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14. Berlin-Dahlem, Juni 1991

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Sandrine traf am 1. Juni in Berlin ein. Mit ihren zwei Koffern führte sie dieses Mal mehr Gepäck bei sich als bei ihrem ersten Besuch. Ihre kleine Wohnung in Orsay hatte sie gekündigt. Zwei Mieten konnte sie sich nicht leisten und außerdem war es ungewiss, wohin es sie nach Ablauf der drei Monate verschlagen würde. Zusätzlich blieb noch ein Stück Hoffnung, dass ihr Vertrag mit dem LEAG vielleicht verlängert werden würde.

Ihre Proben, die sie gut versteckt in einem Gefrierfach aufbewahrt hatte, lagen bereits fertig verpackt in der Poststelle der Fakultät und warteten auf den Versand nach Berlin. Leo hatte die Abholung in Auftrag gegeben. Der Kurierdienst würde das Päckchen abholen und damit hatte es sich. Fromentin wusste nichts davon. Sollte er es irgendwann erfahren, dann würde es für ihn zu spät sein, um es zu verhindern.

In Lauf der letzten Wochen hatte Leo mehr von ihr gehört, welche Rolle Fromentin bei der Geschichte um den mit Patulin verseuchten Calvados spielte. Fromentin selbst war es gewesen, der auf die Idee für diese Studie gekommen war, nachdem er sich die Daten aus dem Krebsregister im Department Calvados angesehen hatte.

Unter seinen Studenten fand er Sandrine als die dafür am besten geeignetste Kandidatin. Sie war aus der Normandie, intelligent und dazu sehr fleißig. Sandrine war damit einverstanden gewesen, sie hatte bereits über das Schimmelpilzgift Aflatoxin, das ebenfalls krebserzeugend war, gearbeitet und kannte sich mit den entsprechenden Untersuchungsmethoden aus. Im Verlauf ihrer Arbeit hatte sie sich sehr engagiert, bis zu dem Tag, an dem sie auf dem Hof der Guérins brutal gestoppt wurde. Sie hatte Fromentin nichts von der Vergewaltigung erzählt, nur dass man sie wegen ihrer Untersuchungen bedroht und geschlagen hatte. Fromentin hatte ihr erzählt, dass der Generalrat Leroy sich über sie beschwert hatte. Kurz danach hatte er veranlasst, die Fortführung der Patulinstudie einzustellen und Sandrine damit im Stich gelassen.

Leo kam das bekannt vor. Leute, die sich vor ihrer Verantwortung drückten, gab es auch im LEAG. Solche wichtigen Studien konnten nur von Menschen in den entsprechenden Führungspositionen in Gang gebracht werden. Aber leider waren gerade diese Leute oft ängstlich, überangepasst und zu sehr auf ihre Vorteile bedacht, um sich verantwortlich zu engagieren. Vor allem, wenn sie dabei Gegenwind befürchten mussten.

Bernhard Malus war ein besonders ausgeprägtes Exemplar dieser Kategorie. Malus wartete gar nicht erst ab, bis es für ihn brenzlig wurde, sondern verhinderte alles, was ihm schon seiner Vermutung nach zum Nachteil gereichen konnte. Den aus Angst geborenen, vorauseilenden Gehorsam gegenüber seinen Vorgesetzten begann er im Lauf der Zeit für seinen eigenen, freien Willen zu halten. Mit den Jahren verfestigte sich diese Vorstellung in ihm, bis sie zu seiner eigenen Meinung wurde. Damit blieben ihm Gewissenskonflikte erspart, egal welche Art von Schweinerei er auch immer unterstützen mochte.

Aber weder Fromentin noch Malus wussten, was Leo und Sandrine planten. Sandrine konnte ihre Proben am LEAG weiter untersuchen, und gemeinsam würden sie etwas über das krebserzeugende Potential von Patulin herausbekommen. Danach würde man sehen, was die Ergebnisse hergaben und was man damit weiter anfangen konnte.

Leo hatte für Sandrine eine kleine Wohnung in einem Block von zweistöckigen Reihenhäusern reserviert, die in der Nähe des Instituts in einer begrünten Anlage standen. Die Wohnanlage gehörte zum LEAG und war mit Dienstwohnungen für Angestellte und mit Gästeappartements ausgestattet. Im Vergleich zum freien Wohnungsmarkt waren diese Unterkünfte billig. Dazu noch voll möbliert und mit dem Nötigsten ausgestattet, so dass Sandrine mit ihren beiden Koffern nur einzuziehen brauchte.

