und um ihren Mund erschien plötzlich ein trauriger Zug: „Jedenfalls nicht von mir.“
„Aber ich dachte, Sie arbeiten daran …“
„Das Projekt wurde eingestellt. Es ist für die Universität nicht mehr relevant. Wenn Sie sich weiter damit befassen wollen, dann passen Sie gut auf, wem Sie damit auf die Füße treten.“
Christine war über die Heftigkeit von Sandrine Martins Reaktion überrascht. Hatte sie ihr wirklich die Wahrheit gesagt? Christine hatte Leroys Andeutung mit der Betriebsspionage ihr gegenüber nicht erwähnt. Vielleicht war diese ganze Aufregung nur gespielt, um über den wahren Auftrag von Mademoiselle Martin hinwegzutäuschen? Diese hatte jetzt die Tür zu ihrem Büro geöffnet und deutete mit einer Geste zum Flur.
Christine erhob sich aus ihrem Stuhl und überreichte der Chemikerin ihre Visitenkarte. „Sie rauchen ziemlich viel und scheinen das für sich sehr gelassen zu sehen, was krebserzeugende Substanzen betrifft.“ Sie sah ihr Gegenüber an und lächelte hilflos.
Sandrine Martin zuckte mit den Schultern. „Als Chemikerin bin ich sowieso gefährdet. Außerdem weiß ich ja um das Risiko. Nein, ich fürchte die Reaktionen mancher Menschen mehr als meine Zigaretten und die Giftstoffe, mit denen ich jeden Tag zu tun habe.“
Christine ging zur Tür. Als sie auf dem Flur war, hörte sie Sandrine Martin hinter ihrem Rücken sagen: „Aber es ist etwas anderes, wenn Sie, ohne es zu wissen, Gift zu sich nehmen. In Lebensmitteln, die noch dazu als hochwertige Produkte bezeichnet werden. Denken Sie mal darüber nach! Adieu und gute Reise, Madame Bergmann.“