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18. Berlin-Dahlem, 26. Juni 1991

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Sandrine war noch eine Spur blasser als gewöhnlich, als sie sich mittags mit Leo auf die Stufen vor der Tür des rosafarbenen Laborgebäudes setzte. Sie zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Kitteltasche und steckte sich eine an. Der böige, warme Sommerwind wehte Spuren von Rauch und Asche in Leos Gesicht und er kniff die Augen zu. Sandrine schien das nicht wahrzunehmen. Ihr Gesicht war verschlossen und Leo spürte deutlich, dass ihr etwas auf der Seele lag.

Inzwischen kannte er sie soweit, um zu wissen, wann es besser war abzuwarten, bis Sandrine von sich aus reden wollte. Wenn sie es dann überhaupt tat! Bernadette war zum Glück gerade in der Kantine. Wenn sie hier säße, würde sie drauflos zwitschern wie ein Vogel. Umso mehr würde sich Sandrine in dumpfes Schweigen und in Rauch hüllen. Solange, bis sie abrupt aufstehen und ohne ein Wort ins Labor zurückgehen würde. Sandrine schwieg weiter, rauchte, beharrlich.

Leo wollte nun doch nicht länger warten und stellte eine unverfängliche Frage: „Hast du mit deinen Proben schon Daten aus der Massenspektrometrie bekommen?“

Sandrine nickte zweimal und starrte weiter vor sich hin.

„Gibt es etwa Probleme mit den Leuten, bei denen das LC-MS/MS Gerät steht? “

Sandrine schüttelte den Kopf und zog an ihrer Zigarette.

Leo zuckte ratlos mit den Schultern, offensichtlich hatte Sandrine tatsächlich keine Lust zum Reden.

„Es gibt Probleme mit anderen Leuten!“, sagte Sandrine plötzlich.

„Was?“ Leo war überrascht. „Wer denn? Welche Leute meinst du?“

„Viele. Fromentin und Anke Barkowski. Et le cochon.

Leo sah sie an, ohne verstanden zu haben. „Cochon? Von wem sprichst du?“

The pig! Prause!“ Sandrine drückte ihre Zigarette heftig auf einer der Betonstufen aus, um sich gleich darauf eine Neue anzuzünden.

„Was ist denn passiert?“, fragte Leo.

„Anke hat mich gestern angerufen und mich in ihr Büro gebeten. Sie sagte, es sei dringend. Ich wollte dich dabeihaben, ich hatte ein komisches Gefühl, aber sie bestand darauf, mit mir nur unter vier Augen zu sprechen.“

„Und?“

„Fromentin muss sie angerufen haben. Ich weiß nicht, wie er auf ihre Nummer gekommen ist. Er hat behauptet, ich hätte patentierte Substanzen aus der Uni gestohlen und ins LEAG geschickt. Er hat mit einer Klage gedroht, wenn wir die Substanzen nicht sofort zurückschicken.“

„Das ist doch dummes Zeug!“

„Leo, Fromentin meint die Proben, die ich in der Normandie gesammelt und vor ihm versteckt hatte! Er sagt das nicht offen, aber er muss ziemliche Angst haben, dass wir in den Proben etwas finden und er die Konsequenzen dafür ausbaden muss.“

„Du meinst Patulin? Welche Konsequenzen hätte das denn für ihn?“

„Du weißt doch, Fromentin hatte diese Untersuchungen ursprünglich selbst veranlasst. Es war seine Idee; die Daten aus dem Krebsregister haben ihn darauf gebracht. Aber einflussreiche Leute, denen die Ergebnisse nicht gefallen, müssen ihm gedroht haben, so dass er mir weitere Arbeiten an den Proben verboten hat.“

„Und was hast du Anke Barkowski dazu gesagt?“

„Dass ich nichts von patentierten Substanzen wüsste und auch keine verschickt hätte!“

„Das stimmt doch auch!“

„Sie hat sich daraufhin furchtbar aufgeregt und gesagt, die Universität wollte das LEAG verklagen und ich würde sofort entlassen, wenn ich die Proben nicht sofort zurückschickte!“

Leo stieß hörbar die Luft aus. „Und dann?“

„Ich sagte ihr noch einmal, das wäre ein Irrtum. Ich hätte keine patentierten Substanzen aus der Universität und damit basta!“

Sandrine fing an, an ihren Fingernägeln zu knabbern. Ihre Hand, in der sie die Zigarette hielt, zitterte. Der blaue Rauch kräuselte sich in der Luft. Leo wartete, bis sie von allein weitersprach.

„Daraufhin sagte Anke: Gut, wenn Sie es unbedingt so haben wollen! Das könnte man ja leicht nachprüfen. Wenn die Substanzen aus Paris mit dem Kurierdienst ans LEAG verschickt worden waren, müsste die Empfangsbestätigung dafür in der Verwaltung vorliegen. Dann würde man ja sehen, wer da unterschrieben hat! Aber dann wäre es zu spät für mich. Dann würde das LEAG die Angelegenheit der Polizei übergeben.“

„Und was hast du dazu gesagt?“

„Ich konnte ihr gar nichts mehr sagen. Sie hat mich stehengelassen und ist wütend losgestiefelt.“

„Also, ich kann mich nicht erinnern, das Päckchen in Empfang genommen zu haben“, überlegte Leo nachdenklich.

