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9. Berlin-Dahlem, 8. Oktober 1990

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Leo Schneider traf auf seinen Vorgesetzten Bernhard Malus, als er gerade den Parkplatz vor dem Haus 23 überquerte. Malus entstieg einem silberfarbenen Mercedes Coupé mit dem Kennzeichen PM-BM 1. Leo konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Bernhard Malus, die amtlich bestätigte Nummer Eins im Landkreis Potsdam-Mittelmark. Zumindest was sein Auto betraf. Malus hatte kurz nach der Wende ein Haus in Kleinmachnow, dicht hinter der Berliner Stadtgrenze, für einen Schnäppchenpreis erworben. Darüber hatte Anke Barkowski schon einige Bemerkungen fallenlassen. Dass Malus‘ Egomanie sich aber bis zu seinem Autokennzeichen erstreckte, hätte Leo eigentlich nicht weiter überraschen sollen.

Malus sah wohl Leos Blick auf sein Statussymbol und deutete ihn als eine Mischung aus Neid und Bewunderung. Das erfüllte ihn mit einer gewissen Zufriedenheit, denn von dem, was er sein Eigen nannte, konnte ein Leo Schneider nur träumen. Das durch Beziehungen zur örtlichen Kreisverwaltung preisgünstig nach der Wende erworbene Haus am Stadtrand! Sein neuwertiger Mercedes 280 Coupé! Dafür müsste sich einer wie Schneider schon strecken, wenn er überhaupt je an so etwas herankam.

Es war Malus‘ momentaner Hochstimmung geschuldet, dass Leo in diesem Moment keine großen Schwierigkeiten hatte, ihn zu überzeugen, Sandrine Martin zu einem Vortrag ans LEAG einzuladen. Seine gute Laune resultierte, wie Malus gleich von sich gab, aus einem Schreiben aus dem Ministerium. Darin hatte man sich über sein Gutachten zu Lindan außerordentlich zufrieden gezeigt. Man würde es als Diskussionsbasis für die kommenden Verhandlungen auf EU-Ebene einbringen, hieß es in dem Schreiben.

„Es gibt da ein Formular für Reisekostenerstattung, Herr Schneider.“

Malus beschleunigte noch seine Schritte, während er redete und Leo musste ihm notgedrungen folgen, wenn er das Gespräch fortsetzen wollte.

„Das Formular besorgen Sie sich, füllen es soweit aus und schicken es mir auf dem Dienstweg. Ich denke, für die Dame werden nur die Reisekosten übernommen. Übernachtungskosten gibt es nur für Wissenschaftler, die promoviert sind. Aber Sie kennen sich doch in Berlin gut aus, Herr Schneider. Sie finden sicher eine private Unterbringungsmöglichkeit.“

Malus war bereits an der Tür.

Leo überlegte, wie er das bewerkstelligen sollte. Er wollte gerade zurück in sein Labor gehen, da entfuhr Malus eine Bemerkung, die sein aufkeimendes Misstrauen ausdrückte: „Sie glauben wirklich, dass diese Geschichte mit den Pilzgiften für uns wichtig ist? Denken Sie immer daran, wir müssen darauf achten, den Ausgleich zwischen den Interessengruppen zu wahren und dürfen auch die Interessen der Lebensmittelhersteller nicht unberücksichtigt lassen. Aber soweit, so gut. Einen Vortrag kann man in jedem Fall in Kauf nehmen, ohne sich damit allzu weit aus dem Fenster zu lehnen.“

Da waren sie wieder, die vorauseilenden Bedenken des angeblich unabhängigen Beamten wegen der möglichen Verletzung von Industrieinteressen. Wieder ging es Malus nicht um die Sache, sondern nur um seine Person. Ein Beamter im gehobenen Dienst, der nur seine Laufbahn im Kopf und denselben immer schön aus der Schlinge halten wollte, wenn es um Verantwortung ging. So eine Einstellung konnte nicht allein auf dem Mist von Malus gewachsen sein. Es schien, als sei diese Denkweise in bestimmten Kreisen des LEAG zur Doktrin erhoben worden.

Sandrine Martin traf am Morgen des 5. November mit der Frühmaschine in Berlin-Schönefeld ein. Malus hatte wegen der Reisekosten auf dem billigsten Flug bestanden. Blass sah sie aus, als Leo sie um kurz vor acht Uhr am Flughafen Berlin-Schönefeld aus der Abfertigung kommen sah. Er erkannte seine französische Kollegin nach Christines Beschreibung gut. Allerdings hatte sie sich inzwischen ihre Haare blau gefärbt. Leo stellte sich vor, wie sie sich in der Fachgruppe beim nächsten Frühstück über Sandrine Martins Frisur die Mäuler zerreißen würden.