Nachdem sie ihr Gepäck dort abgestellt hatten, fuhr Leo mit ihr durch die Nachbarschaft. Er zeigte ihr die Einkaufsmöglichkeiten und Verkehrsverbindungen in der unmittelbaren Umgebung. Sandrine war von den luxuriösen Villen in unmittelbarer Nähe des LEAG beeindruckt.

Leo erklärte ihr, wie es dazu gekommen war. „Nach der Teilung in Ost- und Westberlin entstanden faktisch zwei Städte. Daher mussten in den Westsektoren manche Einrichtungen neu gegründet werden. Unter anderem auch die Freie Universität, und eine Reihe anderer Institute, wie das LEAG. Aus Platzmangel hat man sich dafür die nur lose bebaute Dahlemer Villengegend ausgesucht. In vielen dieser Villen befinden sich immer noch Institute der FU.“

Schließlich standen sie wieder vor dem Reihenhaus, indem sich Sandrines Apartment befand. Leo schloss gerade die Tür auf, als Sandrine ihn nach Christine fragte. Er hielt einen Moment inne, den Schlüssel noch in der Hand. „Ja, das ist schon eine verrückte Geschichte. Du bist gerade aus Paris nach Berlin gekommen und Christine ist gerade von Berlin nach Paris umgezogen!“

„Für länger?“, fragte Sandrine, als sie die Treppe in den ersten Stock hochgingen.

Aus seinem Gesicht konnte Sandrine ablesen, wie sehr ihn die Trennung von Christine belastete. Es war mehr, als nur ein berufsbedingter Ortswechsel, der keinen Einfluss auf die Beziehung zwischen den beiden hatte.

Leo zuckte mit den Achseln: „Christine hat von ihrem Sender eine Stelle in Paris angeboten bekommen. Für sie ist das ein Karrieresprung und sie wird es als Journalistin noch weit bringen. Wenn du den Kulturteil von AFT magst, hast du sicher den einen oder anderen Beitrag von ihr schon gehört.“

Aber Sandrine kannte den Sender nicht und schien sich auch nicht so sehr dafür zu interessieren. Leo schloss die Wohnungstür auf und begann, ihr alles Notwendige in der Wohnung zu zeigen und zu erklären. Sandrine merkte ihm an, dass er nicht weiter über Christine reden mochte.

Am Abend des 15. April, als Christine mit der Neuigkeit zu ihm in die Rönnestraße gekommen war, hatten sie stundenlang miteinander geredet. Beiden war klar, dass sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen durfte, wenn sie als Journalistin weiter Erfolg haben wollte. Leo fiel auch nichts ein, womit er sie überzeugen konnte, einfach alles beim Alten zu lassen. Es rächte sich jetzt, dass sie vermieden hatten, über ihre Gemeinsamkeiten und das Fundament ihrer Liebe zu sprechen.

Je länger sie miteinander diskutierten, desto mehr schälte sich heraus, dass ihre Beziehung brüchig geworden war und den Wechsel nach Paris nicht unbeschadet überstehen würde. Zwar sprach keiner von beiden das Wort Trennung aus, aber die Zukunft ihrer Liebesbeziehung war auch ohne dieses Wort besiegelt.

„Meine Wohnung in Friedenau gebe ich auf. Vom Sender bekomme ich Freiflüge nach Berlin, so dass ich bestimmt öfter hier bei dir bin, als dir lieb ist“, hatte Christine halb scherzhaft gesagt.

Leo hatte nur genickt und sich ein gequältes Lächeln abgerungen. Er wollte optimistisch erscheinen, ihr den Abschied nicht schwerer machen, obwohl ihm gar nicht danach zumute war.

„Wir werden uns weiter regelmäßig sehen. Wer weiß, wenn du mich dann in Paris besuchst, gefällt es dir vielleicht so sehr, dass du Lust hast, deine nächste Arbeit dort an einem Institut weiterzuführen?“

Leo nickte wieder zu ihren Worten, aber sein Gesichtsausdruck blieb verkrampft. Er fand kein passendes Wort für das, was gerade geschah und es wurde im Verlauf des Abends immer schlimmer. Die unsichtbare Barriere zwischen ihnen war geblieben und war spürbar wie nie zuvor.

Christine hatte an diesem Abend auch nicht bei ihm übernachtet, sondern war kurz vor Mitternacht nach Hause gegangen. Sie sagte, sie müsste für den morgigen Tag noch Unterlagen aus ihrer Wohnung zur Arbeit mitnehmen. Aber in Wirklichkeit war ihnen beiden bewusst, dass sie diese Nacht nicht gemeinsam verbringen konnten, ohne neue Wunden aufzureißen, die alles nur schlimmer und komplizierter machen würden.