„Hast du auch nicht!“, erwiderte Sandrine. „Es war am 3. Juni, als das Päckchen kam. Du warst an diesem Tag an deiner Universität gewesen, um dir einen Vortrag aus deiner alten Arbeitsgruppe anzuhören.“

„Also warst du diejenige, die?“

Sandrine schüttelte den Kopf und sah dem Rauch nach, der sich in der Luft verflüchtigte. „Nein, es war Prause. Er war zufällig da, als der Bote vom Kurierdienst kam, und war wohl neugierig zu sehen, was da aus Paris kam.“

„Ach so! Natürlich!“ Leo lachte. „Als ich den Auftrag für das Päckchen erteilt hatte, habe ich als Empfänger nicht mich persönlich, sondern die Fachgruppe Malus angegeben. Ich dachte, das wäre unverfänglicher. Damit konnte Prause den Empfang ebenso gut quittieren, wie jeder andere von uns auch.“

Sandrine tat einen letzten Zug, warf ihre Zigarette auf die Treppe und trat die Kippe wütend aus.

„Und dann hat dieses Schwein mich abgepasst. Als ich im Lager allein war, kam er mit dem Päckchen in der Hand rein und glotzte mich so komisch an.“

Sandrine standen die Tränen in den Augen. Leo blickte zur Seite. Sie würde es nicht ertragen, wenn er sie weinen sah.

Sandrine wischte sich mit einer kurzen Handbewegung über ihre Augen und imitierte Prauses schleimigen Tonfall, als sie sagte: „Ach so ein Zufall, das Fräulein Sandrine. Da ist gerade ein Päckchen aus Paris angekommen, das ist doch bestimmt für Sie? Und was habe ich gelesen, was da drin ist? Getränkeproben! Oh, là, là, Mademoiselle Sandrine, lassen Sie sich etwa Champagner auf Kosten des Instituts schicken? Davon sollte Herr Dr. Malus aber nichts wissen, sonst gibt’s großen Ärger!“

Sie hielt sich beide Hände über ihre Augen und sprach weiter: „Dann lachte er hämisch und rückte mir auf die Pelle. Zog mich am Handgelenk zu sich heran, meinte, wir könnten ja meinen Einstand zu zweit feiern, unser kleines Geheimnis für uns behalten und fing an, mich zu begrapschen.“

„Und du?“

„Ich habe geschrien, ihm spontan eine geknallt, das Päckchen an mich gerissen und bin die Treppe hoch ins Labor gerannt. Dort habe ich die Proben herausgenommen und in unseren Gefrierschrank gesteckt. Dann bin ich gleich wieder raus aus dem Labor, ich dachte, dieses Schwein würde mir folgen. Bernadette war nicht da, es war Mittag, also bin ich zur Kantine, um sie dort vielleicht zu treffen. Auf dem Weg habe ich die Verpackung in den Müllcontainer geworfen. Zum Glück war Bernadette in der Kantine, ich habe mich zu ihr gesetzt und einen Kaffee getrunken. Ich dachte, wenn Prause hier aufkreuzen sollte, muss er sich zurückhalten. Später bin ich dann mit Bernadette zusammen den Weg zurück ins Labor gegangen. Prause hat sich an diesem Tag nicht mehr blicken lassen und ich war froh, als du am Nachmittag von der Uni zurückgekommen warst.“

„Warum hast du mir das damals nicht gleich erzählt?“

Leo war perplex.

„Ich weiß es nicht, ich stand total unter Schock. Ich war ja erst zwei Tage bei euch und wusste doch auch nicht, wie du zu dem allen stehst.“

Sandrine schaute ihn aus geröteten Augen an. Leo wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte.

„Großes Vertrauen hast du jedenfalls nicht zu mir. Gibt es überhaupt jemanden, dem du vertraust?“

Sandrine ging nicht auf seine Frage ein.

„Inzwischen ist das anders.“

Sie schaute ihn nicht an, während sie das sagte, und fingerte sich aus der Packung eine neue Zigarette.

„Aber was ist mit dem Zettel, der Empfangsbestätigung für das Päckchen? Hast du die Papiere Prause auch aus der Hand gerissen?“

Sandrine schüttelte den Kopf. Sie überlegte.

„Da war kein Zettel, zumindest habe ich keinen gesehen.“

„Dann ist die Quittung bestimmt in der Verwaltung und trägt Prauses Unterschrift!“ Leo schlug sich mit der rechten Hand auf den Oberschenkel und lachte laut auf.

„Da hat er sich aber auf was eingelassen, ohne es geahnt zu haben!“

Sandrine sah ihn an und machte dabei ein nachdenkliches Gesicht.

„Uns können sie trotzdem Ärger machen, Leo. Früher oder später werden sie herausbekommen, dass du den Versand des Päckchens in Auftrag gegeben hast!“

Leos Heiterkeitsausbruch erstarb so plötzlich, wie er gekommen war.

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