Als Leo Sandrine Martin ansprach, wich sie ihm aus. Sie lief weiter und Leo musste sich ihr in den Weg stellen, worauf sie vor Schreck zusammenzuckte. Er nannte ihr seinen Namen und Sandrine Martin verstand, dass es ihr Gastgeber war, der sie angesprochen hatte.

„Entschuldigen Sie, ich hatte nicht erwartet, dass Sie mich abholen kommen.“

Ihr Englisch war gut. Viele Franzosen stünden mit dieser Sprache auf Kriegsfuß, hatte Christine ihm erzählt und dass er an mögliche Deutschkenntnisse erst gar nicht denken sollte.

Sie verließen den Flughafen und Sandrine fragte, ob Leo sie zuerst in ihr Hotel bringen würde. Als Leo erwiderte, sie könnte für die Zeit ihres Aufenthaltes in Berlin bei ihm wohnen, stoppte sie ihre Schritte und sah ihn ungläubig an. Mit einer fast panischen Geste griff sie in ihre Tasche, als wollte sie sich davon überzeugen, ob sie genug Geld für ein Hotel dabei hätte.

Leo hatte das bemerkt und es war ihm peinlich. „Das Institut übernimmt leider nur die Reisekosten, zahlt aber nicht für die Übernachtungen.“

Ihr Blick sprach Bände. Er sah ihr an, dass sie am liebsten gleich die nächste Maschine zurück nach Paris bestiegen hätte.

„Meine Wohnung ist groß, drei Zimmer, eine Küche und zwei Bäder. Sie haben ein eigenes Zimmer, das Sie abschließen können.“

Sie schien Zeit zu brauchen, um sich mit der unerwarteten Situation zurechtfinden zu können. „Nach Ihrem Brief war ich davon ausgegangen, dass Ihr Institut alle Reisekosten übernimmt!“

„Wenn man so will, ist das ja auch der Fall, die Übernachtung kostet Sie ja nichts!“, sagte Leo, um die Spannung zwischen ihnen abzumildern.

Ihr gefiel das nicht, aber zumindest schien sie nicht mehr vorzuhaben, sofort wieder umzukehren.

„Ich hoffe, Sie haben etwas Zeit mitgebracht. Wann geht denn Ihr Rückflug nach Paris?“

„Am Mittwoch. Dann können wir morgen noch über meine Arbeit reden.“ Sie blieb kurz angebunden, um nicht so etwas wie Nähe aufkommen zu lassen. Die Vorstellung in der Privatwohnung eines Mannes, den sie überhaupt nicht kannte, zu übernachten, gefiel ihr überhaupt nicht. Aber dann erinnerte sie sich an ihre Absicht, Leo Schneider dafür zu gewinnen, ihr eine Stelle am LEAG zu vermitteln.

Schneider schien zufrieden zu sein, dass sie sich auf seinen Vorschlag eingelassen hatte. „Ja, das ist doch prima, Sandrine. Ihr Vortrag ist heute Nachmittag und so haben wir morgen noch den ganzen Tag dafür Zeit.“

Nach einer dreiviertel Stunde Fahrt durch die südlichen Vororte Berlins erreichten sie das LEAG. Sandrine Martin hatte während der Fahrt kaum ihren Mund aufgemacht, nur gefragt, ob sie im Auto eine Zigarette rauchen konnte. Bis auf die Bemerkung, man würde gar nicht merken, dass man in einer Großstadt sei, war sie stumm geblieben. Nachdem sie im Institut angekommen waren, führte Leo sie durch sein Labor, dessen Inventar sie abschätzig musterte.

Ihm war das nicht entgangen: „Sie haben bestimmt jede Menge moderne Geräte an der Universität, nicht wahr, Sandrine?“

Bernadette lief neben ihnen her und spitzte die Ohren. Ihr Labor am LEAG war immer noch bescheiden ausgerüstet. Von den versprochenen Geräten, die Malus angekündigt hatte, war bisher wenig eingetroffen. Viele Versuche konnten sie nur mit Hilfe aus anderen Arbeitsgruppen am LEAG durchführen.

Auf Leos Frage hin verzog Sandrine ihren herzförmigen Mund zu einem ironischen Lächeln.

„Haben wir, aber nicht jeder bekommt Zugang zu diesen Geräten.“

Leo verstand nicht, worauf sie anspielte. Sandrine erklärte, es wäre Geräte, die sie zur Untersuchung ihrer Proben auf Patulin dringend gebraucht hätte.