Christines Loslösung von Leo hatte bereits begonnen, bevor sie aus Berlin abgereist war. Seitdem waren zehn Tage vergangen. Nach ihrer Abreise hatten sie zweimal miteinander telefoniert und Christine hatte ihm eine Postkarte von ihrem neuen Wohnort in Issy-les-Moulineaux geschickt. Ihre Nachrichten beschränkten sich auf ihre neue Stelle und das Leben in Frankreich. Für Leo war das ein Zeichen, dass Christine ihre gemeinsame Beziehung und die Vergangenheit in Berlin abgestreift hatte, wie ein altes Kleid. Sie würde in Frankreich bleiben, solange, wie ihr Radiosender das für richtig hielt, und nicht seinetwegen wieder zurückkehren.

Sandrine stand im Flur ihrer frischbezogenen Wohnung und betrachtete Leo aus den Augenwinkeln. Sie sah ihm an, welche Gedanken ihn bewegten und interpretierte sein Schweigen als Ausdruck von Kummer.

Sie dachte daran, was ihr selbst widerfahren war. Eine Trennung, so wie Leo sie gerade durchgemacht hatte, war dagegen nicht viel. Aber alles war relativ.

Sie hütete sich, über die seelischen Wunden zu reden, die ihr durch die Vergewaltigung zugefügt worden waren. Bis heute hatte sie sich davon nicht erholt und die Nähe von Männern konnte sie seitdem schwer ertragen. Sie machte sich Sorgen, dass Leo möglicherweise von ihrer Situation profitieren wollte, weil sie hier eine Fremde, allein und in gewissem Maße von ihm abhängig war. Die Vorstellung, dass er und Christine getrennt waren, gefiel ihr daher überhaupt nicht.

Seine plötzliche Bemerkung riss Sandrine aus ihren grüblerischen Gedanken. „Weißt du eigentlich, dass wir Patulin bereits auf seine mutationsauslösende Wirkung getestet haben?“

Sie blickte hoch und sah in sein schelmisches Grinsen. Seine trüben Gedanken an Christine schienen ebenso schnell verschwunden zu sein, wie sie gekommen waren.

Bevor sie noch etwas sagen konnte, fuhr Leo fort: „Wir haben uns das Patulin als reine Substanz besorgt. Man bekommt es im Chemikalienhandel und wir haben damit die Mutationstests gemacht.“

Er amüsierte sich darüber, wie Sandrine ihn mit offenem Mund anstarrte.

„Und nun die Preisfrage: Verursacht Patulin Erbgutschäden oder nicht?“

Alors? Dis-le!“ Sandrine war so aufgeregt, dass sie Französisch sprach, ohne dass es ihr bewusst war.

Leo schien ihre Aufforderung verstanden zu haben. „Also, das Zeug ist mutagen, es verursacht Chromosomenbrüche und du weißt, was das bedeutet. Das heißt …“

„Ich brauche nur noch meine Proben zu testen und dann wissen wir endgültig Bescheid!“, beendete Sandrine seinen Satz.

Leo nickte. „Schon richtig, aber so einfach ist es nicht. Die mutagene und damit auch krebserzeugende Wirkung von Patulin ist abhängig von der Menge. Du musst herausbekommen, ob überhaupt genug von dem Zeug in deinen Proben ist, um eine schädliche Wirkung zu erzeugen, sonst …“

„Sonst sagen sie: „Was wollt ihr denn, es ist doch alles im grünen Bereich. Die Grenzwerte sind nicht überschritten. Ich kenn die Musik!“ Sandrines Stimme schien zu kippen.

„So etwas in der Art hat dir wohl schon dein Dekan erzählt, oder?“

„Zu Anfang nicht, aber später schon, als er mich davon überzeugen wollte, die Studie abzubrechen! Fromentin ist Wachs in den Händen der Leute, die für diese Schweinereien verantwortlich sind. Er hat Angst vor denen und macht daher, was sie wollen!“, rief Sandrine erbittert.

„Nun müssen nur noch deine Proben bei uns eintreffen. Das mit dem LC-MS/M Gerät habe ich auch schon geklärt. Wir können die Proben in der Abteilung für Mykotoxine messen. Das Gute ist, dass die sich sowieso mit Pilzgiften auskennen.“

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