„Das ist nur einer der Gründe, warum ich meine Studien über Patulin an der Universität nicht weiter fortführen konnte.“

„Das LEAG ist recht groß. Geräte, die wir bei uns im Labor nicht haben, sind meistens an anderer Stelle im Institut vorhanden und man kann diese nach Absprache auch mitbenutzen. Wir machen das auch. Sie sehen ja, dass wir selbst auch nicht besonders gut ausgestattet sind.“

„Ach so? Dann haben Sie am LEAG bestimmt auch ein Massenspektrometer. Kennen Sie sich damit aus?“ Sie sah ihn neugierig an.

Leo machte eine Geste, die alles und nichts bedeuten konnte. „Auskennen wäre übertrieben. Ich kenne nur das Prinzip, wie diese Geräte funktionieren. Wir machen hier Tests an Zellkulturen und an Bakterien, um mutagene Substanzen zu identifizieren!“

„Aber das trifft sich doch ausgezeichnet. Die Massenspektrometrie und die biologischen Tests ergänzen sich doch ganz wunderbar.“

Ihr spröder Eispanzer begann zu bröckeln. In ihren blauen Augen lag ein kleiner Funke der Begeisterung. Sie schien beinahe zu lächeln.

„Solche biologischen Tests haben wir an unserem Institut in Paris nicht aufgebaut. Und ein Massenspektrometer, genauer gesagt ein LC-MS/MS ist das, was ich für die Untersuchung meiner Proben auf Patulin dringend benötigt hätte.“

Leo war neugierig geworden. „Was hätten Sie damit gewonnen?“

„Die LC-MS/MS Technik eignet sich dazu, auch geringste Spuren von wasserlöslichen Substanzen wie Patulin in Proben nachzuweisen. Die LC-MS/MS wird für die Bestimmung von Pilzgiften, Arzneimitteln und anderen Stoffen in Lebensmitteln eingesetzt.“

Es klang, als hielte sie einen Vortrag vor Studenten.

„Und so ein Gerät haben Sie an Ihrer Uni in Paris also nicht?“

„Doch, das haben wir. Das steht sogar bei uns im Institut.“

„Aber warum? …“

Sie schüttelte ihren Kopf. „Warten Sie doch lieber mit Ihrer Frage, bis ich meinen Vortrag gehalten habe, einverstanden?“

„Okay. Aber Sie machen mich wirklich neugierig.“

Inzwischen war es Mittag und sie gingen zusammen mit Bernadette in die Kantine des LEAG. Es war Sandrine anzumerken, dass sie mit dem Essensangebot nicht sehr glücklich war. Schließlich begann sie, sich etwas von der Salatbar zusammenzustellen.

Dass bei Franzosen die deutschen Kantinenschlager wie Wurstgulasch, Germknödel und Erbseneintopf nicht viel Begeisterung auslösen würden, hätte Christine Leo vorher sagen können. Aber Christine war für zwei Wochen für eine Reportage im französischsprachigen Teil Belgiens unterwegs. Daher konnte Leo ihr nur am Telefon erzählen, welchen Eindruck er von Sandrine Martin gewonnen hatte.

„Sie übernachtet bei dir?“

Aus Christines Stimme sprach eine Mischung aus Erstaunen und Ironie.

„Muss ich da etwas befürchten?“

Leo lachte. „Im Gegenteil. Ich müsste eher etwas befürchten, wenn sie den leisesten Eindruck hätte, als wollte ich etwas von ihr.“

„Würdest du denn gerne etwas von ihr wollen?“

„Wie kommst du denn jetzt auf so was? Sie scheint kompliziert zu sein und trägt eine Menge Sachen mit sich herum, glaube ich.“

„Das glaube ich auch. Als ich sie damals in Paris in der Uni aufgesucht habe, gab sie mir den Eindruck, als stünde vor mir ein gehetztes Wild. Vielleicht erzählt sie dir ja mehr davon, was ihr damals zugestoßen ist. So ein Veilchen am Auge kommt ja nicht von ungefähr.“

„Und wie läuft‘s bei dir?“

„Ich bin gerade in Huy, einem putzigen kleinen Ort nicht weit von Liège, Lüttich auf Deutsch. Von meinem Hotel aus sehe ich auf ein Atomkraftwerk mit riesigen Kühltürmen. Nicht einmal zwei Kilometer entfernt, direkt an der Maas gelegen. Das Ding überragt alles andere hier in der Gegend. Und weißt du, was das Schärfste ist?“

„Nein, sag es mir!“

„Du wirst staunen. Die Leute hier betrachten es als eine Sehenswürdigkeit. Es gibt Ansichtskarten davon, die im Zeitungsladen verkauft werden. Du hast die Wahl zwischen einer Tag- oder einer Nachtaufnahme. Welche soll ich dir schicken?“

„Die Nachtaufnahme! Die ist sicherlich noch gruseliger.“

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